Team: Weiß (Titanic)
Fandom: Tumbling
Charaktere: Wataru, Yuuta
Wörter: ~1800
Prompt: AU: Callcenter
Timeline: Spielt vor der ersten Folge. Alternatives Universum.
Warnungen: Viel Gefluche von Wataru. Depressionen und Angst von Yuuta.
Anmerkung: Kohei Ogawa ist ein Gymnast für die Hanazono University, der ein paar sehr schöne Solo Auftritte abgeliefert hat. Daher habe ich mir den Namen geborgt, weil ich dachte, den kennt Yuuta bestimmt.
Brütend starrt Wataru auf das Telefon.
Wehe das klingelt jetzt.
Es ist sowieso alles Kashiwagis Schuld.
Der hat ihm das eingebrockt.
Der und sein traurigen Dackelaugen und sein „ich glaube an dich, Wataru“ und „du weiß das doch besser“. Ugh!
Er hat Null Bock hier zu sein, und das Ganze ist sowieso und von vorne herein eine dämliche Idee gewesen.
Sozialstunden.
HAH!
Ausbeute ist das. Nix anderes.
Dann sollen sie ihn doch lieber gleich in den Jugendknast stecken, wenn sie ihn los werden wollen.
Und nicht ans verdammte Sorgentelefon!
Telefonseelsorge.
Wie auch immer.
Und jetzt soll er drei Stunden hier sitzen und warten, ob jemand anruft.
Und dann so tun als ob er sich für die Probleme von irgendwelchen Vollpfosten interessiert.
Ist Kashiwagi nicht klar, dass er dafür der absolute Falsche ist?
Dieser Job besteht nur aus Dingen, die er hasst. Wie stundenlang still sitzen zu bleiben. Zuhören. Fucking empathisch sein.
Okay, Wataru kann empathisch sein, und zwar hardcore empathisch, wenn es darauf ankommt.
Aber halt bei seinen Freunden. Bei Nippori oder Ryousuke. Das ist leicht. Aber bei anderen ist es eben nicht leicht und die kann er sowieso alle nicht leiden.
Deswegen hat er ja auch das Fahrrad von diesem Arsch kaputt gemacht.
Ernsthaft.
Hätten sie ihm nicht einfach Bußgeld aufdrücken können und nicht verdammte Sozialstunden?
Er seufzt und fährt sich wütend durch die Haare.
Ein Teil von ihm, ein winzig kleiner, weiß, dass er Kashiwagi was schuldig ist dafür. Er hätte das Bußgeld nicht bezahlen können. Und seine Mama allein lassen und in den Jugendknast gehen… allein das Gesicht seiner Mama… darüber will er gar nicht nachdenken.
Das ist das Beste, was ging, das ist ihm schon klar.
Aber das heißt ja nicht, dass er Freude daran haben muss, hier zu sitzen.
Wehe, das klingelt jetzt.
Er angelt nach seinem Handy. Das hätte er eigentlich ausmachen sollen.
Aber man, wenn er hier so blöde rumsitzt, kann er auch genauso gut eine Runde zocken und…
Das Telefon klingelt.
Wataru ist so entsetzt darüber, dass er abrupt den Hörer abnimmt und „Was?“ ruft.
Es ist so lange still am anderen Ende der Leitung, dass er sein Handy doch wieder anmacht.
Eigentlich ist das das Beste was passieren kann, oder? Irgendjemand ruft an, sagt keinen Ton, aber blockiert ihm stundenlang die Leitung, so dass niemand anderes durchkommt.
Das wäre es doch.
Er hat nämlich wirklich Null Komma Null Bock auf die ganze…
„Hallo“, sagt eine leise Stimme.
Wataru erstarrt mitten in der Bewegung.
Aaaah! Ach, verdammter Mist.
„…jo?“, erwidert er automatisch.
Alles, was man ihm beigebracht hat in der Einführungsschulung über korrekte Begrüßung und die Aufklärung, Datenschutz, Schweigepflicht, etc. ist wie weggeblasen.
„Ich äh bin dran“, ergänzt er eilig. „Und höre zu.“
Muss ja.
„Ist da…? Bin ich richtig?“ fragt die Stimme erneut so leise, dass er kaum zu verstehen ist.
Er. Ein Junge.
Das ist vermutlich besser so, dass sein erster Anrufer kein Mädchen ist. Wataru kriegt doch keinen Ton raus bei Mädchen.
„Ich weiß ja nicht wen du anrufen wolltest, aber hier ist das Sorgentelefon und wir sind rund um die Uhr für dich da“, leiert er sofort runter. „Also ich nicht persönlich, aber irgendeiner von uns. Falls du jemand anderes erreichen wolltest, bist du allerdings falsch. Das musst du jetzt selbst wissen.“
Einen Augenblick lang ist es still am anderen Ende, als ob der Junge eben genau das nicht weiß. Vielleicht wollte er hier wirklich nicht anrufen, aber Wataru hat das starke Gefühl, dass er das doch wollte und nun hin und herschwankt einfach „Falsch verbunden“ und eine leise Entschuldigung zu murmeln und schnell wieder aufzulegen.
