BigBang 2013 - Herzrasen (Epilog)

Oct 04, 2013 18:02

Beta: josl, jolli
Genre: ein Hauch von Humor, Romanze, h/c, Angst, Drama und KITSCH -> seid gewarnt
Pairing: Boerne/Alberich
Wortanzahl: ~35.000
Warnungen: ooc, cd. Loser Bezug zur Episode Eine Leiche zuviel, es ist von Vorteil, die Folge zu kennen!
Rating: Ab 12
Bingo-Prompt: in Ohnmacht fallen/ohnmächtig
Zusammenfassung: Gedankenverloren sah sie ihm nach, als er den Raum verließ. In den letzten Wochen hatte sich ihre Beziehung irgendwie verändert... doch sie konnte nicht einmal genau sagen, wie, warum und vor allem, in welche Richtung.
Wenige Stunden später allerdings war das ihre geringste Sorge.


An diesem Samstagmorgen war für Thiel an Ausschlafen nicht zu denken gewesen. Als das Morgengeläut der Kirchenglocken ihn unvermittelt aus seinen Grübeleien riss, hatte er bereits die dritte Tasse Kaffee vor sich stehen.
Die Ereignisse des Vortages steckten ihm noch in den Knochen, er hatte die ganze Nacht kaum Ruhe gefunden. Und auch jetzt waren seine kreisenden Gedanken noch nicht zum Stillstand gekommen. In einer Endlosschleife spielten sich die erschütternden Szenen vor seinem inneren Auge ab, die er am Morgen zuvor in der Rechtsmedizin erlebt hatte.

Wieder und wieder sah er Frau Haller apathisch auf dem Fußboden sitzen, sah, wie sie den leblosen Boerne verzweifelt an sich gepresst hielt. Die Trostlosigkeit in ihren Augen, als sie wie betäubt zu ihm aufgeblickt hatte, jagte ihm auch nachträglich noch einen Schauer über den Rücken.
Vollkommen still hatte Boernes erschlaffter Körper in ihren Armen gehangen, sein Kopf weit in den Nacken gekippt, das graue Gesicht eingefallen, totengleich. Er hatte in einer dunkelroten Lache gelegen, sein Hemd und der Verband, der in dicken Lagen um seinen Unterleib gewunden war, durchtränkt von Blut. Thiel hatte in dem Moment fassungslos geglaubt, für seinen Kollegen käme jede Hilfe zu spät.

Ihm waren vor Erleichterung beinah die Knie weichgeworden, als sich herausstellte, dass Boerne noch lebte. Die Minuten, bis der Notarzt endlich eingetroffen und der sterbenskranke Mann stabilisiert und dann voller Hast abtransportiert worden war, waren ihm wie eine Unendlichkeit vorgekommen.

Mit Herberts Hilfe hatte er Frau Haller dann recht zügig befreien können. Doch statt nun sogleich zu ihrem Vorgesetzten in die Klinik eilen zu können, war sie von den Kollegen der Sonderkommission festgehalten worden, die mit der Aufklärung des Überfalls auf den Geldtransporter betraut waren.

Thiel hatte dieses erste Verhör so schnell wie irgend möglich unterbrochen, doch in jenem kurzen Gespräch hatte die Rechtsmedizinerin ein wenig von den Geschehnissen berichtet, die sich im Institut zugetragen hatten.
Sie hatte nichts ausgeschmückt, nichts übertrieben, das war nicht ihre Art. Doch gerade diese nüchternen Worte zeichneten ein mehr als beklemmendes Bild von der schier ausweglosen Situation, in der sie sich befunden hatte, nachdem Nowak sie zurückgelassen hatte. Angekettet. Hilflos. Mit Boerne in ihren Armen, hochfiebernd und bewusstlos, dem Tode nah durch die sich dramatisch entwickelnde Infektion, die seine Stichverletzung ausgelöst hatte. In dem Wissen, dass er schnellstmöglich intensivmedizinische Versorgung benötigte, aber mit der bitteren Gewissheit, dass die Chancen, noch rechtzeitig gefunden zu werden, praktisch gegen Null gingen.
Sie hatte über Stunden in dem unbeschreiblichen Horror leben müssen, dass er in ihren Armen sterben würde, und dass es absolut nichts gab, was sie dagegen tun konnte.
Der bloße Gedanke an die Verzweiflung, die sie in dieser Zeit gespürt haben musste, schnürte Thiel noch im Nachhinein die Kehle zu.

