Team: Aschenputtel
Prompt: Jemanden Tragen/Stützen (HC-Tabelle, für mich)
Wörter: 1.005
Original: Uhrwerkträume
Charaktere: Emmit Unruh, Willem Unruh, Loisa Ennart, Luzie Feder
Zeit/Ort: Blenstett, 1889
Plot: Ein kleiner Einblick in die Beziehung zwischen oben genannten Charakteren. Außerdem, der erste dokumentierter Fall chronotroper Schädigung
Kommentar: Ennarts Eltern waren viel mehr Rock'n'Roll als er. Außerdem: Mehr hurt als comfort.
In der Nacht vom fünfzehnten auf den sechzehnten Februar wird Emmit Unruh von einem lauten Gepolter auf der Straße geweckt. Sie widersteht dem Drang, aufzustehen und aus dem Fenster zu blicken, vergräbt den Kopf unter ihrem Kissen und versucht sich mit den Gedanken an die morgen früh bevorstehende Vorlesung zum erneuten einschlafen zu zwingen. Da hört sie in dem Gepolter ihren Namen und ja, bei genauerem hinhören, klingt die Stimme, die da ruft, ganz nach der ihres Bruders.
Mit einem Seufzen schält Emmit sich aus ihren Decken, zieht eine Strickjacke über das Nachthemd, die Pantoffeln an die Füße und macht sich, mit einer Lampe in der Hand, auf den Weg das Haustor aufzusperren.
„Was ist es dies-“, sie hält inne.
Willem Unruh steht da, ohne Hut und ohne Jacke, das Hemd ist eines der mehrfach mit Ölfarbe beschmierten. Sein Gesicht ist rot und verquollen, seine Augen weit aufgerissen. Kaum hat Emmit die Tür geöffnet fällt er ihr um den Hals. Er stammelt, sie müsse ihm helfen, sie müsse etwas tun. Emmit fasst ihn bei den Schultern.
„Bist du betrunken?“, fragt sie, aber sie kann keinen Alkohol riechen.
Willem macht einen Schritt zurück, wischt sich durchs Gesicht. Nein, ihm ginge es gut, beteuert er. Ihm ginge es gut.
Seine Hände zittern.
„Es ist wegen - es ist Loisa - sie“, er stockt. Sein Gesicht verzieht sich zu einer fürchterlichen Grimasse, die alsbald hinter seinen farbbeklecksten Händen verschwindet.
Emmit tritt einen Schritt zurück. Sie atmen einmal tief ein und wieder aus. Dann fasst sie ihren Bruder an der Schulter. Er solle mit hoch kommen, in die Wohnung. Hier unten würden sie sich noch beide eine Lungenentzündung holen. (Dass sie außerdem die Nachbarn stören könnten erwähnt sie nicht, auch wenn ihr der Gedanke schon beim hinabsteigen der Treppen gekommen war.)
Willem murmelt etwas unverständliches. Er windet sich aus Emmits Griff. Er gestikuliert zur Straße.
Emmit folgt seinen Gesten mit ihrem Blick und mit ihrer Lampe.
Sie erstarrt.
Draußen, auf der Treppe, vor dem geschlossenen Türflügel, sitzt Loisa, Willems Geliebte. Wobei sitzen eine sehr großzügige Beschreibung ist, genau genommen lehnt sie, hängt zwischen Türbogen und Holz. Ihr Gesicht ist bar jeden Ausdrucks, ihre Augen starren offen geradeaus.
Emmit geht vor ihr in die Knie. Sie fühlt Loisas Puls, der wohl vorhanden ist aber nicht mehr als das.
„Du musst ihr helfen“, fleht Willem.
Emmit fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Sie steht auf und sieht ihren Bruder an.
„Bring sie hoch in die Wohnung“, weist sie ihn an.
Schon im Treppenhaus kommt ihnen Luzie Feder, Emmits Wohngenossin und Freundin, entgegen. Die Frage, was denn los sei, bleibt ihr im Hals stecken, als sie Loisas Körper und Willems Armen sieht.
Sie legen Loisa auf die Bank in der Stube, Luzie holt Kissen und Decken.