„Leg nicht auf“, sagt Wataru hastig in die Stille hinein.
„Wieso nicht?“
„Du bist mein erster Anrufer. Ich wills nicht gleich am Anfang verkacken, okay?“ Das ist die reine Wahrheit. Vielleicht wird er doch noch zum Müll wegschaufeln abkommandiert, wenn er gleich den ersten Anruf verpatzt. Oder in den Jugendknast. „Ich meine… du wolltest doch hier anrufen, oder?“
„Ja“, ist die zögernde Bestätigung.
„Okay. Cool. Damit sind wir schonmal einen Schritt weiter. Wir sind beide superfreiwillig hier.“
„Bist du auch ‘superfreiwillig‘ da?“ erkundigt sich die Stimme, mit einer dezenten, aber deutlichen Prise feiner Ironie.
„Hey! Das spielt überhaupt keine…!“ braust Wataru auf und bremst sich gleich wieder. Er sollte vielleicht nicht schon am ersten Tag damit drohen jemanden zu verprügeln. Außerdem klingt der Junge wie ein zartes Weichei. So allein von der leisen Stimme her. „Wir reden hier nicht über mich. Wir reden über dich. Und du hast immer noch nicht verraten wieso du überhaupt angerufen hast.“
„Ich wollte nur mit jemanden reden!“ platzt es dem Jungen raus.
„Über was?“
„Über… alles!“
„Auch über Tintenfisch?“
„Über…? Was? Nein, wieso sollte ich über Tintenfisch reden wollen?“
„Okay, damit haben wir es schonmal eingegrenzt“, sagt Wataru zufrieden. „Du willst nicht über Tintenfisch reden.“
„Ich will in der Tat nicht über Tintenfisch reden.“ Der Junge gibt ein Geräusch von sich, eine seltsame Mischung aus lautlosem Lachen und Seufzen, das er gleich wieder hinunterschluckt. „Ich bin wirklich dein erster Anrufer, oder?“
„Jap. Sag ich doch. Ich bin noch völlig unbenutzt.“
Wataru findet das klingt besser als „ungeübt“.
Unbenutzt ist so gut wie neu.
„Kannst du… ich weiß nicht…“, es klingt zögernd. „Solltest du mir nicht ein paar Fragen stellen?“
„Eigentlich soll ich dich reden lassen und aktiv zuhören. Das heißt, ich soll ganz viel „Aha“ und „Mhm“ machen, um dir zu zeigen, dass ich checke was du sagst.“
„Bitte…“, sagt der Junge leise. „Bitte, frag mich was.“
„Wie heißt du?“ Zu spät fällt Wataru ein, dass sie das nicht fragen sollen. Anonymität und so. „Ich meine… wie soll ich dich nennen?“ korrigiert er.
Einen Moment lang ist es still am anderen Ende der Leitung. „…K-kohei“, sagt die Stimme zögernd.
„Okay“, sagt Wataru und denkt ‚Wow, ist das ein schlechter Lügner‘, aber das sagt er nicht. „Kohei. Ich bin Wataru. Hast du… hast du Probleme in der Schule?“
Das ist eine sehr naheliegende Frage. Stress in der Schule ist laut Kashiwagi-Sensei der Nummer 1-Hauptgrund für Depressionen unter Teenagern.
„Nein, ich habe nie Probleme in der Schule“, ist die leise Antwort.
„Wirst du gemobbt?“
Die Pause, die darauf erfolgt ist so lang, dass Wataru einen Moment lang denkt ‚Treffer, versenkt‘, und eine verquere Mischung aus Stolz und Schuldbewusstsein sich in seiner Brust ausbreitet, aber dann sagt ‚Kohei‘: „Um gemobbt zu werden, müsste erstmal jemand merken, dass ich existiere.“
Es ist ein einzelner, trauriger, ausgehöhlter Satz und Wataru spürt wie er ihm tief unter die Haut kriecht und sich dort einnistet. Es hat noch nie jemand NICHT bemerkt, dass er existiert. Dafür ist er zu laut und zu brachial, und seine Haare sind zu rot und seine Hosen sitzen zu tief. Er haut Leuten auf die Nase, wenn sie ihn trotzdem noch nicht bemerken.
„Natürlich existierst du!“ ruft er hitzig. „Wieso sollte das keiner bemerken? Du bist doch nicht unsichtbar.“
Die Stille nimmt die Form eines wortlosen Schulterzuckens an. „Ich bin sehr leise.“
„Hast du nichts zu sagen?“
„Doch“ kommt abrupt. Und dann, leise, entschuldigend: „Aber ich bin meistens allein. Es ist mir lieber, wenn es still ist.“
„Was ist mit deiner Familie?“ fragt Wataru. „Die müssen doch merken, dass du existierst.“
„So lange ich gute Noten schreibe, gibt es keinen Grund für meine Eltern mich zu beachten.“
„Vielleicht solltest du mal schlechte Noten schreiben, damit sie dich beachten.“
„Nein. Nein, das geht nicht.“
„Wieso nicht?“
„Weil…“ Kohei schluckt, so laut, dass man es sogar durch die Telefonleitung hören kann. „Dann würden sie mir verbieten mit dem Tumbling weiter zu machen.“
„Tamburin?“ wiederholt Wataru ungläubig.
