Mehr als zwei Wege, einen Pullover auszuziehen

Sep 28, 2011 00:13



Seit seinem letzten Fall lässt ein Gedanke Thiel nicht mehr los. Siehe Titel. - Eine Szenensammlung.

Rating: R
Wörter: ~ 8.300
Warnungen: Slash. Spoiler für „Zwischen den Ohren“. Hat keinen Plot, bloß ein Thema. Etwas experimentell.

Disclaimer: Mir gehört hier nichts; es ist bloß Fanfiction und ich verdiene nichts daran.
Beta: Lieben Dank an nipfel, die sich trotz einer ereignisreichen Woche Zeit fürs Betalesen genommen hat!

Mehr als zwei Wege, einen Pullover auszuziehen

… but when you are not a girl
nobody buys you flowers

(Emilie Simon, „Flowers“)

Nach dem Fußballspiel lief eine Tierdoku, in der es um homosexuelle Möwen ging. Das Spiel hatte Thiel schon mindestens dreimal gesehen, leider bloß nie am Stück. Die Tiersendung auch: immer Ausschnitte, nie den gesamten Film. Es ging nicht bloß um die Möwen. Es ging um die erstaunliche Vielfalt an Lebewesen auf Mutter Erde. Sonderbare Hechte wurden vorgestellt, gemächliche Wildschweine, der Kinder bringende Klapperstorch, Kühe mit eingebautem Kompass im Kopf. Er ließ die Sendung laufen; alles war besser als das übliche Abendprogramm.

Thiel aß Tortellini, las die langweiligen Interviews in der Fernsehzeitung und blickte nur ab und an zum Bildschirm auf. „Ein ungleicher Kampf“, kommentierte der Dokusprecher oder „die komplexen Tonfolgen gehören zum Balzverhalten der meisten Singvögel“ oder „das Liebesspiel zwischen dem Spinnenpärchen endet mit dem Tod des Männchens“.

Dann war der Tortellinitopf leer, das Spinnenmännchen tot und die Möwen hatten ihren Auftritt. Majestätisch segelten sie über Sand und Dünengräser hinweg. Homosexuelle Möwen, wie im Film behauptet wurde. Angeblich sei jedes zehnte Pärchen gleichen Geschlechts. Angeblich.

„Oft bauen schwule Paare sogar Nester“, erklärte der Dokusprecher, „und ziehen dort den verstoßenen Nachwuchs ihrer heterosexuellen Kollegen auf.“ Auf dem Bildschirm räkelte sich ein graues Vogeljunges in seinem Nest. Die Eltern saßen daneben, den Blick stoisch in die Ferne gerichtet - Männchen oder Weibchen, diese Möwen sahen doch alle gleich aus. Vielleicht log der Dokusprecher einfach.

Das Möwenjunge sah aus wie ein kleines, flauschiges Kissen, mit dunklen Knopfaugen. Vergnügt piepste es vor sich hin und schlug mit den Stummelflügelchen, als wolle es abheben. Abwechselnd wurde es von den beiden Möwenpapas mit Fischresten gefüttert und wenn das Junge sich erhob, schubsten sie es unter sanften Schnabelstößen ins gemeinsame Nest zurück.
Thiel schaltete den Fernseher aus und griff wieder nach der Zeitung.

*

„Guten Morgen!“, rief Nadeshda heiter, als Thiel in sein Arbeitszimmer geschlichen kam.
Thiel brummte eine Antwort, während er sämtliche Fenster aufriss. Die Luft im Raum stand. Zwar war die Heizung seit Wochen repariert, aber nun näherte sich die heiße Jahreszeit mit Riesenschritten. Der Sommer stand vor der Tür. Nadeshda hatte heute den Pullover zuhause gelassen, stattdessen trug sie eine leichte, grünfarbene Sommertunika über ihrer Jeanshose.

Thiel ließ sich in seinen Bürostuhl sinken und begann mit der Arbeit. Es war eintönig. Nach zwei Stunden flimmerte der Computerbildschirm vor seinen Augen und Thiel blickte müde in Nadeshdas Büro herüber. Er sah ihr beim Arbeiten zu, starrte auf ihre grünfarbene Sommertunika, bis seine Augen sich wieder entspannten. Nadeshda saß zurückgelehnt in ihrem Stuhl. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und feilte ihre Fingernägel, blickte abwechselnd zum Computerbildschirm, zur Uhr, auf ihre Hände. Thiel überlegte, ob er sie ermahnen sollte, sich lieber mit der Arbeit als mit der Nagelfeile zu beschäftigen. Aber das wäre heuchlerisch gewesen, wo er doch selbst nicht arbeitete.

Um ein Uhr ging Nadeshda in die Mittagspause, mit einem Lächeln auf den Lippen und vermutlich bis zur Perfektion gefeilten Fingernägeln. Ihre Tasche nahm sie mit. Sie wirkte glücklich.

Thiel hielt es noch eine Viertelstunde länger vor dem Computer aus, dann stand er auf, schlurfte auf den Gang hinaus und stattete dem Kaffeeautomaten einen Besuch ab.

„Gibt’s Neuigkeiten vom Bikerclub, von diesen Wotan Wolves?“, fragte die Klemm, als er ihr im Flur begegnete.

„Nein“, sagte Thiel. „Nichts Neues.“

Das Gesicht der Klemm verdüsterte sich. „Ich hoffe, Sie kriegen diese Bande irgendwann dran, Thiel. Bleiben Sie am Ball. Solche Kerle sollten nicht frei herumlaufen, solange wir für diese Stadt verantwortlich sind.“

High Noon in Münster. Thiel sah plötzlich die Klemm vor sich, wie sie durch die Saloontür trat, komplett mit silbernem Sheriffstern auf der Brust und einem schwarzen Westernhut, den sie tief in der Stirn trug. Solange wir für diese Stadt verantwortlich sind, Amigo. „Klar“, sagte er, „mach ich“, und dann wandte er sich hastig ab, damit sie sein Grinsen nicht sah.

*

Wenn Thiel abends nach Hause kam, dann wartete niemand auf ihn. Er saß vor dem Fernseher, schaute Spielfilme und beschäftigte sich mit dem Leben anderer Leute, bis es Zeit fürs Bett war. Es war nicht so schlimm. Man gewöhnte sich an alles, auch an die Einsamkeit.

Er hatte immer geglaubt, für die Zweisamkeit bräuchte es einen besonderen Anlass. Eine Fallbesprechung, zum Beispiel, oder auch eine Feier unter Brüdern, wenn einer von ihnen einen Preis verliehen bekam. Bis vor kurzem war er nie auf die Idee gekommen, einfach anzurufen und zu fragen. So leicht war das. Seitdem er es einmal getan hatte, war seine Hemmschwelle beträchtlich gesunken. Anscheinend machte Zweisamkeit sehr schnell süchtig.

Einfach anrufen und fragen.

Damit nahmen die gelegentlichen Treffen ihren Anfang.

*

Die Treppenstufen vor dem anatomischen Institut waren warm. Sie hatten die Sonnenwärme des Morgens gespeichert, die nun langsam durch den Stoff von Thiels Jeanshose in seinen Körper sickerte. Während er wartete, beobachtete er ein paar Eidechsen, die es ihm gleichtaten: sie lagen auf den steinernen Stufen und freuten sich am schönen Wetter.

Dann veränderte sich etwas. Die Türen des Gebäudes schwangen auf, Menschen kamen heraus. Studenten, manche in kleinen Gruppen, manche alleine, in der Hand einen Stapel Bücher oder einen Becher mit Kaffee. Lautes Stimmengeschwirr lag in der Luft. Auf der Wiese gegenüber dem Gebäude wurden Decken ausgebreitet, einige der jungen Leute setzten sich auch einfach so ins Gras. Gelächter drang zu Thiel herüber. Die Eidechsen krochen zurück in die Mauerritzen.

