Irgendwie hab ich vergessen, meine Geschichte "Münster. Ein Sommermärchen" bei meinem eigenen Journal reinzustellen :) da ich hier sonst eh kaum was zu posten habe, hole ich das hiermit nach. Vielleicht hat ja der eine oder andere auch lieber Lust, hier mitzulesen anstatt bei fanfiktion.de.
Rating: P12
Genre: Krimi, Humor
Handlung: Es ist Sommer im Jahr 2006, Deutschland ist im Fußballfieber. Boerne hat ein neues Hobby und Thiel will eigentlich nur in Ruhe Fußball schauen. Als es jedoch beim Public Viewing eine Leiche ohne erkennbare Todesursache gibt, müssen die beiden zur Tat schreiten...
Warnungen: Es gibt ein paar Morde, wer hätt's gedacht bei einem Krimi ;) aber nix Grausames.
Beta: Cricri
Disclaimer: Die Charaktere des Tatort Münster gehören nicht mir, sondern der ARD; und ich verdiene auch kein Geld damit.
A/N: Die Mordmethode habe ich vor ewigen Zeiten mal in irgendeinem Krimi gelesen, jetzt nochmal neu recherchiert und hier wiederverwendet. Die Fußball-Rahmenhandlung habe ich übrigens nicht aus „Zwischen den Ohren“ geklaut, sondern die war schon vorher so geplant :) Viel Spaß beim Lesen!
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Kapitel 1
Hauptkommissar Frank Thiel steckte hastig einen 20-Euro-Schein in die Hosentasche und griff nach seinem schwarz-rot-goldenen Schal, der an der Garderobe hing. Dann verließ er seine Wohnung und warf die Tür hinter sich zu, ohne sich die Mühe zu machen, noch extra abzuschließen.
Als er sich umdrehte und zur Treppe eilen wollte, fand er den Weg jedoch unversehens von einer großen Gestalt versperrt, die - wie üblich - tadellos in einen dunklen Anzug und Krawatte gekleidet war.
„Thiel! Sie wollen doch nicht etwa weg?!“
Innerlich stöhnte Thiel auf. Boerne hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt, wo er doch ohnehin in Eile war. Aus inzwischen langjähriger Erfahrung wusste er, dass wenn Boerne erst einmal zu reden anfing, es meistens ewig dauern würde, bevor er sich wieder loseisen konnte.
„Ich wüsste nicht, dass ich mich neuerdings bei Ihnen abmelden muss, Boerne. Was wollen Sie denn?“
Wahrscheinlich hätte er lieber nicht fragen sollen. Damit gab er dem redseligen Gerichtsmediziner ja geradezu eine Einladung, ihn wiedermal zuzutexten. Boerne ignorierte den genervten Unterton und schwenkte ihm stattdessen eine Flasche Wein vor dem Gesicht herum.
„Ich wollte Sie einladen! Zu einem Abendessen mit exzellentem Wein und - das Allerbeste - mit anschließender Filmvorführung...“ Er machte eine dramatische Pause. „... natürlich directed by Prof. Dr. Karl Friedrich Boerne.“
Thiel schnaubte ungläubig.
„Boerne, das ist jetzt nicht Ihr Ernst! Ich hab dermaßen die Nase voll von Ihren blöden Filmchen...“
Seit ungefähr zwei Wochen besaß Boerne nun sein neuestes Spielzeug, und zwar eine dieser HD-was-auch-immer-Videokameras mit allem Technik-Schnickschnack, den es für Geld zu kaufen gab. Und seit zwei Wochen lief er nun ständig mit dem Ding umher und hatte nichts Besseres zu tun, als es ständig den Leuten ins Gesicht zu halten, selbst hineinzuplappern und sich aufzuführen, als hätte er schon einen Oscar in der Tasche.
Thiel hatte sich bereits einmal breitschlagen lassen und eines von Boernes Kunstwerken über sich ergehen lassen (ein furchtbar ödes Video über die Geschichte der Stadt Münster). Allerdings auch nur, weil sein Kühlschrank zu der Zeit leer gewesen war und es bei Boerne doch immer ganz gute Sachen zu essen gab... es stand jedoch außer Frage, dass er sich dies nicht noch einmal antun würde.
„Und außerdem, in zehn Minuten ist WM-Achtelfinale, Deutschland gegen Schweden! Ich treff' mich gleich mit meinem Vater auf dem Domplatz... Und wenn Sie glauben, dass ich das verpasse, nur für einen von Ihren -“
„Sie gehen doch wohl nicht etwa zu diesem - neudeutsch so schön genannten - 'Public Viewing'?“, protestierte Boerne und sah ihn entgeistert an.