Nach ihrer Befreiung hatte sie sich tapfer aufrecht gehalten, keine Sekunde Schwäche gezeigt. Nicht, als sie in diesem Wartezimmer so lange Zeit ohne Informationen ausharren mussten. Nicht, als Professor Jaschke endlich zu ihnen kam und sie über Boernes glücklicherweise stabilen, aber beängstigend ernsten Zustand aufklärte. Nicht, nachdem sie den Schwerkranken nach einem ganz kurzen Besuch wieder allein lassen musste, obwohl Thiel sich sicher war, dass sie alles darum gegeben hätte, bei ihm bleiben zu dürfen.

Doch Jaschke hatte mit dieser Entscheidung absolut richtig gelegen, denn sie hatte zu der Zeit schon längst das Ende ihrer Kräfte erreicht. Wenige Minuten später hatte es sich gezeigt; sie war eingeknickt, geradezu zusammengebrochen. Ihre Verzweiflung und Erschöpfung waren unbeschreiblich gewesen. Thiel hatte sich so hilflos gefühlt wie selten zuvor, als sie sich in seinen Armen irgendwann in den Schlaf geschluchzt hatte.

Wie am Mittag zuvor in Frau Hallers Zimmer stieg auch jetzt noch jedes Mal aufs Neue unbändiger Zorn in ihm auf, wenn er daran dachte, was Nowak, aber vor allem Kern, der kleinen Frau angetan hatten. Zorn, gepaart mit Übelkeit, wenn er sich vergegenwärtigte, dass für Boerne jede Hilfe zu spät gekommen wäre, hätten sie ihn nur wenig später entdeckt. Er weigerte sich, darüber nachzudenken, was das für Frau Haller bedeutet hätte.

Aufgewühlt trank Thiel den letzten Schluck Kaffee und knallte die leere Tasse in die Spüle. Er musste an die frische Luft.
Als er seine Jacke überzog, versuchte er ganz bewusst, sich zu beruhigen, versuchte den Zorn und ebenso die beängstigenden Gedanken abzuschütteln.
Sie waren nicht zu spät gekommen. Sie hatten Boerne rechtzeitig gefunden, er würde sich erholen.
Alles war gut.

Es war noch recht früh, als er sein Rad am Fahrradständer der Uniklinik ankettete, doch schon von weitem hatte er Nadeshda gesehen, die neben dem Eingang an die Wand gelehnt stand und ihm kurz zuwinkte. Als er am Vortag erwähnt hatte, dass er morgens hierherfahren und nach seinen Kollegen sehen wollte, hatte sie sogleich klargemacht, dass sie ihn begleiten würde.

Die Tatsache, dass sie ebenfalls lange vor der vereinbarten Zeit eingetroffen war und ein kurzer Blick in ihr Gesicht, zeigten Thiel, dass Nadeshdas Nacht ebenfalls nicht besonders erholsam gewesen sein konnte.

Ohne viele Worte machten sie sich auf den Weg zu Frau Hallers Station. Doch gerade als sie an der Tür ihres Zimmers anklopfen wollten, kam eine Krankenschwester auf sie zu. "Frau Haller ist nicht da. Die Intensiv hat vor einer Stunde angerufen und gedrängt, dass sie sofort runterkommen muss. Sie ist gleich losgerannt."
Thiels Magen verkrampfte sich; ihrem Gesichtsausdruck nach war er sich sicher, dass der Grund kein guter gewesen sein konnte. Sein "Warum?" war so heiser, dass er das Gefühl hatte, man könne ihn kaum verstehen.
"Dem Professor geht es sehr schlecht. Gehen Sie am besten hin, ich habe leider keine näheren Informationen." Damit zuckte die Schwester noch einmal wie entschuldigend mit den Schultern und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

Thiel hatte diese Aufforderung nicht gebraucht, war schon losgestürmt, bevor sie sich überhaupt abgewandt hatte, Nadeshda dicht hinter ihm. Innerhalb kürzester Zeit standen sie vor den Milchglastüren der Intensivstation und er betätigte die Klingel, sicherlich entschieden energischer als es höflich war.
Schon nach wenigen Sekunden hörten sie jemanden in den Vorraum treten und gleich darauf wurde die Tür von Notarzt Jaschke selbst geöffnet.