Der Vormittag war kühl gewesen, aber jetzt strahlte die warme Mittagssonne am Himmel. Wer eine dünne Jacke über seinem Hemd trug, zog sie aus. Schlappen und unbequeme Sandalen landeten im Gras, auf der Wiese konnte man barfuß laufen. Vorne an der Mauer saß eine Gruppe junger Frauen, von denen eine sich sogar das T-Shirt über den Kopf zog - nein, es war ein Mann, er griff mit beiden Armen in den Nacken und zerrte das Shirt nach vorne über den Kopf, dann warf er es zu seiner Tasche, die noch auf der Mauer lag. Lachend schloss er sich einer Gruppe von Frisbeespielern an. Thiel beobachtete das bunte Treiben einen Moment. Er fühlte sich unwohl und fehl am Platz, wie ein Mehlsack zwischen quirligen Mäusen.

„Na, Thiel? Leben Sie Ihre voyeuristische, dunkle Seite jetzt bei der Beobachtung von Campusschönheiten aus?“

Thiel sah auf. „Sehr witzig, Boerne.“

„Sie wissen doch, jung sein ist schön, alt sein bequem. Wollen Sie nicht aufstehen? Und dann könnten Sie mir endlich verraten, wohin Sie mich entführen wollen. Sie sind in letzter Zeit auffallend anhänglich - haben die warmen Temperaturen etwa Frühlingsgefühle bei Ihnen ausgelöst?“

Thiel hörte ihm nicht zu. In eben diesem Moment war eine der Studentinnen dabei, den Pullover auszuziehen, die sie über ihrem langärmeligen Hemd trug. Auf die weibliche Art, die Arme in einem umständlichen Knoten vor der Brust gekreuzt. Es stimmte. Es stimmte wirklich.

„Thiel?“ Boerne beugte sich leicht zu ihm herab und beschattete die Augen mit der Hand, um seinem Blick zu folgen. „Wen starren Sie denn die ganze Zeit an?“

„Studentinnen“, murmelte Thiel.

„Also doch.“

„Und Studenten.“ Er stand auf. „Können wir?“

„Ich wusste ja nicht, dass Sie so … vielfältig interessiert sind.“ Boernes Blick wanderte von seinen frisbeespielenden Studenten zu Thiel und er sah ihn mit gerunzelter Stirn und einer Spur von Neugier an. Dann hob er die Schultern. „Aber gerne. Ganz wie Sie möchten, Thiel.“

*

„Ich hätte ja nie gedacht, dass ich das jemals irgendwie zu Ihnen sagen würde, aber …“

„Sie möchten nicht alleine sein?“

„… mögen Sie meine Sahne?“ Thiel schob seine Kaffeetasse von sich. „Ich hasse es, wenn die mir Sahne auf den Kaffee machen.“

*

Thiel sah sie vor dem Rathaus. Sie trug die langen, braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Über ihrer Schulter baumelte der Trägergurt ihrer Sporttasche, aus der eine Flasche Mineralwasser und ein dünner Schal hervorlugten. Thiel bremste sein Fahrrad ab, er hielt sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war fast zwei Monate her, dass er ihre komplette Familie verhaftet hatte: Vater, Mutter und der vielgeliebte Bruder. Danach hatte er nur noch einmal mit ihr gesprochen, ihr alles erklärt, ihr viel Glück gewünscht - er war sich dabei furchtbar unsensibel vorgekommen.

Jetzt las sie die Zeitungsaushänge, die an der Außenwand neben dem Rathaus hingen. Den Sportteil, soweit er das von seiner Position aus erkennen konnte. Obwohl ihr Bild groß in der Zeitung gewesen war, schien keiner der vorbeikommenden Passanten sie zu erkennen. Eigentlich nicht verwunderlich. Denn eigentlich sah sie aus wie ein ganz normales Mädchen. Was sie ja auch war, schalt er sich selbst.

„Können Sie bitte Du zu mir sagen?“, hatte sie ihn gefragt.

Thiel überlegte, ob er sie einfach ansprechen sollte. Er hätte gerne gewusst, wie es ihr ging. Aber im Grunde kannten sie sich kaum. Er war fast fünfzig, sie erst siebzehn, und sie hatten nichts gemeinsam außer diesem verkorksten Fall, in dem er der Polizist gewesen war und sie das Opfer.

Langsam schob er sein Fahrrad über die Straße, auf die Zeitungsaushänge zu. Vor dem Wetterbericht hielt er an und tat so, als betrachte er die Temperaturvorhersage der nächsten Tage.

„Herr Thiel?“

Er wandte sich um. „Ach. Hallo, Nadine“, sagte er in überraschtem Tonfall. „Auch keine Lust, Geld für die Zeitung auszugeben?“

Sie lächelte. Es schien sie ehrlich zu freuen, ihn zu sehen.

„Na ja“, sagte Thiel, im Versuch, ein Gespräch zu beginnen. „Muss man ja auch nicht, wenn sie hier umsonst hängt, nicht?“

„Ich hab noch nie eine Zeitung gekauft“, antwortete sie.

„Ah so“, meinte Thiel. „Alles online, heutzutage, was?“

Nadine schüttelte den Kopf. Sie zögerte. „Es gibt viele Artikel, die ich nicht so gerne lese. Wenn ich die Zeitung hier anschaue, muss ich sie wenigstens nicht mit nach Hause nehmen. Dann trage ich solche Artikel nicht überall mit mir herum.“

„Tja.“ Lächelnd hob er die Schultern. „Ist auch ’ne Methode.“

Sie wandte den Blick wieder ab und sah auf das Zeitungsblatt, das vor ihr auf der anderen Seite der Glasscheibe hing. „Manchmal sage ich etwas in den Interviews und in der Zeitung wird es total verdreht. Und dann definieren sie dich nur noch über diesen einen falschen Satz.“

Thiel erinnerte sich an so einige Pressekonferenzen. „Das kenn ich. Über ’nen falschen Satz oder ’ne falsche Geste oder ungebundene Schnürsenkel, denen fällt immer was ein. Aber sind ja nicht alle so“, fügte er schnell hinzu.

„Stimmt.“

Eine kurze Pause entstand und Thiel überlegte, ob er sie fragen konnte, wie es ihr ging. Oder irgendetwas anderes, um sie von dem Thema Presse anzulenken. Er hatte den Artikel gelesen über die Verhaftung ihrer Familie, hatte das alte Archivfoto von Nadine gesehen, das sie daneben gesetzt hatten. Tragödie um das Tennistalent aus Münster. Ob sie weiterspielen durfte, hatte der Verband noch nicht entschieden. Nadine schon.

Sie rückte ihre Tragetasche zurecht. „Drücken Sie mir die Daumen am Samstag?“

„Was ist am Samstag?“, fragte Thiel.

„Da hab ich ein Freundschaftsspiel. Ich habe gedacht, nach allem, was passiert ist …“

„Tennis ist immer noch das geilste Spiel der Welt“, vermutete Thiel.

Sie nickte. „Aber klar.“

„Ich schau dir im Fernsehen zu“, versprach Thiel. „Und drück die Daumen, logisch! Das ganze Spiel über.“ Er grinste aufmunternd. „Das schaffst du schon. Glaub einfach ganz fest an dich.“ Es war eine Allerweltsweisheit und selbst als er sie aussprach, kam sie ihm platt vor.

Aber Nadine lächelte. „Danke, Herr Thiel“, sagte sie.

*

Mit leisem Klappern fiel die Haustür hinter ihm ins Schloss. Thiel wechselte die Plastiktüte mit den Einkäufen in die andere Hand, um die Schlüssel einzustecken. Jede Bewegung weckte das schlechte Gewissen, er spürte den kühlen, steifen Stoff seines neuen Hemds auf der Haut und der Kragen kitzelte seinen Hals. Es war nicht gerade billig gewesen, das Hemd. Leinenstoff, hellblau, sorgsam verarbeitet, ganz anders als seine sonstige Kleidung, die eher einfach und praktisch (und vor allem billig) ausfiel. Er erinnerte sich an sein Spiegelbild in der Umkleidekabine: wie ein Fremder hatte er ausgesehen, neu, adrett, strahlend. In diesem kurzen Moment war er sich attraktiv und unternehmungslustig vorgekommen. Beim Bezahlen hatte er sogar ein wenig mit der hübschen Kassiererin geflirtet.

Mittlerweile war der seltsame Moment verflogen und er kam sich einfach nur noch albern vor. Was hatte ihn geritten, sich dieses Ding zu kaufen? Bei der Arbeit würde er es ohnehin nicht anziehen und für die Freizeit hatte er seine St.-Pauli-Shirts.

