Ein Putin-Versteher spricht...

May 21, 2014 23:26


9 Thesen zum Verständnis der Putin-Politik im Südosten: Rostislav Ischtschenko.
Ein Experte über die Besonderheiten der russischen Politik
20.Mai 2014 16:16

Letzte Zeit bekomme ich über soziale Netze viele Mitteilungen im Stil „alles ist hin“, „Putin hat verraten“, „Donbass wurde verraten“, „Staatsdepartment hat gewonnen“. Ich antworte allen gleichzeitig, weil ich keine Zeit habe für jeden Einzelnen. Ich bin kein Astrologe, keine Kartenlegerin und kein Orakel. Ich bin gewohnt mit Fakten zu arbeiten. Was sagen die Fakten?

Erstens, wenn es bei den Amerikanern alles wie gewollt laufen würde, würden sie keinen Bürgerkrieg provozieren. Für sie wäre es viel effektiver die komplette und einheitliche Ukraine wie einen Rammbock gegen Russland zu benutzen. Doch entfesseln die Amerikaner den Bürgerkrieg. Rechnen also nicht damit, dass sie die Ukraine komplett und einheitlich werden erhalten können. Rumänien und Ungarn offen und Polen schweigend begannen Richtung Territorien, die mal an die Ukraine verloren wurden, zu schielen. Die führenden Politiker der EU sprechen inoffiziell (aber so, dass es an die Öffentlichkeit gelangt) über die Notwendigkeit des Zerfalls der Ukraine und über die Bereitschaft der EU ihre westlichen (nur westlichen) Regione zu garantieren. Es ist leicht zu verstehen, wer den Rest garantieren soll. Der Sieg der Junta setzt aber den Erhalt der territoriellen Integrität. Also, rechnet EU nicht mehr mit dem Sieg der Junta. Können Washington und Brüssel die Situation schlechter einschätzen als wir, haben sie weniger Informationen? Ich denke, nicht.

Zweitens, nach vierzehneinhalb Jahren, in sich denen Putin an der Macht befindet, habe ich (und, meiner Meinung nach, nicht nur ich, sondern viele andere russische und ausländische Beobachter) folgende seine Züge festgestellt:

1. Er macht nichts spontan. Alle seine Schritte sind zusammenhängend und durchkalkuliert. Manchmal auch Jahre voraus. Das bedeutet nicht, dass Putin und seine Mannschaft keine Fehler machen, aber sie sie machen viel weniger Fehler als ihre Opponenten (und ihre Fehler sind nicht strategischer Natur), und im Krieg, in der Politik und in Schach gewinnt in der Regel derjenige, der weniger Fehler macht und deren Fehler keinen katastrophalen Charakter haben.

2. Putin hat sein politisches und privates Schicksal mit dem Wiederauf der Größe Russlands verbunden. Dem Charakter nach ist er ein Mensch, der sich mal verbiegen kann, zurücktreten kann, nie aufgibt und nie sein strategisches Ziel aus den Augen verliert. Wenn Putin vor dem Stalingrad kämpft, heißt es nicht, dass er nicht in Berlin reingeht.

3. Allen ist klar, dass der Verlust der Ukraine eine sehr schnelle Destabilisierung auch in Russland bedeutet mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass es zum katastrophal schnellen Zerfall des Staates führen würde. Ich denke, dass es allen klar ist, erst recht ist es dem Putin klar.

4. Ohne russischer Unterstützung (nicht nur moralischer) gäbe es auf Donbass keinen Aufstand und er hätte solch allumfassenden Charakter nicht angenommen. Dass es keine Beweise solcher Unterstützung gibt, heisst nicht, dass es keine gibt, nur können die Leute gut arbeiten.

5. Nachdem Krim an Russland angeschossen wurde, wurde der Anschluss von Südosten oder das Errichten dort eines russischen Protektorats zur militär-politischen Unvermeidbarkeit. Militärisch, weil aufgrund ihrer geographischen Lage und Landschaft, ist die Krim komplett ungeschützt ohne die kontinentale Kontrolle. Nur um die Küste zu kontrollieren, die vom Meer angegriffen werden kann, muss auf der Krim offensichtlich übermäßige Kräfte konzentrieren (nicht weniger aals 100 Tausend Personen). Was sowieso nicht reicht. Nur im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Krim vier Mal in kürzester Zeit erobert mit weniger oder gleich mächtiger Armee...