„Was glauben Sie denn, was ich sonst auf dem Domplatz will - beten vielleicht? Langsam sollten Sie ja doch wissen, dass ich Fußballfan bin.“
„Ich wusste nicht, dass sich Ihre Fußballverrücktheit auch auf etwas anderes erstreckt als auf ständig absteigende Vereine“, bemerkte Boerne spitz, „und abgesehen davon, wissen Sie eigentlich, dass der Begriff 'Public Viewing' eine Interferenz aus dem Englischen ist? Im anglophonen Sprachraum meint man damit nämlich die öffentliche Aufbahrung eines Toten; und somit...“
Doch Thiel hörte nicht mehr zu. Er drängte Boerne kurzerhand beiseite und eilte die Treppe hinunter, ohne seinem Nachbarn auch nur einen weiteren Blick zu schenken. Er hörte noch ein empörtes „Thiel!“ hinter sich, bevor die Haustür zuschlug.
Im Eiltempo fuhr er mit seinem Fahrrad Richtung Domplatz, wo die Stadt Münster eine enorme Videoleinwand hatte aufstellen lassen. Schon von weitem hörte er die Geräuschkulisse der zahllosen Menschen, die sich bereits versammelt hatten, um die deutsche Mannschaft anzufeuern. Selbst sein Vater, sonst nicht sonderlich an Fußball interessiert, hatte sich von der allgemeinen Feierstimmung anstecken lassen und wollte zum Public Viewing mitkommen. Wobei, wenn Thiel es sich recht überlegte, wollte der wahrscheinlich nur ein paar Bier auf Kosten seines Sohnes trinken und womöglich etwas von seinem Marihuana in der Menge verscherbeln...
Während er wie wild in die Pedale trat, sah er auf die Uhr und fluchte laut. Wegen Boerne hatte er jetzt schon den Spielbeginn verpasst! In diesem Moment klingelte sein Handy mit der vertrauten Melodie. Er zog es aus der Tasche und hoffte inständig, dass es nicht Nadeshda oder sonst jemand aus dem Polizeipräsidium sein würde - dann konnte er das Spiel vergessen. Am anderen Ende der Leitung war jedoch sein Vater.
„Junge, wo bleibst du denn? Es steht schon 1:0 für uns, der Podolski hat grad die Flanke von -“
„Ja Vaddern, is' gut“, unterbrach ihn Thiel und ärgerte sich immens, dass er nun offenbar auch noch ein Tor verpasst hatte, „ich bin ja gleich da!“
Zwei Minuten später bremste er scharf ab und schloss sein Fahrrad hastig an ein Verkehrsschild. Zum Glück hatte er mit seinem Vater einen eindeutigen Treffpunkt ausgemacht, denn in der riesigen Menge an Leuten, die sich auf dem Domplatz tummelte, hätte er ihn niemals gefunden. So eilte er nun zu einem Bierstand am Rande des Platzes, wo er seinen Vater auch schon mit einem Bierglas in der Hand an einem Plastik-Stehtisch antraf.
„Moin Vaddern“, begrüßte ihn Thiel und gab dem Mann hinter der Theke mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er das Gleiche trinken würde wie sein Vater.
„Ach, hallo Frank, da bist du ja endlich“, sagte Herbert, wobei er die Augen nicht von der Leinwand ließ. „Aber immer meckern, wenn ich mal nicht ganz pünktlich bin...“
„Boerne hat mich aufgehalten“, entgegnete Thiel mürrisch und nahm sein Bier in Empfang. „Außerdem kommst du gleich immer mindestens 'ne halbe Stunde zu spät und nicht bloß zehn Minuten.“
Die Antwort seines Vaters ging in diesem Moment jedoch im Gebrüll der Menge unter, als die deutsche Mannschaft bereits das 2:0 erzielte. Für die nächste halbe Stunde war nun auch Thiels Aufmerksamkeit vollends auf das Spiel gerichtet. Während der Halbzeitpause drängten sie sich, auf Herberts ständige Klagen hin, er könne von seinem Platz aus kaum etwas sehen, in die für kurze Zeit etwas lichter werdende Menge.
***
Während Thiel und sein Vater noch versuchten, einen besseren Platz zu ergattern, hatte die 23-jährige Studentin Sandra Krupp ihn bereits gefunden. Als das Spiel in diesem Augenblick zur zweiten Halbzeit angepfiffen wurde, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und versuchte, ihre Freundin Katja zu erspähen, die zehn Minuten zuvor in der Pause losgezogen war, um neue Getränke zu holen. Allerdings waren natürlich hunderte andere Leute auf den gleichen Gedanken gekommen, weshalb es Sandra nicht wunderte, dass Katja noch nicht zurück war.