Weiter oben im Treppenhaus schlug eine Tür zu. Thiel hob den Kopf. Boerne kam ihm entgegen, in eleganter Sportkleidung, das Golfcap in die Stirn geschoben. Mit der einen Hand zog er sein Golfbag die Treppe hinab, in der Hand hielt er ein hohes Glas, halbvoll mit Kaffee. Während er die Treppe hinunter eilte, trank er einen Schluck und versuchte dabei gleichzeitig, einen Blick auf seine Uhr zu werfen. Die Golfschläger, die aus der Tasche herausragten, klapperten bei jedem seiner Schritte.

„Tag“, murmelte Thiel und drückte sich an der Wand entlang.

„Tag“, antwortete Boerne zerstreut. Dann erkannte er Thiel und blieb wie angewurzelt mitten auf der Treppe stehen. Mit weiten Augen starrte er seinen Nachbarn an.

„Ähm“, sagte Thiel peinlich berührt und wünschte sein Hemd auf irgendeinen Kleiderbügel, Meilen von ihm entfernt. „Wollen Sie zum Golf?“

Boerne, der mit den Augen die Knopfleiste von Thiels Hemd entlang gewandert war, blinzelte verwirrt und sah ihm wieder ins Gesicht. „Ja, genau - gut erkannt, Thiel, ja … scharfe Beobachtungsgabe.“ Er lächelte angestrengt. „Kleines Trainingsspiel unter Freunden, wissen Sie, Peukert braucht ein wenig Nachhilfe mit dem Driver, Abschätzung der Schlagweite und so weiter.“ Er gestikulierte mit seinem Kaffeeglas in der Luft herum. „Also, ähm … ich bin spät dran -“

„Ja, dann …“, sagte Thiel schnell.

„Ja, bis … bis heute Abend, Thiel.“ Boerne trat an ihm vorbei, aber statt auf seine Füße zu achten, klebte er mit dem Blick noch immer an Thiel. Vermutlich war das der Grund, warum er plötzlich das Gleichgewicht verlor und auf der Treppe ausrutschte. Thiel riss instinktiv die freie Hand hoch, packte Boerne am Arm und zog ihn an sich. Die Golfschläger schlugen gegeneinander, Boerne schnappte nach Luft und klammerte sich an ihm fest und das Erste, was Thiel spürte, war das Gefühl von Boernes warmem, schwerem Körper, der sich unerwartet an ihn drückte. Das Zweite, was er spürte, war der feuchte Kaffeefleck auf seinem neuen Hemd.

„Thiel!“ Boerne stieß ihn von sich. Kaffee tropfte auf den Boden, unter ihren Füßen hatte sich bereits eine Flüssigkeitslache gebildet und Boerne machte einen vorsichtigen Schritt zur Seite. „Na fabelhaft!“, rief er. „Wie seh ich denn jetzt aus?“

Thiel schüttelte den nassen Saum seines Hemds aus. Bekam man Kaffeekleckse aus Leinen wieder heraus? Er hätte verärgert sein sollen, aber der leichte Rotschimmer auf Boernes Wangen entschädigte für alles. Außerdem sah Boernes Kleidung auch nicht viel besser aus: auf seinem graublauen Pullunder prangte ein riesiger, dunkler Fleck. Angewidert sah Boerne an sich herab. „Jetzt komme ich ganz sicher zu spät“, schimpfte er.

„Es war Ihr Kaffee“, erinnerte Thiel ihn vorsorglich.

„Wenn Sie mir mitten auf der Treppe um den Hals fallen -“

„War ja klar, dass Sie mir wieder die Schuld dafür geben.“

Boerne verdrehte die Augen. „Falls ich irgendwann einmal aus dem Haus gehen kann, ohne von Ihnen verbrüht, umgerempelt, misshandelt oder verbal schikaniert zu werden, dann erkläre ich diesen Tag stante pede zu einem nationalen Feiertag.“

Thiel musste lächeln. „Das wird vermutlich mein Todestag sein, Boerne.“

„Umso besser. Fühlen Sie sich geehrt.“ Boerne warf einen Blick auf seine Uhr, dann streifte er das Golfbag von seiner Schulter und drückte es Thiel in die Arme. „Da, nehmen Sie das und folgen Sie mir. Ich muss mich umkleiden.“ Er wandte sich ab.

„Jetzt?“ Thiel schulterte das Golfbag und folgte Boerne. „Sie hatten’s doch eilig.“

„So kann ich wohl kaum auf dem Golfplatz erscheinen“, sagte Boerne. Er öffnete seine Wohnungstür und eilte hinein, Kaffeeglas und Haustürschlüssel ließ er auf der Kommode neben der Tür zurück. Thiel betrat die Wohnung nur zögerlich.

„Können Sie Peukert anrufen?“, fragte Boerne von der anderen Seite des Wohnzimmers. „Die Nummer ist in dem kleinen Büchlein neben dem Telefon.“

„Machen Sie das lieber selbst“, meinte Thiel und stellte das Golfbag neben der Kommode ab. Er blieb an der Tür stehen und beobachtete Boerne, der geschäftig durchs Wohnzimmer schritt, an einem Handtuch die Finger trocknete, nach dem frischen Hemd griff, das auf einem Bügel an der Küchentür hing, dabei unablässig redend: „ … sagen Sie ihm einfach, es dauert eine Weile - wenn er fuchsig wird, erinnern Sie ihn daran, dass er selbst andauernd zu spät kommt …“ und so weiter.

Thiel warf einen Blick auf das Notizbüchlein neben dem Telefon. Ihm war nicht wohl dabei, Boernes private Anrufe zu erledigen. Die Szene im Treppenhaus reichte ihm vorerst an Peinlichkeiten - warum hatte er bloß dieses aufdringlich feine Hemd gekauft? Und warum musste es ausgerechnet Boerne sein, der ihm im Hausflur über den Weg lief? Er hätte nie gedacht, dass er sich in einer Begegnung mit seinem immer korrekt gekleideten Nachbarn einmal overdressed fühlen würde. Thiel drehte sich wieder zu Boerne um. „Mal ehrlich, ich hab keine Lust mit diesem Pfeffersack von einem -“, und mitten im Satz brach er ab.

Boerne überkreuzte die Arme, griff mit beiden Händen nach dem Saum seines Pullunders und zog. Zog den Stoff über seine Arme, über seine Schultern, über seinen Kopf, die Innenseite des Kleidungsstücks nach außen gekehrt, bis sein Gesicht wieder zum Vorschein kam. Seine Brille saß ein wenig schief.

Thiel starrte.

„Was denn?“, fragte Boerne. Dann blickte er auf den Pullunder, den er nun in den Händen hielt, linksherum gedreht, die Nähte außen - und erkannte, was er falsch gemacht hatte.

Thiel öffnete den Mund, aber ausgerechnet in diesem Moment wollte ihm kein dummer Kommentar einfallen.

Boerne schnaubte nervös. „Thiel, kommen Sie! Jetzt erzählen Sie mir nicht, dass Sie diesen Unsinn mit dem Pullover-Test tatsächlich glauben.“

„Nein“, antwortete Thiel. Er wandte den Blick ab, sah kurz zu Boerne herüber, sah wieder fort.

„Na also“, murmelte Boerne. Er drehte sich um, etwas zu schwungvoll, seine Stimme klang locker, aber sein Gesicht war gerötet. „Und außerdem“, plapperte er weiter, während er sein Hemd aufknöpfte, „entbehrt dieser Test jeglicher wissenschaftlicher Grundlage. Auf welche Art Menschen ihre Pullover ausziehen, ist abhängig von ihrer Anatomie, ihrem Haarschnitt, ihrem Kleidungsstil - aber sicherlich nicht von ihrem - ihrem Geschlecht. Könnten Sie sich jetzt endlich um mein Telefonat kümmern?“

„Es hat bisher immer gestimmt“, sagte Thiel.