"Was ist mit Professor Boerne?“ Nadeshdas ängstliches Drängen wurde von Thiels zeitgleichem Ausruf fast übertönt. "Wie geht es ihm? Was zur Hölle ist passiert?"
Ihr Gegenüber hatte bei diesem Ansturm wie zur Verteidigung beide Hände hochgerissen und war unwillkürlich einen Schritt zurückgewichen. "Ganz ruhig, er ist soweit in Ordnung! Lassen Sie mich bitte erklären, was los war."
Thiel fiel ein Stein vom Herzen, während Jaschke sie nach einem kurzen Blick auf zwei Patienten, die neugierig gaffend stehengeblieben waren, in die Besucherschleuse dirigierte und energisch die Tür schloss.

„Also, Karls Zustand hat sich seit gestern Morgen so zufriedenstellend entwickelt, dass wir uns im Laufe der Nacht entschieden haben, das künstliche Koma zu beenden. Das hat auch geklappt, er ist tatsächlich wieder in der Lage, selbstständig zu atmen. Ich war mir erst nicht sicher ob er das schafft, aber er macht das gut.“   
Nadeshdas schien mehr als erleichtert, Thiel dagegen ließ sich gegen die Wand fallen und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Er konnte seinen Frust nicht zurückhalten: „Mein Gott, was redet diese Krankenschwester denn da? Ich hab' echt gedacht, er liegt im Sterben! Frau Haller hat sich bestimmt zu Tode erschreckt, das muss doch nicht sein?"

Noch während er sprach, schüttelte der Mediziner den Kopf und verzog das Gesicht. „Seien sie nicht zu streng mit ihr! Sie hat ja recht, die frühen Morgenstunden waren wirklich ziemlich schrecklich.“
Irritiert richtete Thiel sich wieder auf, aber bevor er den Mund öffnen konnte, begann der Professor schon, zu erklären: „Karl reagiert nicht besonders gut auf die fiebersenkenden Medikamente, seine Temperatur war noch hoch, als wir ihn langsam aufwachen ließen. Wir hatten nicht damit gerechnet, wie ihm das zu schaffen machen würde.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. „Als er allmählich zu sich kam, ist er extrem unruhig geworden. Die starken Schmerzmittel, die er bekommt, haben die Sache natürlich nicht besser gemacht. Er hat angefangen zu fantasieren, hat sich eingebildet, dass Frau Haller in Gefahr ist.“

Thiel presste aufgewühlt die Lippen zusammen, als Jaschke weiter erläuterte: „Er braucht jetzt vor allen Dingen Ruhe, doch daran war nicht zu denken. Immer wieder ist er aus diesen elenden Fieberträumen aufgeschreckt. Während einer regelrechten Panikattacke hat er sich verzweifelt gegen uns gewehrt, weil er dachte, wir wollten Silke etwas antun. Wir mussten ihn mit drei Mann im Bett halten! Keiner weiß, wo er die Kräfte hergenommen hat."
Der Professor seufzte und sank schwer gegen die Fensterbank in seinem Rücken. „Wir hatten schon die Medikamente aufgezogen, um ihn wieder zu sedieren, da hat er plötzlich das Bewusstsein verloren. Die Infektion und die ausgedehnte OP haben ihn massiv geschwächt, die Anstrengung war zu viel. Sein Kreislauf ist zusammengebrochen, er hat uns einen echten Schrecken eingejagt."
Er fuhr sich mit einer bebenden Hand über die Stirn. "Gott sei Dank konnten wir ihn schnell wieder stabilisieren."
Es war nicht zu übersehen, wie sehr die Sorge um seinen Freund ihn aufgewühlt hatte. Er musste tief Luft holen, bevor er nun wieder ruhiger fortfuhr: „Nach dem Zwischenfall war Karl eine Weile besinnungslos und wir dachten, damit wäre das Gröbste überstanden. Aber als er wieder zu sich gekommen ist, war er immer noch total verzweifelt. Deshalb haben wir Silke zu ihm ins Zimmer geholt, die Quälerei war nicht mehr mit anzusehen.“