Sie gab es auf, nach ihrer Freundin Ausschau zu halten, und konzentrierte sich wieder auf das Spiel. Als großer Fußballfan hatte sie es sich nicht nehmen lassen, hierher zum Public Viewing zu kommen, um der deutschen Mannschaft gemeinsam mit halb Münster bei ihrem Spiel zuzusehen.
In dem Moment, als die Menge empört aufbrüllte, weil der Schiedsrichter soeben den Schweden einen Foulelfmeter zugesprochen hatte, spürte Sandra, wie sich von hinten ein Arm um sie legte und sie eisern festhielt.
„Was zum...“, brachte sie noch heraus, während ihr die Luft wegblieb.
Während sie erfolglos versuchte sich umzudrehen, fühlte sie, dass sie etwas hinten im Nacken zwischen den Haaren kurz und heftig stach. Sie wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton heraus. Immer noch hielt irgendjemand sie fest wie in einem Schraubstock, während die Leute um sie herum, die Aufmerksamkeit voll und ganz auf das Spiel gerichtet, lauthals den deutschen Torwart anfeuerten.
Im dem Augenblick, als der schwedische Schütze anlief, um den Strafstoß auszuführen, löste sich der Griff um Sandras Oberkörper. Einen kurzen Moment lang schwankte sie auf der Stelle, bevor sie leblos zu Boden fiel.
Sandra Krupp bekam nicht mehr mit, wie Schweden den Elfmeter verschoss.
***
Inzwischen standen Thiel und Herbert näher an der Leinwand, allerdings nun auch gequetscht zwischen tausenden Leuten.
„Na, jetzt zufrieden?“, brummte Thiel. Sein Vater mochte jetzt vielleicht mehr sehen, er selbst hatte allerdings einen Kerl vor sich, der locker 1,90 m groß war und ihm damit die Sicht größtenteils versperrte.
„Ja, das ist viel besser!“, gab Herbert begeistert zurück und ließ den Blick über die Menge schweifen. „Hach, so viele Menschen, und so eine tolle Stimmung... weißt du, Junge, ich fühl' mich fast wie anno '68! Wenn die Leute jetzt noch richtig für was demonstrieren und auf die Straße gehn würden - so wie wir, als wir damals...“
„Ach Vaddern, jetzt lass doch mal gut sein, ich will grad wirklich keine deiner alten Geschichten hören“, nörgelte Thiel, während er den Kopf so weit wie möglich nach links reckte, um etwas vom Spiel sehen zu können. Er brüllte empört mit der Menge auf, da die Schweden in diesem Moment einen Elfmeter zugesprochen bekamen.
Als der deutsche Torwart den Strafstoß hielt und Thiel begeistert mit den anderen applaudierte, bemerkte er jedoch aus dem Augenwinkel, dass sich schräg links von ihm offenbar ein kleiner Tumult entwickelte - mehrere Leute waren dort vor etwas zurückgewichen, einige gestikulierten wild, und jemand rief laut vernehmlich:
„Holt einen Arzt! Schnell!“
Thiel vermutete, dass sich irgendwelche Betrunkenen in die Haare bekommen und verletzt hatten. Er zögerte einen Moment, doch dann gewann der Polizist in ihm die Oberhand.
„Bin gleich wieder da“, sagte er zu seinem Vater und drängte sich zu dem Tumult durch. „Machen Sie mal Platz... lassen Sie mich bitte durch... ich bin von der Polizei...“
Endlich hatte er die Stelle erreicht und sah zu seiner Verwunderung, dass es sich keineswegs um Betrunkene handelte, sondern dass eine junge Frau offenbar leblos auf dem Boden lag. Ein Mann war bereits mit Wiederbelebungsmaßnahmen beschäftigt. Eine zweite junge Frau, die von mehreren Umstehenden energisch zurückgehalten wurde, war vollkommen hysterisch und wollte offensichtlich unbedingt zu ihrer bewusstlos daliegenden Freundin.
In diesem Moment drängten sich bereits ein Rettungsteam und drei Polizisten in Uniform zu dem Kreis vor, der sich um die leblose Frau gebildet hatte. Während die Helfer sofort zur Tat schritten, zückte Thiel seinen Dienstausweis und drängte gemeinsam mit seinen Kollegen die Menge zurück.