Boerne hielt am vierten Knopf inne und sah zu ihm herüber. „Wie bitte?“

„Nadeshda ist ’ne Frau, Alberich - ich meine, Frau Haller auch … ich bin ein Mann, die Klemm ist ein Mann -“

„Die Klemm -?“

„- und bei ihren Studenten an der Uni -“

„Thiel …“

„- und bei Frau Kramer von nebenan -“

Boerne schüttelte den Kopf. „Sie sind ja völlig paranoid.“

Thiel wandte den Blick ab. Es war sehr still in der Wohnung. Er hörte das Rascheln des Stoffs, als Boerne sein Hemd auszog, und dann hörte er sich selbst sagen: „Ich muss jetzt wieder … gleich kommt ein Spiel im Fernsehen, das will ich sehen.“

„Sie definieren sich wohl über Ihren Fußball, was?“, fragte Boerne spöttisch.

Thiel sah ihn nicht an - einerseits, weil er nicht sicher sein konnte, ob Boerne inzwischen sein Hemd gewechselt und sich wieder angezogen hatte, und andererseits, weil er wirklich nicht wusste, worüber er sich definierte. Aber das konnte er Boerne nicht erklären.

*

„Gibt’s Neuigkeiten aus dem Bikerclub?“, fragte die Klemm im Vorbeigehen.

„Nein“, antwortete Thiel und warf ein Zwei-Euro-Stück in den Kaffeeautomaten. Wie hörte sich das überhaupt an? Neuigkeiten aus dem Bikerclub. Das klang wie der Titel eines Jugendbuchs.

„Halten Sie die Augen offen, Thiel.“

„Das kann doch Jahrhunderte dauern.“ Der Kaffee ließ auf sich warten. Er steckte den Zeigefinger ins Geldausgabefach und rüttelte, aber auch die Münze tauchte nicht wieder auf. „Ich muss schon warten, bis handfeste Beweise gegen diese Truppe auftauchen - verdammter Automat … Wenn ich die ohne Grund observiere und sie kriegen’s raus …“

Die Klemm zog tief an ihrer Zigarette. „Mann, Thielchen, jetzt spielen Sie doch nicht das Mädchen. So zimperlich kennt man Sie doch sonst nicht.“

„Bin ich auch nicht. Aber die Wölfe haben mich eh schon auf dem Kieker.“ Frustriert trat Thiel gegen den Automaten, aber nichts geschah. Er seufzte. „War ja klar. Haben Sie Lust, irgendwohin zu gehen, wo sie Kaffee haben?“

Die Klemm sah ihn an, als hätte er sie mit dieser Frage zum zweisamen Abendessen eingeladen. „Nö.“ Sie schulterte ihre Handtasche. „Ich geh jetzt zum Sport.“

„Boxen, was?“, vermutete Thiel.

Sie lächelte, die Zigarette lässig im Mundwinkel, ein verschwörerisches Funkeln in den Augen, als sei der Boxsport ein Insider zwischen ihnen. Dann drehte sie sich herum und ging davon, die Handtasche unter den Arm geklemmt. Thiel sah ihr nach, bis ihr schwarzer Schatten hinter der nächsten Ecke verschwand und nichts mehr von ihr zurückblieb als das laute Klack-Klack ihrer Absätze, das durch den schmalen Gang hallte.

*

Wenn er alle Indizien zusammen betrachtete - die gefeilten Fingernägel, die glückliche Stimmung und der häufige Griff zum Handy - kam Thiel zu dem Schluss: Nadeshda hatte wieder einen Freund.

„Sie können ruhig schon ’n bisschen früher nach Hause“, meinte Thiel eines Abends, als sie länger als notwendig mit ihm im Büro saß. „Ich vermute mal, Sie haben um die Uhrzeit Besseres zu tun.“

„Ach Chef.“ Sie lächelte ihm zu. „Wer hat das nicht?“

Thiel sparte sich die Antwort. Schließlich probierte er es noch einmal: „War schon ernst gemeint.“

„Danke“, sagte sie, „aber ich bleib lieber noch ein Stündchen hier.“ Sie schielte zu einem der Nachbarbüros auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs herüber. „Zumindest, bis die beiden Scherzkekse gegangen sind.“

„Hoffmann und Peters?“, fragte Thiel verständnislos. „Wieso denn das?“

Sie warf die Hände in die Luft. „Na, die klopfen immerzu dumme Sprüche, wenn ich vorbeikomme. Abends ist’s am schlimmsten, echt. Ich zieh ja auch nicht über deren Beziehungsleben her, auch wenn mir dazu einiges einfallen würde.“

„Ach?“ Thiel gab sich Mühe, nebensächlich zu klingen. „Ist Ihr Freund denn so ’n schräger Vogel?“

„Manche Menschen sind eben ein bisschen sonderbar, das ist doch kein Problem“, gab sie zurück.

„Stimmt schon“, murmelte Thiel und hängte dann laut an: „Woher kennen die zwei ihn denn?“

„Ich und … naja, wir haben uns einmal abends unten im Hof getroffen, weil wir danach noch in die Stadt wollten. Hoffmann und Peters haben uns wohl beobachtet.“

„Ach, Nadeshda, ist doch egal. Lassen Sie die halt reden.“

Sie schüttelte den Kopf. „Was ist so komisch daran, Teebeutel zu sammeln? Auch nicht schlimmer als Briefmarken.“ Sie reckte den Kopf, als im Nachbarbüro die Türen zufielen. Thiel war froh über die Ablenkung, so musste er die Teebeutel wenigstens nicht kommentieren. Er bezweifelte, dass ihm etwas Sinnvolles dazu eingefallen wäre.

„Ich glaub, sie machen grad ’ne Raucherpause“, sagte Nadeshda und sprang von ihrem Stuhl auf. „Ich bin weg. Bis morgen, Chef!“ Sie schnappte sich ihre Tasche.

„Bis morgen“, antwortete Thiel.

Erst im Nachhinein erkannte er, was ihm an ihrem Gespräch komisch vorgekommen war. Nadeshda hatte kein einziges Mal von „ihm“ geredet. Sie hatte die ganze Zeit über die Pronomen umschifft.

*

Als Boerne nach genau vierundzwanzig Minuten und zehn Sekunden noch immer nicht erschienen war, verlor Thiel die Geduld. Er bezahlte, stand auf und ging. Es war sinnlos zu warten, schließlich hatte er seinen Kaffee schon bestellt und ausgetrunken. Die gelegentlichen Treffen (Thiel nannte sie so) zwischen ihm und Boerne häuften sich in letzter Zeit, aber bisher war das alles mehr so eine spontane, unverbindliche Sache und keine Verpflichtung. Er konnte Boerne eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen, dass er schon gegangen war - dann konnten sie sich morgen treffen oder übermorgen - oder wann auch immer. Schließlich wohnten sie beide im gleichen Haus.

Nachdem er das Café verlassen hatte, bog er in die Seitenstraße ein, wo sein Fahrrad an eine Laterne angekettet auf ihn wartete. Es war ein ruhiger Tag. Seit heute Morgen hingen graue Wolken am Himmel; es regnete nicht und es war auch nicht kalt, aber nach den sonnigen letzten Wochen wirkte das Wetter bedrückend.

Hinter seinem Rücken begann ein Konzert aus röhrenden Motoren, manche höher, manche tiefer. Thiel wandte sich um und sah die Wotan Wolves auf ihren Maschinen an der Seitenstraße vorbeirauschen. Anscheinend waren sie auf dem Weg Richtung Prinzipalmarkt. Fast als ob Thiels Blick ein spürbares Gewicht hätte, drehte einer der Biker den Kopf und verlangsamte sein Tempo. Ein schiefes Lächeln trat auf sein Gesicht. Er hupte und wie ein Schwarm von schwarzen Vögeln wendeten die Wotan Wolves ihre Maschinen.

Thiel wandte sich rasch ab, aber da war es schon zu spät. Innerhalb von Sekunden hatten die Biker ihn eingekreist. Thiel musste husten. Der widerliche Gestank von Motoröl stieg ihm in die Nase.

„Der Herr Hauptkommissar!“ Helle, der Anführer der Bikertruppe, bremste sein Motorrad ab und kam mit einem dreckigen Grinsen genau vor Thiel zu stehen. „Na, was für eine Überraschung!“

„Ganz toll“, sagte Thiel lakonisch. „Könnte ich bitte mal vorbei?“

Helle ignorierte ihn. „Wohin sind wir denn unterwegs, hm?“ Provokant stützte er sich auf den Lenker seiner Maschine. „Wieder mal ’n paar unschuldige Leute schikanieren, was?“ Der Rest seiner Truppe stimmte in sein grölendes Lachen ein.