Thiel hatte während dieser langen Erklärung angefangen, ruhelos auf und ab zu wandern und musste seinem Frust mit Gewalt Luft machen in der Sekunde, in der Jaschke verstummte.
„Kein Wunder dass er durchdreht, nach dem, was Frau Haller beinah passiert wäre!“ Er konnte den Zorn, der ohnehin die ganze Zeit noch unterschwellig in ihm brodelte, nicht aus seiner Stimme fernhalten. Unbewusst ballte er seine Fäuste derartig fest zusammen, dass es fast schmerzhaft war. Er entspannte sich erst wieder ein wenig, als seine Assistentin eine Hand auf seinen Arm legte.

Jaschke hatte diese Erregung nicht entgehen können; energisch, ja beinah ungeduldig bohrte er nach: „Was um alles in der Welt hat sich da in der Rechtsmedizin abgespielt?“
Thiel schluckte trocken, als ihm erneut so richtig bewusst wurde, was geschehen wäre, wenn Boerne nicht gerade noch rechtzeitig eingegriffen hätte. Bevor er sich jedoch soweit gesammelt hatte, dass er antworten konnte, übernahm Nadeshda die Erklärung: „Einer der Geiselnehmer wollte Frau Haller vergewaltigen. Professor Boerne ist in letzter Sekunde darauf aufmerksam geworden und dazwischen gegangen. Der Typ ist dann ausgerastet und hat ihn niedergestochen.“

„Mein Gott.“ Auf Jaschkes Gesicht zeichnete sich Fassungslosigkeit ab. „Ich habe nicht geahnt, dass so etwas der Grund für seine Verletzung war.“
Thiel und Nadeshda blieben stumm, während der Professor wortlos auf den Boden starrte und sich mit beiden Händen das Gesicht rieb. „Sie hat sich zu ihm gesetzt, seine Hand genommen und leise geflüstert, dass es ihr leidtut. Aber ich habe in dem Augenblick nicht verstanden, was sie damit meint.“ Nun blickt er auf und schüttelte sichtbar bestürzt den Kopf. „Sie macht sich Vorwürfe. Als wäre es ihre Schuld, dass das passiert ist.“
„Gott, so ’ne Scheiße…“ Zum wiederholten Mal an diesem Tag fuhr Thiel sich frustriert durch die Haare. „Boerne dann in dem erbärmlichen Zustand zu sehen, war wohl das Letzte, was Frau Haller gebrauchen konnte.“

Jaschke seufzte. „Wir waren drauf und dran, ihn wieder zu sedieren. Es war alles schon vorbereitet, aber wir wollten zumindest vorher versuchen, ob Silkes Anwesenheit ihn beruhigt. Sie können sich nicht vorstellen, wie verzweifelt er war." Er wirkte müde und erschöpft, als er hinzufügte: „Wenn ich gewusst hätte, was passiert ist, hätte sie nicht wecken lassen, das müssen Sie mir glauben.“
Thiel nickte nur stumm, Nadeshda dagegen fragte leise: „Hat es dem Professor denn wenigstens geholfen, dass Sie sie gerufen haben?“

Daraufhin erhellte ein schwaches Lächeln Jaschkes Züge. „Ja, es ist die richtige Idee gewesen. Er hat sich merklich entspannt, seit sie bei ihm ist. Und vorhin war er für kurze Zeit endlich so wach und klar, dass sie ein wenig miteinander sprechen konnten. Das hat ihnen beiden gutgetan.“
Er straffte sich etwas, als er hinzufügte: „Inzwischen schläft er tief und ruhig. Und das Fieber geht jetzt langsam runter, ich denke, so schlimm wird es nicht noch einmal.“

Thiel war mehr als erleichtert über diese Information; aber nicht nur wegen Boerne, sondern auch wegen der Rechtsmedizinerin. Ihr Wohlergehen lag ihm ebenso sehr am Herzen wie das seines Kollegen. Sie tat ihm einfach nur leid nach dem erneuten Schrecken, den sie in dieser Nacht durchleben musste.
„Warum haben Sie Frau Haller nicht gleich wieder ins Bett geschickt, nachdem Boerne eingeschlafen ist? Es ist mir klar, dass sie ihn freiwillig nicht allein lässt, aber sie ist sicherlich fix und fertig.“ Er konnte nicht verstehen, warum Jaschke der armen Frau nicht längst die Ruhe verordnet hatte, die sie so bitter nötig hatte.
„Sie ist ebenfalls eingeschlafen. Wir wollten sie nicht wecken.“
Thiels Kopf flog hoch. „Sie lassen sie an seinem Bett schlafen, nach dem, was sie mitgemacht hat? Wissen Sie, wie unbequem das ist??“

