Villa

Jun 16, 2013 17:09

Titel: Villa
Prompt 31: Skalp

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Nun war Bianca erwachsen. Eigentlich sollte das genug sein, um in der Welt zurechtzukommen. Selbst wenn es um ungewohnte Pflichten ging, um Besuche, die sie einerseits fürchtete, doch die andererseits ihre Faszination nie verloren hatten. Auch wenn es über 14 Jahre her war, dass sie ihren Großeltern begegnet war, und sie die vorigen Besuche an einer Hand abzählen konnte, fieberte wenigstens ein Teil von ihr der Begegnung entgegen.
Nahm sie die Fakten zusammen war fraglich, warum sie sich auch nur ein wenig mehr als eine gute Geschichte erwartete, die sie im Nachhinein unter Kollegen und Freunden zum Besten geben konnte. Ihre Großeltern waren nie da gewesen, nie mehr als eine Adresse, an die es Dankesbriefe zu schreiben galt, wenn ein weihnachtlicher Geldschein und manchmal auch einer zum Geburtstag eintraf.
Dass die sich nicht von der Stelle bewegten, galt als gegeben. Immerhin wohnten, lebten sie gut, sehr gut. Warum auch sollten sie sich den Mühen einer Reise unterziehen, die dann doch nur in ein mittelprächtiges Reihenhaus führte, umgeben von anderen Familien des Mittelstandes, die mit ähnlichen Verhaltensweisen und Gewohnheiten aufwarteten wie die Eltern sie gewohnt waren zu erdulden. Das Geschrei spielender Kinder, die gelegentlich zerberstende Fensterscheibe, um nur eine Folge des verbotenen und dennoch immer wieder durchgeführten Ballspieles zu nennen, mochte sich für ältere Ohren und Sinne als zu anstrengend erweisen. War man doch die Stille und Abgeschiedenheit in einer durchaus respektablen und mit gutem Gewissen als Villa zu bezeichnenden Wohngelegenheit gewohnt.
Als sie das letzte Mal dort gewesen war, hatte sie keinen Sinn für technische Spielereien wie Alarmanlagen oder andere Sicherheitsmaßnahmen gehabt. Nein, ihr Blick hatte sich auf das Gelände, auf die glasklaren, bis zum Boden reichenden Fensterscheiben und auf das überdachte Schwimmbad konzentriert. Ein eigenes Schwimmbad, das war für sie seit jeher der Inbegriff von Reichtum gewesen. Hatte sie weitaus mehr beeindruckt als die Sauna, die Orientteppiche oder die Ölgemälde an den Wänden. Darin schwimmen gehen zu dürfen, zu jeder Tages- oder Nachtzeit, das wog sogar das Unbehagen auf, in welches der regelmäßige Besuch einer Reinigungskraft, die stets perfekt wirkende Umgebung passt auf. Genau in diese Umgebung gehörten sie beide, die bis zur Künstlichkeit hochgestylte Großmutter und der ehemalige Fabrikdirektor mit den buschigen Augenbrauen und dem prüfenden Blick. Sie passten hinein, im Gegensatz zu ihr.
Dass sie keine oder wenigstens wenig Manieren besaß, war ihr nie so bewusst, wie zu den Gelegenheiten, an denen man sich bei Tisch traf. Zu denen sie ausgehorcht wurde, mit Ratschlägen versehen und dem urteilenden Stempel abgeheftet, den sie als sei er sichtbar, stets auf sich fühlte.
Ein Problem, ein wirkliches Problem gab es nie. Blieben ihre spärlichen Aufenthalte doch durchaus zeitlich begrenzt, fanden über kurz oder lang ein Ende, das mit Erleichterung verbunden war, trotz der Vorzüge, die sich boten. Oder die sich zu bieten schienen.
Letztendlich blieb es eine andere Welt, in die einzutauchen eher schmerzhaft war und die weit entfernt von jeder Art Familiengefühl in ihrer Erinnerung einen einsamen Platz innehielt.
Bis auf die Briefe blieb das bestehen. Änderte sich auch nicht, als sie schwanger wurde und einen Urenkel warf. Sicher, es war wohl nicht das Enkelkind, das die vornehmen Großeltern sich gewünscht hätten. So wie sie als alleinerziehende nicht die Enkelin war, mit der diese hausieren gingen. Und doch hätte sie erwartet, dass sie ein gewisses Interesse bekundeten. Gleichzeitig überwog die Erleichterung, den Fragen, der Verstellung, dem gezwungenen Lächeln und dem nie ausreichenden Bemühen sich korrekt zu verhalten, entgehen zu dürfen.
Reiche Großeltern mochten sich manche Menschen wünschen. Und doch - sie wusste es besser.
Als Erwachsene, als Mutter erkannte sie auch die Sparsamkeit, die mit den großelterlichen Zuwendungen einher gingen. Sie wog die Diskrepanz zwischen dem Anwesen, Schwimmbad, Sauna, mehreren Autos, mit den zweistelligen Beträgen ab, die sie gelegentlich erhielt.
Aber nun ging es nicht um sie. Immerhin gab es einen Urenkel und wenn eine, auch noch so geringe, Chance bestand, dass der eines Tages aus ihrem Vermögen einen Vorteil ziehen konnte, dann wollte sie wenigstens ihr Möglichstes versuchen.