„So, sie gehen jetzt ein Stück zurück, alle miteinander! Hier gibt’s nichts zu sehen... Lassen Sie dem Arzt Platz, um zu arbeiten... Sie auch, junge Dame...“
Thiel zog die hysterische Frau ein Stück beiseite und fragte: „Was ist denn passiert, Frau...?“
„Katja Lehmann“, schluchzte sie. „Ich weiß es doch nicht! Ich bin gerade vom Getränkeholen zurückgekommen; und als ich noch zwei Meter oder so von Sandra weg war, ist sie plötzlich einfach zusammengeklappt... bis ich dann bei ihr war, hat sie schon nicht mehr geatmet.“
„Vielleicht hat sie einfach zu wenig getrunken?“, fragte Thiel vorsichtig. „Oder zu viel?“
„Nein, hat sie nicht“, entgegnete Katja Lehmann, wischte sich die Augen und sah ihn jetzt fast empört an. „Sandra mag überhaupt keinen Alkohol. Und sie hat schon zwei Becher Wasser getrunken, seitdem wir hier sind...“
„Okay“, sagte Thiel beschwichtigend und sah sich nach der bewusstlosen Freundin um. Zu seiner Bestürzung sah er, dass das Rettungsteam soeben seine Geräte zusammenpackte und dass der Notarzt eine Decke über die junge Frau breitete.
„Warten Sie bitte hier“, sagte er hastig zu Katja Lehmann und ging davon, um den Notarzt anzusprechen. Er zeigte ihm seinen Dienstausweis und fragte dann: „Was ist passiert?“.
„Ehrlich gesagt, wissen wir das nicht“, antwortete der und sah ihn etwas betreten an. „Sie war schon tot, als wir ankamen. Sieht fast aus wie ein Herzstillstand... was aber sehr ungewöhnlich wäre für eine Frau ihres Alters. Auf den ersten Blick scheint sie jedenfalls keine Probleme mit dem Herz gehabt zu haben.“
„Also eine unnatürliche Todesursache?“, stellte Thiel fest.
„Auf jeden Fall eine ungeklärte Todesursache, würde ich sagen“, entgegnete der Notarzt und griff nach seiner Tasche. „Schönen Abend noch.“
„Hmm“, brummte Thiel; er war bereits damit beschäftigt, Boernes Nummer in sein Handy zu tippen. Vom Fußballspiel hatte er sich innerlich bereits verabschiedet.
Kapitel 2
Wie Thiel vorausgesehen hatte, war Boerne beleidigt. Erst ging er ewig überhaupt nicht ans Telefon, und als er dann gnädigerweise doch abnahm, bedurfte es einiger Überredungskunst - sowie der Drohung, zukünftig nur noch Frau Haller zu benachrichtigen -, bis Boerne auf dem Domplatz erschien.
Nach kurzer Untersuchung der Leiche hatte auch er dem Vorgang eine ungeklärte Todesursache attestiert, womit nun offiziell eine Obduktion stattfinden würde. Deshalb führte Thiels erster Weg am nächsten Morgen in die Gerichtsmedizin, wo er jedoch zunächst nicht wie erwartet Boerne, sondern eine ziemlich große, kräftig gebaute Frau Mitte Zwanzig im Laborkittel antraf. Kaum dass er durch die Tür getreten war, versperrte sie ihm den Weg.
„Darf ich fragen, wer Sie sind, und was Sie hier wollen?“, sagte sie mit rauer Stimme und beäugte ihn misstrauisch. Mit ihren kurzen, braunen Haaren und einer Hornbrille auf der Nase machte sie einen burschikosen, fast maskulinen, aber auch zupackenden Eindruck.
„Wer sind Sie denn?“, gab Thiel irritiert zurück. „Und wo ist Professor Boerne?“
Die Frage erübrigte sich allerdings, da der Gesuchte in diesem Moment aus seinem Büro trat. Obwohl er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen sein musste, um die Autopsie durchzuführen und es zudem noch Sonntag war, schien er geradezu vor Energie zu sprühen.
„Schönen guten Morgen, Herr Thiel!“ sagte er beschwingt und wandte sich dann an die Frau im Laborkittel. „Na na, Theresa, jetzt seien Sie mal nicht so streng zu meinem Nachbarn, der verhaftet Sie sonst noch - nebenbei ist er nämlich noch Hauptkommissar bei der Kripo...“
„Aha“, sagte die junge Frau und warf Thiel einen missmutigen Blick zu. „Ich geh mal wieder an die Arbeit.“ Damit verschwand sie im hinteren Teil des Obduktionssaales.