Natürlich war Boerne Professor Jaschkes Priorität, aber dass er Frau Hallers Befinden plötzlich so ignorieren würde, hatte Thiel nicht erwartet.
Doch sein vorwurfsvoller Unterton prallte an Jaschke ab, er zuckte nur mit den Schultern. „Regen Sie sich ab Herr Thiel, so unbequem sah das nicht aus.“

Thiel konnte nur ungläubig den Kopf schütteln, während der Notarzt sich von der Wand abstieß und anwies: „Ziehen Sie einen Kittel über und desinfizieren Sie sich die Hände, dann können Sie kurz ins Zimmer gehen. Die letzte Tür auf der linken Seite. Erwarten Sie aber nicht, dass die beiden ansprechbar sind, ok?“ Mit diesen Worten reichte er ihnen das genannte Kleidungsstück und ging dann zur Tür. Doch bevor er hindurchschritt, drehte er sich noch einmal zurück. „Ich sollte Sie vielleicht warnen: Karl ist wirklich schwerkrank zurzeit und das sieht man ihm an. Erschrecken Sie sich nicht.“ Er nickte ihnen noch einmal kurz zu. „Ich komme in fünf Minuten und begleite Sie wieder raus." Damit verließ er den Raum.

Thiel und Nadeshda tauschten einen leicht verunsicherten Blick, bevor sie die geforderten Hygienemaßnahmen ergriffen und dann über den langen Flur der Intensivstation schritten. Einige Türen standen offen, aber Thiel vermied es, hineinzusehen. Er hatte nach Jaschkes Andeutung schon genug Sorge davor, was für ein Anblick ihn in Boernes Zimmer erwarten würde, da musste er sich ja nicht im Vorfeld schon so etwas antun.

Als sie vor dem Raum ankamen, holte er noch einmal tief Luft und nach einem ermutigenden Nicken seiner Assistentin trat er leise ein. Nach zwei vorsichtigen Schritten allerdings blieb er abrupt stehen und starrte auf die Szene, die sich ihm bot; dass Nadeshda nicht rechtzeitig bremsen konnte und mit ihm kollidierte, registrierte er kaum.

Boerne fand sich - wie erwartet - still und reglos in einem Bett an der Stirnseite des Zimmers. Eher unerwartet war die Tatsache, dass er nicht allein darin lag. Sein Kopf war auf die Seite gesunken und sein Kinn in den Haaren von Frau Haller vergraben, die in seinem Arm zusammengerollt schlief und die er wie beschützend an sich gezogen hielt.
Ihr Kopf lag an seiner Schulter und ungeachtet der Operationswunde und der Monitorkabel ruhte ihre Hand auf seiner Brust. Es schien, als habe sie das Bedürfnis, jeden seiner schwachen Atemzüge und jeden einzelnen Herzschlag zu spüren, als suche sie sogar im Schlaf unbewusst die Gewissheit, dass er lebte, dass es ihm gutging.
Die Erschöpfung dieser zwei Menschen war fast mit Händen zu greifen und tat Thiel in der Seele weh; doch ihre offensichtliche Besorgnis umeinander ließ das Bild ihrer schlechten Verfassung zum Trotz so richtig aussehen, so rührend und liebevoll, dass er merkte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.

Er warf einen kurzen Blick über die Schulter. Nadeshda war nach dem überraschten Geräusch, das sie bei ihrem Zusammenstoß gemacht hatte, förmlich in der Bewegung erstarrt. Auch sie schien ihre Augen nicht vom Bett abwenden zu können. Und sie strahlte.
„Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass die beiden je bemerken, was sie aneinander haben“, flüsterte sie schmunzelnd, als sie seinen Blick bemerkte. „Wenigstens etwas Positives nach dem ganzen Schrecken.“
Thiel nickte lächelnd und fragte sich in dem Moment, ob die Standpauke, die er Boerne nach den Ereignissen im Anatomischen Institut einige Wochen zuvor gehalten hatte, vielleicht für diese Entwicklung mitverantwortlich war.
Aber das würde er irgendwann schon noch herausfinden.

