Überfordert - Part II: Jensen

May 13, 2010 09:14



19. Januar 1995
Monroe County, St. Louis, Missouri, USA

Jensen starrte auf das kleine, umkreiste A auf der Frontseite seines letzten Aufsatzes und fragte sich, ob dieses seinen Vater wohl zufrieden stellen oder ob es ihm egal sein würde.
Man konnte nie so genau wissen, wie er reagierte, seine Reaktionen waren immer unberechenbar.
Was immer kommen würde, er war niemals völlig darauf vorbereitet, auch wenn er sich nun schon seit scheinbar einer Ewigkeit mit den Launen seines Vaters auseinandersetzen musste.
Mit einem Seufzen legte er das Papier auf den Küchentisch, neben die Post, so wie sein Vater es seit jeher verlangte.
Jensen hatte in der Vergangenheit versucht, seine Noten zu verheimlichen, aber sein Vater hatte es jedes Mal herausgefunden - und das war definitiv nicht gut für ihn ausgegangen.
Er riss sich mit reiner Willenskraft aus seiner Lethargie und begann damit die Küche aufzuräumen.
Er war es, der dafür zu sorgen hatte, dass es ihm Haus ordentlich war, und in der Regel erledigte er seine Aufgaben immer direkt nach der Schule, damit alles fertig war, wenn sein Vater aus der Werkstatt kam.
An diesem Tag hatte er eine Menge Hausaufgaben, und er würde sich beeilen müssen, um alles zu schaffen.
Deshalb krempelte er die Ärmel hoch, ließ Spülwasser ein und legte Besteck und Teller schon einmal hinein, damit die Essensreste aufweichen konnten.
Während das Wasser lief, räumte er den Tisch auf und wischte ihn sauber.
Als er mit dem Spülen fertig war bereitete er das Mittagessen vor und machte den Boden sauber, während dieses auf dem Herd vor sich hinbrutzelte.
Als er anschließend im nächsten Raum weitermachte, wanderten seine Gedanken zu dem Buch, dass sie zurzeit im Englischunterricht lasen. Bis Dienstag musste er seine Arbeit dazu abgeben und er war noch nicht dazu gekommen, es zu Ende zu lesen. Das Thema des Buches deprimierte ihn genug, dass er es ziemlich lange vor sich hingeschoben hatte.
Es war geschrieben von Joyce Carol Oates und hatte den ewig langen Titel ‚After the Wreck, I Picked Myself Up, Spread My Wings, and Flew Away’.
Es ging um ein Mädchen, dass seine Mutter verloren hatte. Sie war nicht damit klar gekommen und versuchte daraufhin mit Drogen ihren Problemen zu entfliehen.
Es hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund, jedes Mal, wenn er auch nur daran dachte. Immerhin war sein eigener Vater ähnlich mit dem Tod seiner Frau umgegangen: er hatte versucht der Realität zu entfliehen, indem er trank. Und mit dem Trinken hatte sich seine gesamte Persönlichkeit verändert.
Es hatte lange gedauert, bis Jensen es hatte akzeptieren können - gewöhnen würde er sich daran sicher niemals.
Nur zu klar konnte er sich an das erste Mal erinnern, als sein Vater die Hand gegen ihn erhoben hatte. Nicht der Schmerz war das Schlimmste daran gewesen, sondern der Verrat, die Überraschung und der Unglaube.
Es hatte lange gedauert, bis ihn die Attacken nicht mehr überrascht hatten. Und bis heute tat ihm die Ablehnung und fehlende Zuneigung seines Vaters genauso weh wie die körperliche Gewalt.
Aber es war ein wenig besser geworden in den letzen Monaten.
Jensen war sicher, es lag an dem Wachstumsschub den er gehabt hatte. Plötzlich war sein Vater nicht mehr so viel größer. Allerdings war er wesentlich schwerer und kräftiger. Aber Jensen arbeitete daran. Er hatte vor einiger Zeit angefangen joggen zu gehen, und mit Jared zusammen hatte er sich einige Hanteln besorgt, die sie im Keller der Padaleckis ihren Platz gefunden hatten.
Ja, er trainierte. Und es würde die Zeit kommen, in der sein Vater mit ihm nicht mehr machen konnte, was er wollte.
Da es niemanden, den er kannte, zu interessieren schien, was bei ihnen passierte, - und er wusste, dass Jareds Mutter genau wusste, was vor sich ging und auch viele seine Lehrer es zumindest vermuteten - würde er eben selber etwas unternehmen. Schon allein deshalb, weil er nie wieder Jareds Gesicht sehen wollte, nachdem dieser ihn notdürftig verarztet hatte.
