Selbstmordvogel

Aug 23, 2010 18:46

Gestern machte ich eine Bekanntschaft der eher ungewöhnlichen Art. Es war früher Abend, oder später Nachmittag. Für die meisten eins-Komma-fünf-Kinder-Durchschnittsfamilien Abendessenszeit. Also dachte ich, warum nicht mal wieder joggen gehen? Gedacht, getan. Hab ich mir also fast niegelnagelneue Laufschuhe, eine Flasche Wasser und eines dieser winzigen Musikabspielgeräte gepackt, bin voller Energie ins Auto gesprungen und hab mich auf den Weg gemacht. Um mich einzustimmen ließ ich irgendeine namenlose Indie-Rockband aus den Lautsprechern plärren und sang lautstark den Text mit, den ich nicht kannte.

Ich war schon fast da und trat voller Vorfreude noch ein bisschen fester aufs Gas, zu mal mein kleiner Twingo grade mit einer doch nicht zu verachtenden Steigung zu kämpfen hatte. Und dann … musste ich auf einmal voll in die Eisen steigen, weil vor mir ein Vogel auf der Straße saß. Wer kennt das nicht: Im Stadtverkehr sitzt plötzlich so ein graues Taubenvieh vor dir und du betest, dass niemand hinter dir die Straße entlang tuckert, weil du eine Vollbremsung hinlegst. Wäre ja auch ziemlich unmenschlich und vor allem eklig, einen Vogel totzufahren.

Dieser Vogel also, der war noch nicht mal so groß wie meine Hand. Winziges Ding, wirklich. Er saß da, starrte mir frech entgegen und wackelte mit dem Hinterteil, so dass die Schwanzfedern auf und ab wippten, als wolle er mir sagen „los, fahr weiter, ich bleib hier sitzen“.

Ich zog also die Handbremse an, da ich ja am Hang stand. Und im Hinterkopf kam mir der Gedanke, dass es nachher unendlich mühsam werden würde, von dort wieder wegzukommen, ohne den halben Berg wieder runterzurollen.

Warten, dass der Piepmatz sich von alleine erhob und sich bequemte, endlich die Fliege zu machen, wurde mir irgendwann zu bunt, zumal er absolut keine Anstalten machte, seinen Allerwertesten von vor meinem Auto wegzubewegen. Also ließ ich einmal den Motor aufheulen (was ziemlich erbärmlich klang, da ich nur Twingo fahre).

Aber der Vogel (ein Spatz, sagte mir mein Kleinhirn) legte nur den Kopf schief. Verärgert knurrte ich. Das können nur meine vor Jahrzehnten verstorbene, unendlich böse Großmutter und ich, aber die Oma zählt nicht mehr. Ich knurrte also wie ein wütender Köter, was schon viele Leute in die Flucht geschlagen hatte. Aber dieser Vogel blieb weiterhin sitzen und glotze mich aus großen, runden Vogelaugen an. Freches Ding. Aber von hinter der Windschutzscheibe hatte er mich sicher nicht gehört, sagte ich mir und versuchte es mit heruntergekurbeltem Fenster. Auch kein Erfolg. Also blieb mir nichts Anderes übrig als auszusteigen und ihn zu verscheuchen. Vor meinem inneren Auge tat sich das Bild von mir im Gewand einer Vogelscheuche auf, was ich aber so schnell es ging wieder verdrängte. Na, den Kürbiskopf hatte ich ja schon.

Ich stieg also aus und ging vor dem Spatz in die Hocke. Doch der bewegte sich nicht. Er drehte nur den Kopf zu mir und seine kleinen Äuglein blitzten mich an.

„Wieso willst du denn unbedingt überfahren werden? Ist das Leben nicht viel zu schön zum Sterben? Vor allem ein Vogelleben! Du bist frei und kannst hinfliegen wo du willst. Hast keine anderen Sorgen außer was du als nächstes fressen willst. -ich beneide dich, wirklich. Und du willst, dass ich dich überfahre? Ich kann dich wirklich nicht verstehen.“ So endete ich meine kurze Rede kopfschüttelnd. Mein Kopf sagte mir, dass ich eine Schraube locker hatte. Wer redete schon mit einem Vogel? Einem Spatz zu allem hin! Wenn es wenigstens einer dieser Papageien wäre, die tatsächlich antworten konnten, dann käme ich mir wohl nicht so dämlich vor.