Nach einem kurzen Wink mit dem Kopf legten sie schweigend die letzten Meter bis zu ihren schlafenden Kollegen zurück.
Frau Haller sah schrecklich blass aus in dem hell bezogenen Bett, zusammengekrümmt wie sie dort lag. Neben dem lang ausgestreckten Boerne kam sie ihm noch kleiner vor als sonst. Thiel hätte nie gedacht, dass er das Wort jemals mit ihr in Verbindung bringen würde, doch in diesem Moment erschien sie ihm ganz zerbrechlich. Aber wenigstens war sie körperlich unversehrt.
Boernes Zustand dagegen wirkte auf ihn geradezu beängstigend. Von Nahem gesehen wurde ihm klar, dass der Notarzt seine Warnung nicht ohne Grund ausgesprochen hatte. Sein Kollege sah, wenn das überhaupt möglich war, noch schlechter aus als am Morgen zuvor in der Rechtsmedizin.
Sein beunruhigend graues Gesicht war noch weiter eingefallen, die Augen von dunklen Ringen umrahmt und lagen tief in den Höhlen. Wohl wegen des hohen Fiebers war er lediglich halb mit einem dünnen Laken abgedeckt; neben ihm, auf der freien Seite der Matratze, verteilte sich ein schier unüberschaubares Durcheinander von Schläuchen und Kabeln, die alle auf irgendeine Art an seinen Körper angeschlossen waren.
Thiel konnte ein Erschaudern nicht unterdrücken und spürte, wie ihm flau im Magen wurde.

„Mein Gott, er sieht wirklich todkrank aus.“ Nadeshda stand ihre Bestürzung ins Gesicht geschrieben. „Ja.“ Thiel musste schlucken, um trotz des Kloßes in seinem Hals flüstern zu können. „Aber er hat Glück gehabt. In mehrfacher Hinsicht.“ Um sich von seinem Unwohlsein abzulenken, konzentrierte er sich angestrengt auf Frau Hallers friedliche Gesichtszüge.
Seine Assistentin schien zu ahnen was in ihm vorging und legte mitfühlend eine Hand auf seinen Arm; dankbar riss Thiel seinen Blick vom Bett los und drückte diese Hand kurz, bevor beide sich mit einer Kopfbewegung darauf verständigten, den Raum zu verlassen. Ihre Kollegen brauchten jetzt einfach nur Ruhe.

Sie waren noch nicht ganz an der Tür angekommen, als in ihrem Rücken eine leise Stimme ertönte, so schwach und heiser, dass sie kaum zu verstehen war. „Thiel?“
Verblüfft wirbelte Thiel herum und sah, dass Boerne das Gesicht etwas angehoben hatte und ihn mühevoll anblinzelte. Dann fiel sein Kopf schwer zurück auf die Matratze und seine Lider sanken langsam wieder herab.

„Boerne!“
Der Kommissar eilte zum Bett zurück. So froh er war, seinen Kollegen wach zu sehen, so besorgt war er gleichzeitig - letzteres vor allem aufgrund des qualvollen Lautes, den Boerne bei seiner Rückwärtsbewegung nicht hatte unterdrücken können.

„Alles in Ordnung? Brauchen Sie etwas?“ Angespannt beugte Thiel sich vor.
Boerne drehte den Kopf ein wenig mehr in seine Richtung und versuchte nochmals, die Augen zu öffnen. „Können Sie Silke zudecken… sie ist ganz kalt…“ wisperte er matt und nach einem angestrengten Atemzug fügte er hinzu: „…ich habe es nicht geschafft.“

„Ja klar, machen wir!“ Thiel hatte seine Stimme wegen Frau Haller bewusst gedämpft und fragte sich indessen, ob er das Betttuch unter ihr hervorziehen konnte, ohne sie zu wecken. Er kam dann aber leicht verspätet zu dem Schluss, dass der dünne Stoff ihr nicht viel nützen würde.
Nadeshda hatte das schneller durchschaut, sie war schon zu dem leeren Bett auf der anderen Seite des Raumes gelaufen und hatte die Decke heruntergenommen. Vorsichtig legte sie sie über Frau Hallers Beine; die erschöpfte Frau merkte nichts davon, schlief ungestört weiter.