„Könnte ich bitte durch?“, wiederholte Thiel. Er hoffte, dass die Nervosität nicht in seiner Stimme zu hören war. Susanne Clemens fiel ihm wieder ein, die blauen Flecken auf ihrem Körper, die Boerne ihm in der Rechtsmedizin gezeigt hatte. Er wusste, zu was diese Männer fähig waren, wenn sie sich bedroht fühlten. Mit Sicherheit hatten Helle und sein Bikertrupp nicht angehalten, um einen netten Plausch mit ihm zu führen.

Thiel trat einen Schritt zurück, aber inzwischen hatten die Männer einen dichten Kreis um ihn gebildet. „Hey, jetzt macht Platz, ja?“, wies Thiel sie zurecht. „Sonst -“

„Sonst was, hm?“ Helle lachte. „Holst du dann die Knarre raus und schießt uns der Reihe nach ab?“

Thiel versuchte, sich zwischen zwei Motorrädern hindurchzudrängeln, aber er wurde von einer Hand gepackt und grob zurückgestoßen. Hatten sie bemerkt, dass er sie in letzter Zeit verschärft im Auge behielt? Aber damit mussten sie doch rechnen, nach allem was passiert war. Nein, sie würden keinen Polizisten zusammenschlagen - so was trauten sie sich nicht, da war er sich sicher. Und trotzdem klopfte ihm das Herz bis zum Hals.

Helle rückte mit seinem Motorrad ein Stück näher, seine Kumpels taten es ihm gleich. „Tja“, sagte er amüsiert, „so sind sie, die von der Polizei. Sonst haben sie immer ’ne große Klappe, aber wenn sie alleine dastehen, sind sie plötzlich ganz klein.“

„Ich hab keine Lust auf Stress“, sagte Thiel gepresst.

Helle grinste. „Na, echt?“, sagte er. Er ließ den Lenker seines Motorrads los und richtete sich auf seiner Maschine zu seiner vollen Größe auf. Thiel fühlte sich unwillkürlich an einen riesigen, dunklen Aasgeier erinnert, der über ihm schwebte.

„Ah, der Herr Thiel!“, rief eine bekannte Stimme. Thiel wandte sich um - und er war noch nie so froh gewesen, Boerne zu sehen. Nie so froh und gleichzeitig so beunruhigt. Er war sich nicht sicher, ob das plötzliche Auftreten seines Nachbarn die Situation entspannte oder bloß verkomplizierte.

Boerne schien die Anspannung, die in der Luft lag, nicht zu bemerken. Seine Aufmerksamkeit galt allein Thiel. „Ich warte bereits seit zehn Minuten auf Sie“, sagte er vorwurfsvoll. „Und außerdem - darf ich mal?“ Er quetschte sich zwischen zwei Motorrädern in den kleinen Kreis hinein, die Hände schützend in der Luft, um den Kontakt mit den dreckigen Maschinen zu meiden. Die Wotan Wolves starrten ihn irritiert an.

„Halb eins hatten wir ausgemacht“, fuhr Boerne verärgert fort. „Sie müssen Ihre Termine auch einhalten, selbst wenn es sich bloß um ein Treffen mit alten Bekannten handelt. Für Unpünktlichkeit gibt es keine Entschuldigung - sie drückt bloß Ihre geringe Wertschätzung und Ihre Respektlosigkeit gegenüber anderen Menschen aus“, hängte er an, als sei es völlig normal, inmitten einer Gruppe von übelgelaunten Bikern sozialpsychologische Diskurse zu beginnen.

Thiel wollte etwas einwerfen, aber da hatte Boerne schon nach seiner Hand gegriffen. Sein Griff war fest und warm. „Meine Herren, Sie entschuldigen“, sagte er zu Helle. Damit trat er an ihm vorbei und zog Thiel energisch hinter sich her - als sei er ein unartiges Kind, das seine Zeit auf dem Spielplatz vertrödelt hatte, statt seine Hausaufgaben zu erledigen.

Helle funkelte die beiden düster an, doch er hielt sie nicht auf. Zwei der Biker steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, sie nickten zu Thiel herüber und grinsten hämisch. Thiels Gesicht brannte, er fühlte sich zu gleichen Teilen erleichtert und erniedrigt. Kaum dass sie aus dem Kreis der Biker herausgestolpert waren, schüttelte er auch schon Boernes Hand ab. „Finger weg!“, zischte er. „Was sollte das denn?“

„Scht!“ Boerne legte seine Hand sanft auf Thiels Schulter. Sein Atem streifte Thiels Stirn und in diesem Moment fühlte sich der Größenunterschied, der Thiel sonst nicht kümmerte, auf eine seltsame Weise ungerecht an. „Kommen Sie“, drängte Boerne leise, „weitergehen. Und drehen Sie sich bloß nicht um.“

Widerwillig setzte Thiel sich in Bewegung. Die aggressive Spannung lag noch immer in der Luft, doch mit jedem Schritt, den sie sich von Helle und seinen Kameraden entfernten, fühlte Thiel sich etwas leichter.

„Sie sahen aus, als bräuchten Sie Hilfe“, meinte Boerne, als sie die Straßenlaterne erreichten, an der Thiels Fahrrad lehnte. „Seien Sie froh, dass ich Sie gerettet habe. Für solche Situationen fehlt Ihnen das psychologische Feingefühl.“

„Es gibt keinen, absolut keinen Grund, dass Sie sich da einmischen, klar?“ Verärgert zerrte Thiel an seinem Fahrradschloss. „Wenn die Sache eskaliert wäre … Ihnen hätte auch was passieren können.“

„Ihre Sorge um mein Wohl rührt mich“, sagte Boerne und lächelte. „Aber ich war nicht derjenige, der in Gefahr war.“

„Ich war nicht in Gefahr“, schnaubte Thiel und spürte, wie ihm das Blut erneut ins Gesicht stieg. Er klemmte das Fahrradschloss unter den Gepäckträger, dann hob er den Kopf, um Boerne in die Augen zu sehen. „Wann begreifen Sie das endlich - ich bin ein Polizist und Sie nicht!“

Boerne hob die Schultern. „Sie waren in Gefahr, gerade weil sie der Polizist sind. Diese Bande wollte ihre Wut an einem Vertreter des Gesetzes auslassen. Nehmen Sie das nicht persönlich.“

„Ich bezweifle, dass die wissen, dass Sie ein Zivilist sind“, entgegnete Thiel und schob sein Fahrrad an. Er wartete nicht auf Boerne. Eine kalte Verärgerung überkam ihn, wenn er daran dachte, mit welcher Leichtigkeit sein Nachbar ihn aus dem Kreis der Biker gezogen hatte. Das Gefühl war irrational, das wusste er, aber das machte es auch nicht besser.

Im Hintergrund sprangen die Motoren wieder an. Laut heulten die Maschinen auf, bevor die knatternden und ratternden Geräusche sich entfernten und schließlich hinter dem nächsten Häuserblock verebbten. Die Wotan Wolves waren verschwunden. Thiel warf einen Blick zurück. Boerne, der der Bikertruppe hinterher gesehen hatte, wandte sich zu ihm um und rieb sich seufzend mit der Hand über die Stirn. Es sah aus, als habe er Kopfschmerzen.

Thiel hatte eigentlich verschwinden wollen, aber jetzt blieb er doch stehen und wartete, bis Boerne zu ihm aufgeschlossen hatte. „Sie sind übrigens der, der zu spät war“, bemerkte er. „Ich hab ’ne geschlagene halbe Stunde auf Sie gewartet. Na, egal. Gehen wir trotzdem noch was trinken?“

Boerne schüttelte den Kopf. „Können Sie das verstehen?“, fragte er.