Ich seufzte noch einmal tief und voll Unverständnis und machte mich dann daran, den Vogel wegzuschieben. Doch ein piepsiges Stimmchen ließ mich innehalten.

„Pah, Freiheit, dass ich nicht lache! Vogelfrei bin ich, wenn überhaupt! Zum Abschuss freigegeben! Hast du eine Ahnung wie grausam das Tierreich ist, mein Bester? Nein, hast du nicht. Du hast absolut keine Ahnung. Ihr Menschen habt keine Ahnung!“

War ich jetzt total verrückt geworden? Ich weiß, dass ich mich zu sehr in meine Arbeit im Büro vergrabe und eigentlich kein Leben habe. Aber dass Büroarbeit Menschen halluzinieren lässt, das ist mir neu. Aber ich musste doch irgendwie verrückt geworden sein! Dieser Vogel, dieser kleine Spatz sprach mit mir! Und wenn ich mich nicht total irre auch noch in einem amerikanischen Akzent!

„I mean, hast du die Krähen mal gesehen? Die wollten mich in Stücke hacken! Mit ihren Schnäbeln, ihren spitzen schwarzen Schnäbeln, that is! Und eure Eichhörnchen sind wirklich das Allerletzte! Unfreundliches Gesindel! Ich hab gedacht, ‘komm nimm mal ne Weile Urlaub, du brauchst ne Auszeit von deinem absolut langweiligen everyday life‘. Und was seh ich hier? Exactly the same!“ Er schnalzte abwertend mit der Zunge.

„Stop. Stop, Stop, Stop. Wieso kannst du sprechen? Und … und und und wieso sprichst du mit mir? Du bist ein Vogel, Gottverdammt. Vögel sollten nicht sprechen können! Zumindest nicht deine Art von Vögeln!“

„Pfft, willst du auf diese dämlichen Papageien aus? Die labern doch nur nach was ihr ihnen Tag für Tag an den Kopf werft. Absolut brainless things, wirklich. Und ihr sagt über sie, sie seien intelligent.“

Ich schaute den Vogel mit zur Seite geneigtem Kopf an. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich das alles nur träume. Ich bin wohl gar nicht joggen gegangen. Ich liebe daheim auf meinem Sofa und bin vor der Glotze eingeschlafen. So muss es sein. Anders kann ich mir das alles nicht erklären.

„Na, wie dem auch sei. Mein Name ist Japser. Deiner?“ Der Vogel - Jasper, sagte ich mir - verlagerte sein Körpergewicht ungeduldig von einem seiner Vogelfüße auf das andere.

„Michael. Ich heiße Michael.“ Ich war wirklich perplex. Niemals hätte ich meinem Unterbewusstsein so eine rege Phantasie zugetraut. Ein Spatz mit dem Namen Jasper, der spricht. Das ist wirklich eine Abwechslung von meinen sonstigen Träumen vom Fallen oder Stolpern.

„Und was machst du hier, Japser?“
„Ich mach Urlaub, was denn sonst? Mein bester Kumpel hat gesagt Europe sei sehr schön und eine Reise wert und dann dachte ich, wieso nicht. Hatte zu Hause eh nichts zu tun.“

„Wo ist denn dein zu Hause?“ Vorsichtig näherte ich mich dem Vogel, Stück für Stück beugte ich mich weiter hinunter, bis ich schließlich wieder in der Hocke vor ihm saß. Ich wollte mehr über diesen Piepmatz erfahren, wenn ich schon einmal so etwas Abgedrehtes träumte.

„California, mein Bester. Der Sonnenstaat schlechthin. Geschlüpft bin ich in Oakland, das ist in der Nähe von San Fancisco. Beautiful city, really. Leider komm ich nicht so oft in die Stadt, man sieht kaum was wegen dem Smog, you know? Naja, leider hab ich mich ein bisschen verirrt hier. Ich hab keine Ahnung, wo genau ich bin. Und dass mich irgendwelche verblödeten Kanibalen-Krähen angreifen, hilft der ganzen Sache auch nicht.“ Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf.