Die politische Notwendigkeit der Destruktion des ukrainischen Staates ist damit verbunden, dass kein politisches Regime in Kiev den Verlust von der Krim anerkennen wird.

Folglich bleibt die Position von Russland aus einem international-juristischen Standpunkt angriffbar in historischer Perspektive (Japan hat viel weniger Gründe die Süd-Kurilen zu beanspruchen, und doch gibt es so viele Probleme!). Und im Falle des Verschwindens des heutigen ukrainischen Staates ist es egal, ob an seiner Stelle russische Provinzen, Mandatterritorien von Russland oder EU oder sonst irgendwelche staatlichen Gebilde - in jedem Fall wird es alles in einer neuen politischen Realität erschaffen (wo Krim russisch ist) und wird diese Realität anerkennen müssen. Das bedeutet, dass nicht nur die Kontrolle über dem Südosten unvermeidbar ist, sondern auch der Drang nach Kiev (sonst bekommt man die Junta nicht weg).

6. USA versuchte die unmittelbare Teilnahme Russlands im Konflikt auf dem Territorium der Ukraine zu erzwingen. Das Ziel - den Keil zwischen Russland und EU zu treiben. Man kann natürlich darauf pfeiffen und trotzdem die Armee schicken, aber die geopolitischen Kosten wären sehr hoch. Putin hat beschlossen seine Ziele mit einem Bürgerkrieg in der Ukraine zu erreichen. Aus der Sicht der Interessen der ukrainischen Bürger (meine eingeschlossen) ist es eine sehr unangenehme Entscheidung. Aus der Sicht der staatlichen Interessen Russlands - logische. Außerdem liegt sie im Kanal der traditionellen Putinschen Politik - er trifft nie die Entscheidungen, die von den Opponenten durchgerechnet wurden. Für ihn ist die Unberechenbarkeit der politischen Züge charakteristisch. Die größten heutigen Politiker und die talentiertesten Experten trauen sich nicht die Züge von Putin vorauszusagen.

7. Nach all Gesagtem, bei all meinem Respekt gegenüber der Anführer des Widerstandes Donbass, zweifle ich, dass Putin keine Versicherungsmechanismen im Falle der unerwarteten Positionsänderung von Gubarev, Strelkov (oder sonst jemand) oder, zum Beispiel, im Falle des Todes eines von ihnen oder ihrer Mitkämpfer oder sogar aller, vorgesehen hat. Das Schicksal eines Reiches, Ergebnis der jahrelangen Politik kann nicht von einer Person oder einer Gruppe abhängen. Das Ergebnis solcher Operation, wie jetzt im Südosten durchgeführt wird, muss mehrmals gesichert sein. Die Einsätze sind zu hoch. Hier ist kein Platz für Zufälle und Improvisationen. Deswegen kann Donbass nicht verraten werden, wenn Putin das nicht beschließt, und für Putin gibt es noch keinen Grund solch einen Beschluss zu fassen.

8. Die Verhandlungen mit Kiev, Brüssel und Washington über die friedliche Regulierung sind nicht ausgeschlossen, aber sie sind noch nicht bereit Russland das zu geben, was es braucht, und sie können es gar nicht (wie kann Turtschinov sich mit dem Verlust von der Krim einverstanden erklären, mit Föderalisierung, Zweisprachigkeit, neutralem Status usw? Seine eigenen Schläger töten ihn). Dabei muss die Gasfrage bis August gelöst sein, sonst könnte Europa im Winter mit einer wirtschaftlichen und politischen Krise konfrontiert werden, die EU nicht mehr überlebt. Russland braucht EU aber nicht in Form der im Bürgerkrieg brennenden Ruinen (wie jetzt Ukraine), sondern als Partner. Deswegen ist die Wahrscheinlichkeit der militärischen Lösung der ukrainischen Krise durch die Offensive der Armee Südostens gegen Kiev sehr hoch. Wenn Kiev eingenommen wird, dann sollte man denken, werden Brüssel und Washington verhandlungsfähig werden zum Thema durch die Ukraine eine Abgrenzungslinie über die ukrainisch-polnische Grenze von 1939 zu ziehen, die die Verantwortungszonen für Russland und EU (EU und nicht USA und NATO) bestimmt. In diesem Fall würde der souveräne ukrainische Staat recht schnell aufhören auch formell zu existieren. Im Falle, wenn die Ereignisse nach beliebigem anderen Szenario sich entwickeln (zum Beispiel, Junta schafft es Kiev zu behalten), wird die Liquidierung der ukrainischen Staatlichkeit lange Zeit andauern, EU würde ernste Probleme bekommen und möglicherweise sogar Balkanen verlieren, aber die Ukraine würde sowieso liquidiert, weil sie nur durch die Außenfinanzierung existieren kann und jetzt wird es billiger sein die existierenden Schulden zu vergessen, weil der Schuldner nicht mehr existiert, als weiter Geld zu leihen.