„Was verstehen?“

„Den Reiz, der von dieser Truppe ausgeht.“ Boerne deutete zu der Stelle herüber, an der die Biker eben noch gestanden hatten. „Ich kann mir eine Menge angenehmerer Dinge ausmalen, als diesem exklusiven Männerclub anzugehören.“

„Das denk ich mir bei Ihrem Golfclub auch manchmal.“

Boerne zog die Augenbrauen zusammen. Thiel lächelte entwaffnend. „Na ja, es hat halt jeder das Bedürfnis, irgendwo dazugehören zu können. Gegenseitige Unterstützung, gemeinsam sind wir stark, einer für alle und so ein Kram. Gerade Ihnen müssten solche Phrasen doch bekannt vorkommen.“

Boerne ignorierte den Seitenhieb. „Sie verwechseln Stärke mit Aggressivität. Echte Stärke setzt Qualitäten wie Aufmerksamkeit und ein Minimum Einfühlungsvermögen in andere Gruppenmitglieder voraus, die diese Troglodyten ganz sicher nicht besitzen.“

„Na, kommen Sie“, wandte Thiel ein. „Jetzt sind Sie ein bisschen unfair. Manchmal trügt der äußere Schein auch. Bloß, weil das nicht Ihr Lebensstil ist -“

„Das hat mit Stil nichts zu tun, Thiel“, widersprach Boerne. „Mich hat der Schein noch nie getrogen. Ich kann Ihnen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass von denen niemand ein heimlicher Blumenliebhaber ist, der blassgelbe Rosen auf seinem Balkon züchtet. Dazu mangelt es denen doch an Sensibilität!“

Thiel hob die Schultern.

Aber Boerne ließ das Thema offensichtlich nicht mehr los. „Ich frage mich bloß, wieso um Himmels Willen sollte man das Bedürfnis verspüren, sich in solch eine Runde primitiver Halbaffen einzugliedern? Was ist das denn für eine Lebensart? Bei denen riecht man den Überschuss an Testosteron ja schon aus zwanzig Metern Entfernung.“

„Sind halt echte Männer“, sagte Thiel. „Genau das wollte sie doch sein.“ Er sah Boerne an.

„Lachhaft“, murmelte Boerne, aber dann schob er die Hände in die Hosentasche und sagte nichts mehr.

*

„Gibt’s was Neues von dem -“

„Nein“, unterbrach Thiel sie, „es gibt nichts Neues vom Bikerclub.“ Abgesehen davon, dass er sich gestern von ihnen in die Ecke hatte drängen lassen wie eine Jungfrau in Nöten. Nur würde er das der Klemm sicher nicht auf die Nase binden - genauso wenig wie Boernes heroischen Auftritt. Er wollte nicht das Gespött des Instituts werden.

„Nicht?“ Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund. „Ich hatte Boerne so verstanden. Er hat mir erzählt, dass Sie den Wotan Wolves gestern in der Innenstadt begegnet wären.“

„Da müssen Sie was vertauscht haben.“ Er warf einen düsteren Blick auf ihre Zigarette. „Im Übrigen ist hier Rauchverbot.“

Sie zog ihr Feuerzeug aus der Tasche. „Tatsächlich? Kam mir nicht so vor. Boerne neigt zwar manchmal zu Übertreibungen -“

„Ach nee.“

„- aber er erfindet für gewöhnlich keine Märchen.“

„Wussten Sie, dass Nadeshdas Freundin Teebeutel sammelt?“, fragte Thiel, um sie auf andere Gedanken zu bringen.

Die Klemm entzündete ihre Zigarette und nahm einen tiefen Zug. „Da müssen Sie was vertauscht haben. Ihr neuer Freund sammelt Teebeutel. Ich hab die beiden in der Innenstadt gesehen. Er ist wohl ein wenig alternativ: lange Haare, farbenfrohe Kleidung - sie hat ihm im Tea Time einen dieser Porzellanbecher mit eingelegtem Sieb gekauft, wie heißen die noch gleich?“

„Ach so …“, begann Thiel verdattert, „ich dachte … wegen dem Pronomenspiel und allem …“

Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn streng. „Langsam werden Sie paranoid, was? Sie sollten wirklich mal an Ihrer subjektiven Wahrnehmung arbeiten, Herr Hauptkommissar.“

*

Manchmal dachte er noch an die Worte, mit denen Boerne ihn bei der Obduktionsbesprechung hatte aufziehen wollen: dass Susanne Clemens das erreichen wollte, was Thiel nicht geschafft hatte. Ein Mann zu sein.

Was wollte Boerne überhaupt? Thiel liebte Fußball, trank gerne Bier und fand Gefallen an schönen Frauen. Und immerhin zog er seinen Pullover so aus, wie man es von ihm erwartete. Machte ihn das nicht zu einem hundertprozentigen Mann?

Andererseits fand er auch Gefallen an schönen Männern. Und manchmal fragte er sich, ob dieser Umstand nicht ein wenig an den hundert Prozent nagte. Ob sich daraus ein Punktabzug ergab und er letzten Endes vielleicht doch nur auf neunzig oder achtzig Prozent Mann kam. Die Natur wollte es, dass Mann und Frau ein Paar ergaben, ein komplettes Ganzes, Ying und Yan, Sonne und Mond, zwei gegensätzliche Prinzipien, ein perfekter Kreis. Wenn er Männer attraktiv fand, musste dann nicht auch ein wenig Frau in ihm sein?

Er dachte nicht oft über dieses Problem nach. Er hatte es mehr als vierzig Jahre seines Lebens vermieden, über dieses Problem nachzudenken. Thiel behandelte sich selbst, wie er auch seine Zeugen behandelte: unvoreingenommen, individuell, vorurteilslos. Er stand auf Männer wie auf Frauen - na und, was war dabei? Es gab wichtigere Dinge: seinen Beruf, Stress mit seinem Vater, die Steuererklärung. Das Leben ging weiter.

Aber jetzt war Sommer, die Menschen zogen ihre Pullover aus und Thiel konnte nicht umhin, den Bewegungen zu folgen, zu katalogisieren, einzuteilen, zu schubladisieren und sich zu fragen: Hat es eine Bedeutung?

*

Sein Weinglas war beinahe randvoll gefüllt, aber Thiel hatte es bisher nicht angerührt.

„Der war gut!“ Triumphierend schlug Boerne mit der flachen Hand auf die Sofalehne. „30 zu 40. Sie ist ein Naturtalent! Haben Sie das gesehen? - haben Sie gesehen, wie knapp der Ball über das Netz gerollt ist? Den hätte Hartmann nicht mehr bekommen, ganz gleich, wie sehr sie rennt.“ Er nickte anerkennend und hob sein Glas. „Auf Nadine.“

Thiel stieß an, aber er nippte lediglich ein wenig an dem Wein, bevor er das Glas zurück auf den Tisch stellte. Er erinnerte sich, was das letzte Mal passiert war, als sie zusammen auf einem Sofa saßen und ein Glas Wein getrunken hatten. Und dann noch eins. Und noch eins. In betrunkenem Zustand hatten sie zu viele Dinge gesagt, die sie niemals wirklich meinten. Am nächsten Morgen war alles vergessen gewesen. Jetzt trug jeder Schluck Wein den üblen Nachgeschmack der Enttäuschung mit sich.

„Alles in Ordnung, Thiel?“

„Mhm.“ Thiel fuhr sich durch die Haare. „Ich komm da nicht mit. Warum hat Nadine jetzt 40 Punkte und nicht 45?“

„So zählt man eben im Tennis. 15, 30, 40 und dann kommt Vorteil. Das hab ich Ihnen doch schon alles erklärt.“

„Jaja.“

„Wenn sie den letzten Rest Unsicherheit ablegt, dann wird sie auf jeden Fall gewinnen.“

Thiel nickte und konzentrierte sich wieder auf das Geschehen auf dem Spielfeld. Nadine Petri spielte ihren Gegner an die Wand und die Kamera fing ihr Gesicht ein, das breite Grinsen, die weißen Zähne und der leichte Schweißfilm auf ihrer Stirn. Sie winkte jemandem im Publikum zu, lachte, und Thiel spürte, wie er sich von ihr anstecken ließ. Das glückliche Lächeln schlich sich ganz von allein auf sein Gesicht. Er tauschte einen Blick mit Boerne, der genauso enthusiastisch zurückgrinste.

„Vorteil“, sagte Boerne. „Jetzt hat Hartmann den Aufschlag.“

Thiel sah zu Boerne herüber, während Hartmann auf dem Bildschirm noch einen Schluck Wasser trank. „Sie haben auch mal Tennis gespielt, oder?“

„Ach Thiel, das ist Jahre her.“ Boerne winkte ab.