„Bist du also den ganzen Weg von Kalifornien hier her geflogen?“

„Jesus, nein! Ich bin per Anhalter auf einem großen Truck nach Texas, von dort dann nach Houston und dann bin ich auf eins dieser riesigen Container ships. Das hat mich nach Amsterdam gebracht. Awesome city. All die Mädchen und du weißt schon. Naja, dann hab ich mich einfach treiben lassen. Bin mal hier hin und mal dorthin. Mal via Güterzug, mal auf Frachtschiffen, mal bin ich selbst geflogen. Aber jetzt…“

Jasper bracht ab und senkte den Kopf.

„Jetzt?“

„Jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich bin. Und die Tiere hier sind wirklich ziemlich dämlich, entweder wollen sie mich fressen oder ihr Gehirn ist nicht weit genug entwickelt, so dass sie nicht mit mir kommunizieren könnten. Du bist übrigens auch der erste, der mit mir spricht, you know?“

„Aha.“ Ich träumte, es gab keine andere Erklärung dafür. Außer vielleicht, dass Jasper von einem abgedrehten Wissenschaftler gezüchtet wurde, er aber aus der Gefangenschaft entkommen ist und in der Wildnis überlebte. Und weil so viele Experimente an seinem kleinen Körper vorgenommen wurden, war er eben weiter entwickelt als alle anderen Tiere und konnte sprechen. Genau. Das musste es sein! Aber wenn dem wirklich so wäre, dann hätte ich eine Sensation entdeckt. Dann müsste ich ihn eigentlich einfangen und Experten bringen. Die würden dann wohl noch mehr Experimente mit ihm machen und schwupp wäre es um ihn geschehen. Ich glaube, dass könnte ich ihm nicht antun.

„Und du wolltest dich von mir überfahren lassen, weil…“

„Ist doch ganz logisch, oder?“ Er schnalzte wie vorhin schon einmal abwertend mit der Zunge. „Ich weiß nicht, wo ich bin und wie ich wieder nach Hause komme. Also dachte ich ‚Jasper, even death’s better than being stuck here, where the crows’ll kill ya any moment.’ Und wollte einen schmerzlosen und schnellen Tod. Den du mir verwährst, weil du einfach nicht weiterfahren wolltest!”

„Aber Selbstmord… Das ist doch keine Lösung, findest du nicht?“

Er zuckte mit den Flügeln, was wohl eine Art Schulterzucken darstellen sollte. Nur ohne Schultern eben.

„Was soll man denn tun?“

„Nach dem Weg fragen, zum Beispiel?“

„Glaubst du, das hätte ich nicht versucht? Ich bin doch nicht stupid wie Papageie!“

„Mich hast du noch nicht gefragt, Schlaumeier.“ Ich hatte wirklich Mitleid mit diesem armen Tierchen. Und ich wollte ihm helfen. Ist doch ganz normal, oder?

„Also gut, Micha. Wo lang geht’s nach California?“ Gute Frage eigentlich. In den USA war ich schon mal, auch wenn es gute zehn Jahre her war. Und nach Amerika ging es wohl immer Richtung Westen, nicht?

„Hm, also in Kalifornien war ich noch nie. Aber Amerika liegt westlich. Also musst du da lang.“ Ich zeigte mit meiner Hand an den Horizont, wo grade die Sonne unterging.
„Immer dem Sonnenuntergang nach. Wie die Cowboys in den Westernfilmen. Cool, nicht?“

Jasper guckte mich aus großen, runden Vogelaugen an. Ich glaube, er grinste sogar. Irgendwie eben.

„Hey, thanks a lot, buddy. Jetzt kann ich endlich wieder nach Hause!“ Er spannte seine kleinen Flügel aus und hob ab.

Dann, als er schon einige Meter über der Erde war und ich immer noch in der Hocke saß, rief er zu mir herunter:

„By the way, ich hasse Westernfilme!”

Und so flog er davon. Und ich fuhr kopfschüttelnd wieder nach Hause, das Joggen total vergessen.

‚Irre Welt‘, dachte ich mir.

original, short story

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