Jensen hatte es immer noch vor Augen. Es war vor etwa sechs Wochen gewesen, nachdem sein Vater völlig ausgerastet war und seinen Rücken blutig geschlagen hatte.
Jared hatte seine Wunden versorgt und war dabei erstaunlich gefasst gewesen für einen elfjährigen. Aber nachdem er fertig war, hatte er vor Jensen gestanden und ihn einfach nur angesehen: in seinen Augen hatten Tränen gestanden, und sie hatten ihn voller Emotionen angestarrt. Schmerz, Angst, Ärger, Verzweiflung.
Jensen wusste, dass er all das einem kleinen Jungen nicht zumuten durfte. Jared sollte mit Kindern in seinem Alter herumhängen und Spaß haben. Er sollte sich über Schule und Baseballspiele Gedanken machen und nicht über Erwachsene, die sich und ihr Leben nicht unter Kontrolle hatten.
Aber Jensen hatte sonst niemanden, zu dem er gehen konnte. Jared war der Einzige, der ihn bei Verstand hielt. Und für ihn würde er kämpfen, für ihn würde er alles tun. Aber er hatte nicht genug Kraft, um ihn aus seinem Leben zu lassen.
Das quietschende Geräusch, das ihre Haustür im Moment beim Öffnen verursachte, riss ihn aus seinen Gedanken.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es noch viel zu früh war - sein Vater dürfte noch gar nicht nach Hause kommen. Ein Klumpen formte sich in seinem Magen, als er um sich herum blickte. Das Wohnzimmer war noch immer nicht aufgeräumt. Anscheinend hatte er sich durch seine Gedanken ablenken lassen und Löcher in die Luft gestarrt, statt seine Aufgaben zu erledigen. ‚Verdammt’, fluchte er im Stillen.
Wenn sein Vater um diese Zeit nach Hause kam, dann gab es eigentlich nur zwei Gründe dafür: er hatte sich mit einer seiner Angestellten gestritten, oder er hatte sich schon ein paar Gläser seines momentanen Lieblingsschnaps genehmigt.
Egal, was es war, es bedeutete Ärger.
Jensen war das so leid und für einen Augenblick überlegte er, ob er nicht einfach durch die Terassentür verschwinden sollte.
Aber was dann passieren würde, wenn er irgendwann zurück kam, wollte er sich lieber nicht vorstellen, und daher biss er die Zähne zusammen und widmete sich wieder den Zeitschriften, die im ganzen Raum zerstreut herum lagen und räumte sie alle in eines der Regale.
Die schlurfenden Schritte, die sich ihm näherten, ließen sein Herz schneller schlagen.
Als er sich schließlich umdrehte, blieb er wie angewurzelt stehen. Die Augen seines Vaters zeigten ihm innerhalb von Sekunden, dass dieser schon eine ordentliche Menge Alkohol intus hatte, und inzwischen betrunken genug war, um leicht unkoordiniert zu sein. Aber das war nicht völlig überraschend und was seinen Atem wirklich stocken ließ war das blaue Auge und der Bluterguss, der sich in dessen Gesicht formte.
Sie starrten sich an, keiner von ihnen schien den Blick abwenden zu wollen.
Jensen hatte keine Ahnung, mit wem sein Vater sich geprügelt hatte. Es war ihm auch egal. Wer immer es war, hatte seinen Vater mehr als nur ein bisschen verärgert.
Und er war derjenige, der diesen Ärger abbekommen würde, soviel war klar.
Es machte ihn wütend. Aber er konnte nicht verhindern, dass die Angst die Wut überlagerte und ihn instinktiv einen Schritt zurückweichen ließ.
Der Ältere kam einige Schritte näher, winkte ihn herbei und deutete nach oben.
Er sagte nicht ein Wort. Das allein machte Jensen viel mehr Angst als Worte es jemals könnten.
Diesmal überlegte er nicht lange, sondern folgte dem unausgesprochenen Befehl und machte sich auf den Weg nach oben. Er würde es einfach hinter sich bringen - egal was er tat, verhindern würde er es sowieso nicht. Immerhin war es besser als der Keller.
Oben angekommen ging er ins Badezimmer, zog sein Sweatshirt aus und legte es ordentlich gefaltet auf den Rand der Badewanne.
