Kürzlich als eBook gelesen:
Hallelujah!
Als Spross einer angesehenen Familie alteingesessener Devotionalienhändler wächst der kleine Andreas Anfang der 50er scheinbar wohlbehütet im bayerischen Wallfahrtsort Altötting auf.
Doch da wo sich für so manch frommen, rosenkranzbetenden Pilger die himmlischen Pforten auftun, durchlebt Andreas indessen die Hölle auf Erden.
Denn hinter der idyllisch-traditionsträchtigen Heimatfilm-Kitschkulisse von Altötting lauern auch hier - wie so oft - die altbekannten Abgründe.
Tagtäglich sieht Andreas sich dort völlig schutzlos und ohne jeglichen Beistand den Tobsuchtsanfällen, Übergriffen und seelischen Demütigungen seines kaltblütigen Vaters ausgeliefert. Denn auch die schwache, leicht zu gängelnde Mutter verfügt nicht über die nötige Courage, dem cholerischen Haustyrannen dezidiert die Stirn zu bieten.
Und - weit gefehlt! - auch direkt vor Ort bei den religiösen Würdenträgern und selbsternannten Gralshütern katholischer Sitte und Moral trifft der verschüchterte Junge mitnichten auf die bitter benötigte Unterstützung und Fürsprache. Stattdessen findet er sich auch hier in Gesellschaft einer abgefeimten Horde scheinheiliger Pfaffen und sadistischer Schulmeister wieder, die unterm Deckmantel wechselseitiger Verschwiegenheit zuweilen auch vor dem erpresserischen sexuellen Missbrauch der ihnen Schutzbefohlenen nicht zurückschrecken.
Im dumpfen Geistesklima von Schuld, Angst und Selbstverachtung sieht Andreas sich daher gezwungen, seinen Leidensweg auch weiterhin auf sich allein gestellt beschreiten zu müssen.
Erst als junger Erwachsener gelingt ihm nach einem kräftezehrenden, furiosen Akt der Auflehnung endlich die Flucht aus dem Bannkreis des Gnadenortes, der keine Gnade kennt.
Was auf die längst überfällige Lossagung jedoch zunächst folgt, sind nicht etwa Glanz und Gloria, sondern die klassischen Kreuzwegstationen des persönlichen Abstiegs, geprägt von Abhängigkeit, scheiternden Therapieversuchen und schier endlosen Phasen des perspektivenlosen Dahinvegetierens. Doch Andreas bleibt tapfer und gibt nicht auf und ungezählte Irrungen und Wirrungen später offenbart sich ihm so schließlich doch noch die ganz persönliche Berufung, in der er späte, halbversöhnliche Erfüllung findet …
Was Thomas Bernhard einst für Österreich war, könnte Andreas Altmann künftig für den Freistaat werden. In bester Nestbeschmutzer-Tradition rechnet er in seinem kontrovers diskutierten autobiographischen Roman
Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend mit der heuchlerisch-moralinsauren Bigotterie und dem stickigen Filz der bayerischen Provinz ab - und das völlig frei von selbstgerechter Lamoryanz, sondern mit einem ordentlichen Schuss Chuzpe. Denn - und das betont Altmann in zahlreichen Medienberichten - eine „Elendsjeremiade“ habe er nicht schreiben wollen.
Das ist ihm in der Tat gelungen, auch wenn das gewählte Sujet eher auf tatterigen Greisenbeinen dahergehumpelt kommt. Altmann schafft es nichtsdestotrotz erstaunlich virtuos, den alten Popanz in neuen, glänzenden Ornat zu hüllen.
In unsentimentalen, zugespitzten Worten, die - rostigen Nägeln nicht unähnlich - sinnbildlich durch Mark und Bein des Lesers getrieben werden, erzählt er als Sohn vom Stigma der ewig Ungeliebten oder verweist als Analytiker auf das tief verwurzelte und generationsübergreifend nachschmerzende Kriegstrauma der emotional verstümmelten Elterngeneration. An anderer Stelle wiederum wird die Doppelmoral des Katholizismus mit rohen, wenig zimperlichen Sätzen und bitterbösen Formulierungen wie mit Peitschenhieben flagelliert und letztlich exorziert.
Dabei ist es von erwähnenswertem Vorteil, dass Altmanns unbestritten dichte Sprache dennoch immer verständlich und flüssig lesbar bleibt und sich trotz hoher thematischer Komplexität nicht in allzu vergeistigter Metaphorik verliert.
Mein Fazit lautet daher:
Die aufwühlend kraftvoll erzählte Tragödie einer Kindheit ohne Liebe, die moderne Odyssee einer schmerzensreichen Emanzipation und reichlich verspäteten Selbstfindung, einfühlsam und tiefschwarzhumorig zugleich, mitreißend bis zur letzten Seite. Und etliche Spritzer wohltuend erfrischender Blasphemie gibt es obenauf noch gratis dazu. Einfach göttlich grandios!
Deshalb: 5 von 5 Sternen
Teresa Maienschein
Andreas Altmann: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend
19,99 Euro (Gebundene Ausgabe)
256 Seiten
Piper München; 10. Auflage 2011
Sprache: Deutsch
ISBN: 978-3492053983