Boerne bemerkte Thiels Blick und während sie in sein Büro gingen, sagte er halblaut: „Theresa Niemeyer, Medizinstudentin im soundsovielten Semester und unsere neue Obduktionsassistentin. Sie ist ziemlich kratzbürstig und fast so wortkarg wie Sie, aber während Alberich im Urlaub ist, habe ich dringend jemanden gebraucht. Und ihre Arbeit erledigt sie bisher ganz ordentlich...“
Er schloss die Bürotür hinter ihnen und fügte hinzu: „Übrigens, äußerst interessanter Fall, den Sie mir da verschafft haben, das muss ich Ihnen schon lassen.“
„Ich hab Ihnen gar nichts verschafft“, raunzte Thiel und gähnte. „Und wieso sind Sie eigentlich immer so putzmunter und fidel? Sie brauchen wohl keinen Schlaf?“
„Also bitte, mein lieber Thiel, ich kann doch nicht schlafen, wenn ich einen so spannenden Fall auf dem Tisch habe“, gab Boerne munter zurück. „Ansonsten sollte ich vielleicht doch mal in Ihre Wohnung ziehen, dort scheint man ja stets bestens zu schlafen...“
„Gott bewahre“, murmelte Thiel. Das letzte Mal, als Boerne sich einfach zu seinem Mitbewohner erklärt hatte, war ihm noch zu deutlich in Erinnerung. Er gähnte erneut und bemerkte dabei, dass Boernes neue Videokamera auf einem Stativ in der Ecke des Büros stand.
„Nehmen Sie das Ding jetzt schon zur Arbeit mit?“, fragte er ungläubig.
„Ja, wieso denn nicht?“, entgegnete Boerne gelassen. „Ich habe die gestrige Autopsie aufgezeichnet, zu Lehrzwecken. In meinen zukünftigen Vorlesungen an der Universität wird das die neueste -“
„Von wegen 'zu Lehrzwecken'“, unterbrach ihn Thiel trocken. „Sie wollen sich doch nur selbst reden hören und dann auch noch Ihre armen Studenten mit den Filmchen quälen... Könnte Ihre allseits fähige Kamera Ihnen denn in Zukunft vielleicht gleich die Obduktion abnehmen?“
„Wollten Sie eigentlich irgendwas Spezifisches von mir, Thiel, oder sind Sie nur hergekommen, um unqualifizierte Bemerkungen zu machen?“
Thiel beschloss, es erst einmal mit weiteren verbalen Spitzen gegen den Herrn Professor gut sein zu lassen. „Na schön, was haben Sie denn jetzt herausgefunden über die Tote?“
„Nichts.“
Für einen Moment herrschte Stille.
„Wie, 'nichts'?“, sagte Thiel schließlich verständnislos.
„'Nichts' heißt 'nichts', ganz einfach. Den Todeszeitpunkt wissen Sie ja wohl selbst am besten... Sie müssen sich nur an die korrekte Spielminute erinnern“, fügte Boerne mit einem leicht boshaften Grinsen hinzu.
„Was die Todesursache angeht, dazu kann ich Ihnen eben 'nichts' sagen. Sandra Krupp wurde weder erstickt, noch vergiftet, noch erstochen, noch sonst was. Keine Einstichstellen, keine Gewaltanwendung, keine Krankheiten. Sie ist ganz einfach tot, ohne jeden ersichtlichen Grund. Und daraus, Thiel, besteht in diesem Fall das Interessante.“
„Aber das kann doch nicht - Sie müssen doch irgendwas feststellen können, Boerne! Sie wird ja wohl kaum vor Schreck über das Spiel gestorben sein...“
Die Tatsache, dass der sonst so verlässliche Gerichtsmediziner ihm diesmal keine Ergebnisse liefern konnte oder wollte, traf Thiel völlig unerwartet.
„Ich muss zugeben, dass dieser Fall selbst für mich... nun ja, sagen wir, Neuland darstellt“, sagte Boerne gönnerhaft, „Schließlich ist es mir bisher noch immer gelungen, die Todesursache zu ermitteln. Das ist meistens der einfachste Teil der ganzen Obduktion.“
Thiel starrte ihn an. Es kam höchst selten vor, dass Boerne zugab, etwas nicht zu können - auch wenn er es beschönigend mit „Neuland“ umschrieben hatte.
„Und nun? Jetzt weiß ich ja nicht mal, ob ich in diesem Fall ermitteln darf - wenn Sie mir nicht einmal sagen können, ob es sich überhaupt um Mord handelt!“
„Da kann ich Sie beruhigen, Thiel - mein Bauchgefühl sagt mir eindeutig, dass hier jemand seine Finger im Spiel hatte.“
„Na toll“, sagte Thiel sarkastisch, „Frau Klemm wird bestimmt auch sofort überzeugt sein von Ihrem Bauchgefühl...“