Die Einladung zu einem der seltenen Familientreffen nahm sie somit an, erduldete die Blicke, die Bemerkungen und die Verwandtschaft, von der sie nie zuvor gehört hatte. Die den Großeltern näher standen als Kind und Enkel, auch wenn sie sich um Ecken voneinander schieden.
Auch in der Großfamilie gab es Kinder und Kindeskinder, Cousins, Onkel, Tanten, die sich in das Leben der Großeltern einfügten. Wieder spürte sie den Abstand, spürte das Urteil, das mit dem Blick der Großmutter, dem leicht verzogenen Mund des Großvaters einherging. Wenige, höfliche Worte, die nicht einmal annähernd an das Wunder heranreichten, das sie in ihrem Sohn fühlte, reichten aus, um froh zu sein, sich zurückziehen zu dürfen. Und letztendlich zu verschwinden. Und das für letzten, die vergangenen vierzehn Jahre.
Doch nach diesen erreichte sie eine neue Einladung, und sie war gleichermaßen erstaunt wie der Ausreden müde. Konnte nicht ablehnen, da die nicht von den Großeltern selbst, sondern von einer Jugendfreundin ausgesprochen worden war, die ihr stets die Stange gehalten hatte. Junggeblieben war die, immer noch verspielt. Immer noch weit entfernt von der Ernsthaftigkeit, die Bianca bereits in ihrer Kindheit ausgezeichnet hatte.
„Du hast ihn nicht mitgebracht?“, fragte sie und streckte den Hals, als könnte sie Biancas Sohn hinter deren Rücken erkennen.
„Ist wohl auch besser so“, fügte sie verschwörerisch hinzu, sah sich um und lachte. „Ich hab den Weg in die Villa gefunden“, führte sie aus. Seitdem sie die Hunde nicht mehr halten können, und selbst zu tattrig sind, um sich eine Nummer zu merken, einen Schlüssel zu behalten oder das Telefon zu finden, ist es ein Kinderspiel.“ Sie nickte überzeugt. „Es hilft auch, dass sie beide nichts mehr hören. Wir könnten in Champagner baden und eine Band engagieren, die würden nichts merken.“
Bianca blinzelte unsicher. „Einbrechen? Sie sprachen von der Pension an der Ecke.“
„Mumpitz“, erklärte die Freundin. „Das Geld behältst du, fügst dein Geschenk dem Berg des Wahnsinns hinzu, und dann amüsieren wir uns.“
Auch wenn sie nicht in Champagner badeten, fühlte es sich göttlich an, inmitten der Nacht barfuß über die sorgfältig von Gärtnern gepflegte Wiese zu laufen, und nur kurze Zeit später in das lauwarme Wasser des Schwimmbades einzutauchen. Außerhalb der Glasscheiben blieb es dunkel, nur das bläuliche Licht im Inneren des Beckens spendete Licht. Bianca lachte und war glücklich, glaubte zum ersten Mal, ein Gefühl wie Glück mit ihren Großeltern in Verbindung bringen zu können.
Bis sich die Tür öffnete, eine gebeugte Gestalt im Bademantel mit zitternden Händen die Brille zurechtrückte. „Ist das der Dank?“, schnarrte der Großvater unter buschigen Augenbrauen. „Dafür dass wir dich akzeptieren? Dich und deinen Bastard. Verleugnen sollten wir dich, alle haben es uns geraten.“
Biancas Hände flogen zur Brust. Sie umarmte sich in dem Versuch, Schutz zu suchen, beobachtete die Freundin, die aus dem Wasser stieg, auf den Großvater zu tänzelte. „Sie erinnern sich nicht mehr“, flötete sie und strich das nasse Haar zurück. „Vor so vielen Jahren, obwohl Bianca für mich eintrat, ließen Sie mich nicht auf Ihr Grundstück. Neureiche, Schmarotzer nannten sie uns, jagten ihre Hunde auf mich und meinen Bruder. Dunkle, große, wild kläffende Biester. Der Biss entzündete sich. Mein Bruder war nie robust.“
„Ich verstehe nicht“, murmelte der Großvater. „Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei.“
Die Freundin lachte. „Versuchen Sie es.“
Und als sie den Großvater umarmte und mit ihm ins Wasser stürzte, seinen Kopf so lange unter die Oberfläche drückte, bis der sich nicht mehr regte, sah Bianca zu. Und neben dem Schrecken, neben dem Grauen, das sie fühlte, existierte noch die fragwürdige und doch unzweifelhafte Genugtuung, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte. Auch als sie über die kostbaren Teppiche liefen und die Großmutter mit ihrem Seidenkissen erstickten, fand Bianca keine Reue in sich. Warum auch? Was war ein schmerzhafter Augenblick mehr als eine Erlösung. Auch für Bianca eine Erlösung im Angesicht eines Lebens, das sie als fehlerhaft, als minderwertig, als Enttäuschung betrachtete.
Sie hielt die Perücke der Großmutter hoch wie einen erbeuteten Skalp, als man sie festnahm.
„Die Zeit der Zweifel und der Reue sind vorüber“, schrie sie vor Gericht und zeigte auf ihren Sohn. „Dein Erbe“, rief sie in das blasse Gesicht. „Dein Recht. Merke Dir das, bedenke, was Dir zusteht. Wofür ich mein Leben lang bezahlt habe.“
Doch der Junge betrat die Villa erst lange Jahre später, als sich niemand mehr seiner Existenz entsann. Das sollte sich ändern, als er die Waffe zog.
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