Einen Moment lang blickte er sich selbst im Spiegel an und musterte seine verschreckten Augen, die starren Züge in seinem Gesicht. Es war erbärmlich. Dieser Mann konnte ihn auf ein jämmerliches Etwas reduzieren. Er stand hier, und folgte seinen Anweisungen wie ein gut trainiertes Hündchen.
Aber was sollte er anderes tun.
Er wusste, er würde einen Kampf verlieren, selbst wenn sein Vater angetrunken war.
Aber nicht mehr lange, schwor er sich, während er ins so genannte Gästezimmer ging, in dem nur eine nackte Matratze auf dem Boden lag und eine einzelne schmale Kommode neben der Tür stand. In den Schubladen lagen Dinge, über die er lieber nicht näher nachdenken wollte.
Wartend stand er da und fragte sich, wie sein gerade erst verheilter Rücken den heutigen Tag überstehen würde. Er konnte nicht verhindern, dass er leicht zitterte.
Dann erklangen die Schritte auf der Treppe.

Nicht einmal eine Stunde später saß Jensen am Teich.
Es wurde bereits dunkel.
Er hatte sich nicht wieder angezogen, da es nur höllisch wehtun würde, wenn etwas seinen Rücken berühren würde.
Die Kälte war bereits tief in seine Glieder gedrungen, aber er spürte es kaum. Sie schien ihn zu betäuben, auch den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit, die die letzte Stunde in ihm ausgelöst hatte.
Für diesen Moment war jeglicher Gedanken an einen Kampf gegen seinen Vater ausgelöscht. Alles war ihm egal.
Jedenfalls fast alles stellte er fest, als er die leisen Schritte im Gras hörte.
„Jensen?“, erklang Jareds Stimme gleich darauf.
Er konnte den traurigen Blick seines Freundes auf seinem Rücken spüren. Normalerweise versuchte er den Jüngeren zu beruhigen, ihm weiszumachen, dass es ihm gut ging, dass es erst einmal vorbei war.
Aber er mochte nicht sprechen. Er wollte Jared auch nicht anlügen. Schließlich war er sicher, dass der Junge ihn ohnehin durchschaute.
„Na komm schon, komm mit herein, Jense!“
Jareds Stimme lullte ihn ein, während er dem Jüngeren willenlos ins Haus folgte.
Anna Padalecki war ausnahmsweise einmal da. Sie warf nur einen Blick auf sie, und ihr Gesicht wurde ernst und grimmig.
Sie redete mit ihm, ebenso wie Jared, aber er war irgendwie nicht in der Lage, ihre Worte zu verfolgen. Stattdessen ließ er sich einfach ins Badezimmer ziehen, wo es warm war, beinahe heiß, wie er fand. Der Erste Hilfe Kasten wurde herausgeholt, und Mutter und Sohn machten sich an seinem Rücken zu schaffen.
Beinahe wie in Trance saß er da, sein Gehirn schien nichts aufnehmen zu können. Auch das schmerzhafte Prickeln, als seine Glieder langsam aufwärmten, nahm er nur entfernt wahr.
Schließlich jedoch, als er bei den Padaleckis in der Küche saß und eine heiße Tasse Kakao in den Händen hielt, kam er langsam wieder zu sich.
„Hier, iss etwas!“, drängte Jared ihn, und schob einen Teller mit Sandwichs näher an ihn heran.
„Danke“, sagte er mit krächzender Stimme, und obwohl er keinen großen Hunger hatte, griff er nach einem der Brote.
In diesem Moment fiel ihm das Essen ein, das auf dem Herd geköchelt hatte, als sein Vater nach Hause gekommen war.
Inzwischen war es  wahrscheinlich total verbrannt, wenn sein Vater den Herd nicht ausgeschaltet hatte. Aber vielleicht hatte dieser es auch vergessen und die Küche würde irgendwann Feuer fangen. Der Gedanke entlockte ihm ein leichtes Lachen. Das wäre doch mal was. Schließlich war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sein alter Herr inzwischen weiter getrunken hatte und irgendwo bewusstlos herumlag. Allerdings was würde dann mit ihm geschehen? Alleine ließe man ihn sicher noch nicht wohnen und in einem Heim wollte er auch nicht landen. Dort war es auch nicht unbedingt besser als zu Hause.
Mit einem Mal wollte er nichts weiter als hinüber gehen und sehen, ob alles in Ordnung war.
Als er das Jared erklärte, sah dieser ihn verständnislos an.