„Tumbling! Das ist rhythmische Sportgymnastik.“
„Öh…“ Wataru schnappt sich sein Handy und googlet hastig. „Machen das nicht nur… ich meine, ist das nicht Mädchenkram?“
„Männer machen das auch!“ Zum ersten Mal schleicht sich eine Emotion in die leise, unaufdringliche Stimme. Etwas beinah Leidenschaftliches. Etwas Parteiisches. Wataru spürt richtig wie seine Ohren hochklappen wie ein neugieriger Hund.
Google gibt seiner Aussage prompt recht und spuckt einen Haufen Bilder von Jungen in engen, glitzernden Anzügen aus.
„Okay“, sagt Wataru, verkneift sich mindestens fünfachtzig dumme Sprüche, die ihm auf der Zunge liegen und schluckt sie mannhaft alle runter. „Okay. Cool. Aber ist das nicht megaaufsehenerregend? Ich meine, DAS müssten doch Leute mitkriegen, wenn du sowas machst, wie… wie die hier.” Er klickt ein willkürliches Video unter vielen an und guckt in eine Performance für irgendeine Weltmeisterschaft rein.
„Das ist von 2009, nicht wahr?“ sagt Kohei.
„Ja“, erwidert Wataru. „Hast du das am Sound erkannt, oder was?“
„Ja.“
Das beeindruckt ihn jetzt wirklich ein bisschen. Um zu testen, ob das nur Glück war, klickt er gleich auch noch das nächste Video an.
„2009. All Japan RG Championships“, sagt Kohei prompt. „Aomori University.”
Einen Moment lang herrscht einträchtige Stille zwischen ihnen, während Wataru das Video anguckt. Er guckt den kompletten Auftritt, und Kohei sagt keinen Ton und unterbricht ihn nicht, sondern scheint am anderen Ende mit zu lauschen, als sei es ein ergreifender, besonderer Moment, den er nicht unterbrechen möchte.
„Das ist ziemlich abgefahren“, sagt Wataru schließlich.
Kohei lacht. Es ist ein leises, trockenes Geräusch, als habe er das schon eine Weile nicht mehr gemacht. „Ja. Ist es.“
„Und das kannst du?“
Das Lachen verstummt. „Nein…“
„Wieso nicht?“
Schon wieder bekommt er die vage Ahnung, dass Kohei wortlos mit den Schultern zuckt, und Wataru ist kurz in Versuchung ihm nochmal zu erklären wie ein Telefon funktioniert. „Wieso nicht?“ bohrt er.
„Ich werde nie so gut sein“, sagt Kohei nüchtern. „Und wir sind auch nicht genug Mitglieder, um bei einem Wettkampf anzutreten. Wir werden nie genug sein. Es spielt auch keine Rolle.“
„Wieso spielt das keine Rolle?“
„Weil das mein letztes Schuljahr ist. Danach … ist sowieso alles vorbei.“
„Wieso vorbei? Was soll das heißen?“ fragt Wataru beunruhigt.
„Alles…“, flüstert Kohei. „Bis zum Schulabschluss, haben sie gesagt. Und danach soll ich aufhören mit dem Blödsinn.“ Es klingt bitter. „Aber… es ist der einzige Zeitpunkt, an dem ich mich lebendig fühle. Tumbling. Egal wie schlecht wir sind. Egal wie hoffnungslos es ist. Es ist das Einzige…“ Er stockt.
„Das einzige…?“ flüstert Wataru.
„Es ist der einzige Grund wieso ich morgens aufstehe. Und wenn das vorbei ist…“
Wataru spürt wie sich ihm die Kehle zuschnürt. „Wenn es vorbei ist, dann…?“
Was immer Kohei darauf erwidern möchte, es wird unterbrochen durch ein plötzliches, unerwartetes und lautstarkes Geräusch.
„Jingle bell, jingle bell, jingle bell rock”, dröhnt eine blecherne Stimme. „Jingle bells chime in jingle bell time…! Jingle bell, jingle bell, jingle bell rock …“
Ein scharfes Ausatmen ist das letzte, was Wataru hört und dann das leise, abrupte Klicken als aufgelegt wird und dann …. Tuut-tuuut-tuuut-tuut-tuut…
Erstarrt lässt er den Hörer sinken.
Er kennt diesen Song. Er kennt die blecherne Stimme und die hässliche Dauerschleife, die aus den ewig gleichen zwei Zeilen besteht.
Es ist das grässlichste, nutzloseste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten. Ein grüner Plastiktannenbaum, der spontan manchmal losgeht und anfängt zu singen. Es ist eine defekte Charge, die Kashiwagi günstig für seine Klasse erworben und sie ihnen letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat.
Und Wataru weiß das alles, was er genau das gleiche hässliche, nutzlose Geschenk zu Hause bei sich im Zimmer stehen hat.
‚Kohei‘… wer auch immer er ist…. geht in seine Klasse.