9. Patriotischer Aufbruch in Russland und der momentane Höhenflug der Ratings von Putin für die effektive Politik auf der ukrainischen Richtung, werden durch Enttäuschung, Ärger und Verlust an Vertrauen ausgewechselt im Falle, wenn Putin die unbegründeten Kompromisse angeht. Weil die ganze Machtvertikale in Russland und die ganze russische Stabilität ausschließlich auf der Autorität von Putin steht, würde der Verlust von Putin's Autorität katastrophale Folgen nicht nur für ihn sondern auch für das Land haben. Folglich kann er nicht anders aus der ukrainischen Krise rausgehen, als der klare Sieger.

Das sind eigentlich alle Überlegungen und Beobachtungen, die mir in der Frage der strategischen Lösung der ukrainischen Krise den Optimismus einflößen, die aber zwingen anzunehmen, dass es noch viel Blut fließen wird, und die Kollegen überzeugen, dass sie vorsichtig sein müssen, wenn möglich sich nicht in Gefahr bringen, besonders in den Städten, die komplett von Junta sind (wie, zum Beispiel, Kiev). Und besser noch, wenn möglich, ruhigere Plätze suchen. In der Situation des geopolitischen Kampfes der Reiche, kann ein Einzelheld nichts verändern. Sogar in den Zeiten des Großen Vaterländischen Krieges war der Untergrund nur dann effektiv, wo er mit Moskau verbunden war und die zentralisierte Führung bekam.

Ich wiederhole noch mal, ich bin kein Hellseher, ich kann mich irren, aber bis jetzt passen die Geschehnisse in die Logik der oben beschriebenen Prozesse und Überlegungen. Alles andere - Emotionen, die durch den Wunsch hervorgerufen sind mit wenig Blut, auf dem frenden Territorium und am besten schon gestern zu gewinnen, aber leider klappt es nicht immer so. Der Feind greift nur dann an, wenn er denkt, dass er gut genug bereit ist, um garantiert zu siegen, dass er stärker ist.

Und noch eins, man soll nicht denken, dass der Sieg vorausbestimmt ist. Der Feind will und kann auch gewinnen. Wenn unserer Vorteil offensichtlich wäre, hätte er nicht angegriffen. Deswegen könnte es sein, dass Putin nicht nur die vorausberechnete, sondern auch erzwungene Manöver durchführt. Wir sind nicht die Personen, denen er seine Geheimnisse vertraut, also können wir seine Handlungen und Motive auch nicht adäquat bewerten.

Ich kenne zwei Kriegsherren in der Geschichte der Menschheit, die nie eine Niederlage erlitten haben - zwei Alexander: von Makedonien und Suvorov. Putin könnte der dritte werden (der dazu auch noch die Kriege gemäß der Maxima von Sun Tzu gewinnt: „Der beste Krieg ist der, der nicht begonnen wurde“). Oder auch nicht. Sogar der Bonaparte hatte nicht nur Borodino (was seine Fans immer noch für seinen Sieg halten), sondern auch Waterloo, was sogar für sie die absolute und katastrophale Niederlage war. Also sollen wir nicht auf das beste hoffen und uns bemühen Putin zu helfen. Was auch immer jeder von ihm hält, heute sind wir objektiv zusammen auf der gleichen Seite. Und, übrigens, von allen theoretisch möglichen (mir bekannten) Obersten Befehlshaber, ist er der beste.

analyse, putin, ruine, Russische Föderation

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