„Wieso haben Sie aufgehört?“

„Wieso hören Sie auf, etwas zu tun?“, erwiderte Boerne. „Weil Sie merken, dass es nicht mehr passt, dass Sie so nicht mehr sind. In Hamburg wohnen, verheiratet sein, Tennis spielen, indianischen Knochenschmuck tragen …“ Bei den letzten Worten hielt er inne und richtete seinen Blick wieder zum Fernseher hin. „So ist das eben“, sagte er leicht, aber da war noch etwas anderes, schmerzvoll und vielleicht ein wenig bedauernd.

Thiel ahnte, was in ihm vorging. Er legte seine Hand auf Boernes Arm und ließ sie dort. Auf dem Fernsehbildschirm sprang der gelbe Tennisball vor und zurück, der Sprecher kommentierte. Nadine Petris anfängliche Unentschlossenheit schien verschwunden, sie hatte eine Taktik gewählt und blieb dabei. Thiel verfolgte den springenden Ball mit den Augen, ohne ihn wirklich zu sehen. Als er fühlte, wie Boerne sich unter seiner Hand langsam entspannte, zog er den Arm wieder zurück. „Sobald man weiß, dass es irgendwie nicht mehr passt, weiß man eigentlich schon genug“, sagte er.

Boerne schwieg einen Moment. „Falls Sie das tröstet“, begann er dann unvermittelt. „am Ende ziehen doch alle ihren Pullover auf die gleiche Art und Weise aus. Zumindest alle, die bei mir landen.“ Er streckte Zeige- und Mittelfinger aus und ahmte eine Schere nach. „Schnipp-Schnapp.“

„Was? Wie kommen Sie’n jetzt darauf?“, fragte Thiel verwirrt.

„Ich habe gerade über Blumen nachgedacht.“

„Über … Blumen?“

„Haben Sie schon mal einen Blumenstrauß geschenkt bekommen? So völlig informell, meine ich. Ich nicht. Bei all diesen Preisverleihungen und Ehrungen und Galaveranstaltungen, zu denen ich natürlich vielfach geladen werde, bekomme ich massenhaft Bouquets. Aber manchmal, wissen Sie -“ Er machte eine unbestimmte Geste mit der Hand. „Von mir erwartet man immer, dass ich mit einem Blumenstrauß in der Hand auftauche. Selbst meiner Cousine musste ich zum Geburtstag einen Blumenstrauß schenken und sie hasst Blumen.“

Thiel schüttelte amüsiert den Kopf. Er hatte keine Ahnung, welche gedanklichen Saltos Boernes Verstand gerade geschlagen hatte. Aber das mit den Blumen würde er sich merken. „Wenn Sie das so quält, bringe ich Ihnen zum Geburtstag gerne ein Sträußchen vorbei.“

Boerne verdrehte die Augen. „Sie sind ein Schwarz-Weiß-Denker, Thiel. Sie schauen zu viel Fußball, da besteht für Sie die Welt irgendwann auch nur noch aus schwarzen und weißen Lederhexagonen. Deswegen fallen Sie auch auf den Pullover-Test rein. Das komplexe Spektrum menschlicher Verhaltensweisen lässt sich nicht mit einem einfachen binären Ja oder Nein definieren.“

„Ihre Verhaltensweisen würden ohnehin jeden Test sprengen, Boerne.“

„Das ist wie mit der Kinsey-Skala, verstehen Sie?“, sagte Boerne und hilfsbereit hängte er an: „Die Kinsey-Skala wurde von dem Sexualforscher Alfred Charles Kinsey entwickelt, um damit -“

„Danke“, Thiel musste grinsen, „aber ich weiß, was die Kinsey-Skala ist.“

„Ich möchte Sie nur vorsichtig auf Ihren Irrtum hinweisen, falls Sie sich jetzt falsche Vorstellungen von meiner gedanklichen Selbstidentifikation oder gar meiner Anatomie machen. Schließlich sitzen wir gerade nebeneinander auf Ihrer Couch und werden sentimental - wer weiß, worüber Sie jetzt schon wieder nachdenken -“

„Also, Moment mal! Ich -“

„- die Sache mit den Blumen, ja, und die Art, wie ich meine Kleidung ausziehe, ändern nichts an meinem Geschlecht, da muss ich Sie enttäuschen.“

„Ist ja okay für mich“, sagte Thiel. Boerne zog die Augenbrauen hoch und Thiel räusperte sich. „Ich meine … spielt ja keine Rolle, ob Sie - oder auch nicht … also, ich denke … ach, verdammt, Sie wissen schon.“

Boerne lächelte, aber es war kein spöttisches Lächeln - er wirkte vielmehr zufrieden. „Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich begriffen habe, was Sie mir mit Ihrem Gestammel gerade sagen wollten, aber das macht nichts. Ich weiß trotzdem, was Sie meinen.“ Er gab Thiel einen linkischen Klaps auf den Arm. Die Geste war ohne Zweifel liebevoll und kumpelhaft gemeint, aber sie wirkte so ungeübt, dass Thiel grinsen musste.

Laute Jubelrufe aus dem Fernseher lenkten sie ab. Thiel hatte das Spiel für einen Moment völlig vergessen und als er den Punktestand sah, bekam er ein schlechtes Gewissen: es stand 2 zu 1 im dritten Satz. Er erinnerte sich daran, dass er versprochen hatte, die Daumen zu drücken, und hastig ballte er die Fäuste.

Nadine brauchte seine Unterstützung nicht. Sie spielte mit einer unübertreffbaren Leichtigkeit, die ihre Gegnerin zu verunsichern schien. Hartmann unterlief ein Doppelfehler, die nächsten zwei Spiele gingen an Nadine.

„Matchball“, erklärte Boerne.

Sie gewann. Natürlich gewann sie. Es war wesentlich unspektakulärer, als Thiel geglaubt hatte. Sicher, das Publikum schrie und klatschte, der Sprecher schwelgte in Tennismetaphern und Nadine stieß die Fäuste in die Luft. Aber wo waren die Siegeshymnen, die Laola-Wellen, die bunten Plakate, die euphorische Hektik auf dem Spielfeld?

„Das ist Tennis, Thiel“, sagte Boerne. „Ein bisschen was anderes als Ihr Fußball. Stoßen Sie jetzt mit mir an oder haben Sie vor, den Rest des Abends stocknüchtern zu bleiben?“

„Nun ja, der Abend ist ja noch lang“, wandte Thiel ein.

Im Fernsehen lief inzwischen Werbung. Thiel sah unter den Programmzeitschriften nach, die seinen Couchtisch bedeckten, aber die Fernbedienung war und blieb verschwunden. „Klasse“, murmelte er und erhob sich schwerfällig vom Sofa. „Ich hab das Spiel übrigens aufgenommen, also, falls Sie ’ne Kopie wollen …“ Er beendete die Aufnahme manuell am Rekorder, dann drückte er die Auswurftaste. Das Kassettengehäuse gab bloß einen röchelnden Laut von sich, aber es blieb geschlossen.

„Dann aber bitte auf DVD“, sagte Boerne hinter ihm. „Antiquierten Bandsalat kann ich bei mir nicht abspielen.“

„Ich weiß nicht, wie man das auf DVD bekommt“, antwortete Thiel abwesend, während er vor dem Rekorder niederkniete. War das Ding etwa kaputt?

„Das habe ich auch nicht anders erwartet.“ Boerne seufzte. „Sie schaffen es ja nicht einmal, dem Rekorder die Kassette zu entnehmen. Warten Sie, ich zeig’s Ihnen. Und stellen Sie um Himmels Willen den Ton ab - die Werbefilme werden auch von Jahr zu Jahr penetranter.“ Er sank neben ihm auf die Knie und Thiel rutschte ein Stück auf die Seite, um ihm Platz zu machen.

„Die Klappe klemmt“, bemerkte Boerne, nachdem er einen Moment lang erfolglos an dem Kassettenfach herumgedrückt hatte. „Nein, weg mit Ihren Wurstfingern, ich hole Ihnen Ihren Film schon zurück. Autopsien und manuelle Eingriffe sind mein Fachgebiet.“

Über ihnen flackerte tonlos der Fernseher und als Thiel aufsah, blickte er einem Tapir direkt ins Gesicht.