„Was habt ihr gemacht?“, fragt Emmit, aber sie bekommt keine Antwort. Nur ein durcheinander aus „so dumm“ und „meine Schuld“.
„Hast du sie den ganzen Weg hier her getragen?“, wird Willem von Luzie unterbrochen.
Er nickt. Er habe nicht gewusst was er sonst hätte tun sollen.
„Du hättest sie ins Krankenhaus bringen sollen“, erwidert seine Schwester trocken, doch Willem schüttelt vehement seinen Kopf. Unmöglich, beteuert er, das sei ganz und gar unmöglich. Und sicherlich auch nicht notwendig.
„Oder? Sie kommt doch schon wieder zu sich, meinst du nicht?“
Emmit öffnet den Mund, doch ein Blick in die verzweifelten Augen ihres Bruders, lässt sie schweigen.
„Wo ist Kasimir?“, fragt Luzie in die so entstandene Stille hinein.
Verwirrt wendet Willem sich ihr zu.
„Zu Hause in seinem Zimmer“, sagt er, als sei das das selbstverständlichste der Welt.
„Er schläft“, fügt er hinzu.
Mit zwei Schritten ist Luzie bei Willem.
„Du hast deinen drei Jahre alten Sohn alleine zu Hause gelassen, um deine ohnmächtige Geliebte einmal durch die halbe Stadt zu tragen? Und dann nicht mal in ein Krankenhaus oder zu einem Arzt sondern zu uns die Wohnung?“
Willem sagt kein Wort. Er sieht sich hilfesuchend nach seiner Schwester um, aber auch in deren Gesicht findet er weder Mitleid noch Verständnis.
Mit gesenktem Haupt gibt er Luzie seinen Wohnungsschlüssel und wartet, bis sie, die Tür hinter sich zuschlagend, davongestürmt ist. Kaum ist sie fort lässt er sich endlich auf den Klavierhocker fallen.
Er beobachtet Emmit, wie die sich über Loisas Körper beugt.
„Es würde ungemein helfen, wenn du mir sagen könntest, was ihre gemacht habt“, sagt sie nach einer Weile.
Willem wiegt seinen Kopf von einer auf die andere Seite. Er räuspert sich einige Male.
„Weißt du, wie Papa neulich erzählt hat, dass Pendels neue Uhrwerke Mäuse verwirren, wenn sie kaputt gehen?“
Mit bedrohlicher Langsamkeit wendet Emmit sich von Loisa ab und wieder ihrem Bruder zu.
„Ich hatte Lois davon erzählt“, gibt Willem zu.
„Wie es die Mäuse betrunken gemacht hat, wie sie getanzt haben… Sie wollte wissen, ob es…“, sein Kopf sinkt in seine Hände.
„Du hast eins von den kaputten Uhrwerken aus Papas Werkstatt geklaut?“
Ein Schluchzen ist die einzige Antwort die Emmit darauf erhält.
„Und, hast du auch? Ich meine, habt ihr zusammen…?“
Willem nickt. Er wisse auch nicht, warum es ihn nicht genau so betroffen habe.
„Je besser du die Zeit kennst, um so weniger kann sie dich aus der Ruhe bringen“, murmelt Emmit. Ein Satz, den ihr Vater, Uhrmachermeister Frederik Unruh, hin und wieder sagt. Dann streicht sie ihr Nachthemd glatt.
„Das Beste wird sein, wenn wir Papa holen“, sagt sie.
Willem windet sich auf dem Klavierhocker hin und her. Bloß nicht. Alles. Nur das nicht.
„Das hättest du dir früher überlegen sollen“, erwidert Emmit kühl.
„Papa hat Mäuse in seiner Werkstatt, die seit drei Wochen in diesem Zustand sind. Bislang ist keine von denen wieder aufgewacht. Wenn du ihm einmal zuhören würdest-“, sie hält inne, bevor ihre Stimme sich in der Aufregung verliert.
Drei mal holt sie tief Luft. Dann setzt sie sich neben ihren Bruder und legt einen Arm um seine Schultern.
Wenn es überhaupt jemanden gäbe, sagt sie, der Loisa jetzt helfen könne, dann sei das ihr Vater.
„Da steht, der Ärger, den du bekommst, in keinem Verhältnis.“