Als Thiel die Decke fürsorglich über ihren Rücken zog, rutschte Boernes Hand von ihrer Schulter und fiel auf die Matratze. Sein unmittelbares, unterdrücktes Aufstöhnen und die zugekniffenen Augen zeigten deutlich, dass selbst diese kleine Erschütterung ihm Schmerzen bereitet hatte. In einer unbeholfenen, unsicheren Bewegung versuchte er dann, den Arm wieder hochzunehmen, aber es wollte ihm nicht gelingen.
Um ihm zu helfen griff Thiel sogleich nach Boernes Hand, doch statt sie auf Frau Hallers Schulter zurückzulegen, hielt er die schlanken Finger für einen Moment fest und drückte sie sacht. Er meinte zu spüren, dass Boerne leicht zitterte.
„Ist Ihnen auch kalt?“
Sein Kollege gab nur ein kaum hörbares „…mhmhm…“ von sich, für eine richtige Antwort schien ihm die Kraft zu fehlen.

Stirnrunzelnd ließ Thiel seine Hände an Boernes Arm hinabgleiten. Der Professor war ausgekühlt und klamm, hatte offenbar stark geschwitzt. Als er daraufhin prüfend das Betttuch und das darunter hervorschauende Hosenbein berührte, sah er seinen Verdacht bestätigt. Er blickte zu Nadeshda auf. „Das Zeug ist ganz nass!“
„Nehmen wir es weg, dann wird er schneller wieder warm.“ Nadeshda ließ ihren Worten sogleich Taten folgen, rollte das feuchte Laken zusammen und reichte es ihm. Er selbst zog so behutsam wie möglich den letzten Zipfel unter Frau Hallers Hüfte hervor und nahm es dann fort.

Zu seinem Leidwesen fiel sein Blick nun ungehindert auf diverse Wunddrainagen und den erschreckend langen Verband, der sich von Boernes Brustbein bis unter seinen Hosenbund zog; seine Übelkeit meldete sich mit Gewalt zurück und krampfhaft schluckend wandte er seine Augen von den blutigen Kompressen ab.

In dem Moment erschauderte Boerne mit einem erneuten Stöhnen und die Härchen an seinen Armen richteten sich auf. Nadeshda am Fußende des Bettes bedeckte daraufhin schnell seine Beine und Thiel riss sich bewusst zusammen und breitete die wärmende, weiche Steppdecke über seiner Brust aus.
Als er zum Schluss Boernes Arm vorsichtig zurück um Frau Hallers Schulter legte und die Decke dann behutsam um sie beide feststeckte, wisperte der Verletzte ein fast unhörbares „Danke.“
Thiels Magen hatte sich bei diesem Tonfall unangenehm zusammengezogen. Sein Kollege klang so erschöpft und elend, so hatte er ihn noch nie erlebt. Nie erleben wollen.

Um seine Unruhe zu überspielen, rettete er sich in einen flapsigen Spruch. „Hab` ich da grad ein Danke gehört? Was sind Sie denn so zahm, haben Sie noch Fieber?“ Ohne groß nachzudenken, legte er seine Hand auf Boernes Stirn, aber zu seiner Erleichterung fand er sie nicht glühend vor. Es war also wohl kein Schüttelfrost, der den Professor zittern ließ.

Boerne antwortete nicht, verzog lediglich schmerzvoll sein Gesicht. Anscheinend lag er nicht mehr bequem, er versuchte, sich minimal zu drehen, die Zähne fest zusammengebissen. Doch diese leichte Positionsveränderung brachte ihm keine Erleichterung. Ganz das Gegenteil war der Fall, sie löste eindeutig starke Schmerzen aus. Bestürzt beobachtete Thiel, wie Boerne sich heiser aufstöhnend verkrampfte und sein Atem nur noch in abgehakten, keuchenden Stößen ging.
„Hey! Hey, ganz ruhig!“ Reflexartig griff er nach der Hand, die auf Frau Hallers Schulter lag und ließ sie auch nicht los, als der Verletzte nach einigen Sekunden mit einem gequälten Wimmern zurück auf die Matratze sackte.