„Was’n das?“

„Wild Life - die Reihe zeigen sie immer nach dem Sport.“ Boerne legte die Stirn in Falten und zog die Kassette langsam aus dem Rekorder heraus. „So, da ist sie wieder. Haben Sie Lust, sich noch einen Spielfilm anzusehen?“

„Jetzt?“ Überrascht sah Thiel auf. „Ja, schon, aber …“

„Wenn Sie möchten, können wir natürlich auch sofort ins Bett steigen.“

„Dafür ist’s ein bisschen zu früh“, antwortete Thiel sachlich. „Zu früh am Abend, meine ich.“ Dann wusste er nicht mehr weiter, denn eigentlich gab es jetzt nichts mehr zu sagen. Aber Boerne machte keine Anstalten, sich zu erheben. Er blieb vor dem Fernseher knien, die Filmkassette in den Händen, und blickte Thiel weiterhin an und Thiel blickte zurück, ohne sich von der Stelle zu rühren.

„Ich dachte, Sie wollen mich nicht küssen“, sagte Boerne.

„Nein“, sagte Thiel mit belegter Stimme. „Nicht, wenn Sie betrunken sind.“

„Ich bin nicht betrunken“, antwortete Boerne.

„Ich weiß“, sagte Thiel. Dann lehnte er sich zu Boerne herüber und küsste ihn. Kurz und leicht, mehr um seine eigene Neugier zu befriedigen: ein unschuldiger Bruderschaftskuss. Als er wieder zurückwich, spürte Thiel eine Hand in seinem Nacken - Boerne zog ihn erneut an sich und presste seinen offenen Mund gegen Thiels Lippen. Jeder Gedanke an Bruderschaft war verflogen. Thiel legte seine Arme um Boernes Körper, küsste seinen Mund, seine Wangen, seinen Hals. Seine Hände wanderten unter den Stoff von Boernes Hemd, um die Haut spüren zu können. Boerne lehnte sich ihm entgegen und dann verloren sie das Gleichgewicht und landeten der Länge nach auf dem Teppichboden. Thiel beugte sich wieder über Boerne.

„Nein“, nuschelte Boerne zwischen zwei Küssen, „nicht hier, Frank, wir sollten …“, aber dann half er doch dabei, die Knöpfe seines Hemds zu öffnen, die Thiel mit seinen ungeduldigen Fingern kaum zu fassen bekam. Es war eine kurze Atempause, in der Thiel innehielt. Er starrte auf Boerne herab, auf das vertraute Gesicht, die nun nackte Brust mit den feinen, dunklen Härchen, und für einen Moment glaubte er, dass das alles völlig unnatürlich war; dass es nicht das war, was er wollte. Aber Boerne, dem Selbstzweifel dieser Art fremd zu sein schienen, lächelte ihm bloß zu. Er legte die Hände auf Thiels Schulter und zog ihn zu sich. Thiel schloss die Augen und ließ sich küssen, langsam und genießerisch, es schmeckte gut, und auf einmal spürte er ein heißes Kribbeln im Magen bei dem Gedanken, dass es Boerne war, den er küsste - dass sie das zusammen taten, gemeinsam, und es beide wollten. Probehalber bewegte er seine Hüften. Boerne stöhnte laut auf, als Thiel seine Erregung streifte und der Griff um Thiels Schultern verstärkte sich.

„Zieh das aus, na los!“, sagte Boerne atemlos, während seine Finger über Thiels Shirt strichen. Thiel gehorchte. Er hob die Hand, langte in seinen Nacken, ergriff den Kragen des Shirts und zog - aber Boerne kam ihm zuvor. Seine Hände packten den Saum des Shirts, er schob es über Thiels Brust nach oben, bis zu seinem Kopf, wo es sich durch das ständige Zurren und Zerren dermaßen verknotete, dass Thiel für einen Augenblick befürchtete, er würde sich im Eifer des Gefechts erdrosseln. Die Stofffalten nahmen ihm die Sicht, drückten gegen seine Nase, Boerne zog stärker - und dann war Thiel plötzlich frei. Seine Haare kitzelten ihn in feinen Strähnen auf der Stirn und als er sich wieder herunterbeugte, um Boerne zu berühren, knisterte es.

„Autsch!“ Boerne zog seine Hände zurück. „Du stehst ja unter Strom.“

„Sorry“, murmelte Thiel und grinste. „Das liegt aber nicht bloß am Strom.“ Er lehnte seinen Kopf an Boernes Stirn und versuchte, das Brennen in seinem Unterleib für einen Moment zu ignorieren. „Bleibst du noch über Nacht da?“, fragte er.

Boerne strich über Thiels Hände, dann verhakte er ihre Finger ineinander und zog Thiels Hand an seinem Körper nach unten. „Sobald man weiß, dass es passt“, sagte er, „weiß man schon genug. - Sehr frei zitiert nach Frank Thiel“, fügte er hinzu, während er Thiels Hand zwischen seine Beine drückte. Thiel schloss die Augen und bewegte seine Finger, er lauschte auf Boernes Atemzüge, die nun lauter waren und hastiger, dann legte er seine Wange an Boernes Halsbeuge und küsste ihn dort.

Auf dem Fernsehbildschirm wanderte die Kamera über das Urwalddach, Wind peitschte durch die Zweige und Vögel in allen Farben und Formen flatterten auf. Aber das interessierte niemanden mehr.

*

Thiel war in der Stadt unterwegs, als er sie wiedersah. Sie wartete an einer viel befahrenen Straße und blickte dem vorbeirauschenden Verkehr entgegen, als halte sie Ausschau. Neben ihr lag ihre prall gepackte Reisetasche, darauf die Tennisschläger. Thiel, der sich von hinten näherte, räusperte sich vernehmlich. „Herzlichen Glückwunsch, Nadine.“

Sie wirbelte herum, dann erhellte sich ihr Gesicht „Herr Thiel! Oh - vielen Dank. Sie haben sich’s angesehen?“

„Aber klar doch“, beteuerte er. „Du warst spitze.“

„Danke.“ Sie grinste breit. „War viel einfacher, als ich gedacht habe.“

„Ist doch immer so. Und, wohin soll’s gehen?“ Er deutete auf die Tasche zu ihren Füßen. „Machst du Urlaub?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich denke, ich ziehe um. Sven geht jetzt nach Freiburg, er wechselt zum neuen Semester die Uni. Ich helf ihm erst mal bei der Wohnungssuche. Aber wenn alles klappt …“ Sie biss sich auf die Lippe und sah mit einem Lächeln auf die Tasche herab. Ungeduldig wippte sie auf den Fußspitzen herum, dann ruckte ihr Kopf plötzlich hoch. Auf der anderen Straßenseite hielt ein orangefarbener Kleinbus. Er hupte zu ihnen herüber und ein junger Mann streckte den Arm aus dem Fahrerfenster, um ihnen über den Verkehr hinweg zu winken. Nadine winkte zurück.

„Freiburg“, wiederholte Thiel. „Das ist echt ’ne gute Idee.“

„Sag ich doch.“ Die Fußgängerampel sprang auf Grün um. Nadine packte ihre Tasche. „Ich muss los. Machen Sie’s gut, Herr Thiel!“ Und dann war sie weg. In großen Sprüngen eilte sie über die Straße, als ob ihre Tasche nichts wiegen würde.

„Mach’s gut!“, schrie Thiel ihr zum Abschied hinterher.

Nachdem das Auto hinter der Kurve verschwunden war, drehte Thiel sich um. Der Wind blies ihm ein Zeitungsblatt vor die Füße und achtlos trat er es beiseite, bevor er auf sein Ziel zusteuerte. Es war kühl geworden, kühl und windig, und die grauen Wolken am Himmel versprachen Regen. Aber das spielte keine Rolle, er würde nicht lange brauchen. Mit den Händen in den Taschen schlenderte er zu dem Blumenladen an der Ecke herüber. Die Türglocke bimmelte hell, als er das Geschäft betrat.

„Ich möchte einen Strauß kaufen“, verkündete er, „einen richtig großen Blumenstrauß.“

*oneshot, folgenbezug, thiel/boerne, rating: r, #fiction, slash

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