„Boerne, alles gut? Sollen wir Jaschke holen?“
Aber Boerne reagierte nicht gleich auf seine besorgte Frage und Thiel fragte sich mit einem Male alarmiert, ob er überhaupt noch bei Bewusstsein war. Aufgeregt strich er dem reglosen, schweratmenden Mann ein paar feuchte Haare aus der Stirn, sein Ton nun wesentlich drängender: „Boerne, bitte! Was ist denn mit Ihnen? Hören Sie mich?“
Endlich flüsterte sein Kollege ein kaum verständliches „… geht wieder…“, das in Thiels Ohren allerdings nicht wirklich überzeugend klang. Aber immerhin war er ansprechbar, wie er voller Erleichterung feststellte.
Nadeshda, die die Szene mit weit aufgerissenen Augen beobachtete, ließ ihren Atem hörbar entweichen. Thiel tauschte einen kurzen Blick mit ihr aus; sie fühlte sich eindeutig ebenso beklommen wie er.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Boerne sich langsam entspannte. Erst dann löste Thiel behutsam seinen Griff um die kalten Finger und zog danach die Decke noch ein wenig höher. „Ruhen Sie sich aus. Wir schauen morgen wieder rein.“
Ein schwaches Nicken war die einzige Reaktion, die er noch bekam. Boernes Kopf war wie zuvor gegen den seiner Assistentin gesunken, die Augen nochmals zu öffnen, war ihm wohl beim besten Willen nicht mehr möglich. Die nun langsamer und leiser werdenden Atemzüge zeigten, dass er offenbar dabei war, wieder wegzudämmern. Die Schmerzen mussten wirklich nachgelassen haben, sonst wäre ihm das wohl kaum möglich gewesen.
Frau Haller hatte sich während dieses beunruhigenden Vorfalls nicht gerührt, ein mehr als deutliches Zeichen, wie tief ihr erschöpfter Schlaf war.

„Mein Gott, die sind ja beide wirklich total am Ende.“ Nadeshda war ganz aufgewühlt.
Thiel nickte müde und fixierte seinen Kollegen noch eine Weile argwöhnisch, aber er regte sich nicht mehr, sondern lag ganz erschlafft und still.
„Kommen Sie, verschwinden wir hier“, wisperte er irgendwann und sogleich wandte Nadeshda sich zur Tür um.

In dem Moment, in dem sie den ersten Schritt gemacht hatten, tauchte Frau Klemm in Begleitung von Professor Jaschke im Türrahmen auf.
Kaum hatte die Staatsanwältin einen Blick auf ihre schlafenden Kollegen geworfen, entfuhr ihr ein staubtrockenes: „Na das wurde ja auch allerhöchste Zeit, dass die beiden endlich zusammen im Bett landen!“
Als Thiel ungläubig die Augen aufriss und Nadeshda neben ihm unterdrückt zu prusten begann, wurde Frau Klemm augenscheinlich erst bewusst, was sie da gerade gesagt hatte. Verlegen wie selten begann sie zu stammeln: „Also… das klang jetzt irgendwie… ich wollte nicht…“
Doch dann unterbrach sie sich, richtete sich zu ihrer vollen Körpergröße auf, verschränkte die Arme und funkelte sie herausfordernd an. „Ach kommen Sie! Ich habe doch Recht? Das war doch wirklich nicht mehr mit anzusehen.“

Sogar Jaschke schmunzelte ein wenig, und nun konnte Thiel sich ebenfalls ein nahezu lautloses Auflachen nicht mehr verkneifen. Er winkte begütigend ab. „Schon gut, Sie haben ja Recht. Es wurde wirklich allerhöchste Zeit.“

Jetzt breitete sich ein ehrliches Lächeln auch auf Frau Klemms Zügen aus und als Thiel einen Blick in die Runde warf, sah er in jedem Gesicht das, was auch er vor allen Dingen fühlte: Erleichterung.
Alles war gut. Gott sei Dank.
Aber was hatte passieren müssen, bis die zwei endlich realisiert hatten, dass sie ganz einfach zusammengehörten.

ENDE

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