„Du willst wieder zu ihm gehen?“, fragte dieser ungläubig. „Du kannst hier übernachten.“
„Du weißt doch, dass das nicht geht, Jay“, erklärte Jensen. „Es macht alles nur noch schlimmer.“
„Aber…“
„Es ist okay, wirklich!“, versicherte er. „Er ist jetzt sowieso zu betrunken, um mir heute noch irgendetwas zu tun.“
„Das finde ich nicht beruhigend!“, meinte Jared trotzig und verschränkte die Arme vor die Brust.
Eine Weile sahen sie sich schweigend an, bis Jared sich wieder entspannte und ergeben nickte. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Diskussion hatten.
Gerade als er sich zum Gehen wandte, tauchte Jareds Mutter wieder auf.
„Jensen warte mal“, bat sie ihn. „Ich habe hier etwas für deinen Vater!“
Sie reichte ihm einen dicken Umschlag mit irgendwelchen Unterlagen.
„Was ist das?“, fragte er neugierig und überrascht. Ihre Eltern hatten eigentlich gar nichts miteinander zu tun.
„Einer meiner Patienten ist Meister in einer Werkstatt“, erklärte sie. „Er hat mir erzählt, dass nächste Woche in St. Louis ein Seminar gehalten wird - für Führungskräfte, Meister und Besitzer von Werkstätten hier im Umkreis. Die Handwerkskammer hat das organisiert.“
„Mein Vater macht bei so etwas nicht mit“, antwortete er bedauernd und wollte ihr den Umschlag zurückgeben.
„Weißt du, das ganze Event ist mit zwei Übernachtungen verbunden und Essen und Trinken ist alles Inklusive. Ich könnte mir vorstellen, dass es für ihn interessant ist! Die Handwerkskammer ist interessiert daran, dass die Werkstätten mit ihr zusammenarbeiten. Sie haben sich dem Staat verpflichtet für Ausbildungsplätze zu sorgen und den Qualitätsstandard sicher zu stellen. Deshalb lassen sie für die Teilnehmer ein bisschen was springen. Da ist ein Flyer mit im Umschlag, den dein Vater sicher interessant findet…“
Sie meinte es gut, dessen war er sich sicher. Aber er wusste nicht, ob es eine gute Idee war und wie sein Vater darauf reagieren würde.
„Weißt du, Jensen, das Ganze geht von Monatnachmittag bis Mittwochabend! Allerdings  würde er dann deinen Geburtstag verpassen, also hast du vielleicht Recht und solltest ihm das besser doch nicht zeigen…“
Sie zwinkerte ihm zu und verschwand mit einem Winken im Wohnzimmer.
Jensen starrte ihr mit einem Kopfschütteln hinterher, aber er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er könnte sich ein schöneres Geburtstagsgeschenk wirklich nicht vorstellen.
„Das klappt schon!“, versuchte Jared ihn aufzumuntern.
Jensen wünschte sich nichts mehr, als das er Recht hatte.

24. Januar 1995

Das Licht der Wintersonne weckte Jensen am Morgen seines Geburtstages.
Eine Weile lag er da, sah zum Fenster hinaus und ein fröhliches, glückliches Grinsen lag auf seinem Gesicht.
Er war allein.
Als er am gestrigen Nachmittag von der Schule nach Hause gekommen war, hatte sein Vater tatsächlich schon das Haus verlassen gehabt.
Er hatte es nicht glauben können. Aber es war dunkel geworden und irgendwann im Laufe des Abends war ihm bewusst geworden, dass sein Vater tatsächlich weg war. Es waren nur wenige Tage - aber für ihn war es der Himmel auf Erden.
Ein paar Tage, in denen er sich nicht darüber Gedanken machen musste, was er noch zu erledigen hatte, wann sein Vater nach Hause kommen würde, und was ihn vielleicht noch erwarten würde. Er hatte sich seit Jahren nicht mehr so frei und unbeschwert gefühlt.
Schließlich schwang er die Beine aus dem Bett und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.
In der Schule war es Tradition, dass man keine Hausaufgaben aufbekam, wenn man Geburtstag hatte. Er würde also den Nachmittag machen können, was er nur wollte. Er hoffte, dass Jared Lust haben würde, etwas mit ihm zu unternehmen. Diese Freiheit wollte er mit dem Menschen teilen, der als Einziger immer für ihn da war.
Nachdem er geduscht und angezogen war, machte er sich auf den Weg nach unten.
Der Geruch von gebratenem Speck trat ihm in die Nase und er hielt überrascht inne.
Anscheinend war er noch am Träumen.
Doch als er die Küche betrat, erwarteten ihn ein gedeckter Tisch und ein strahlender Jared.
„Happy Birthday, Jensen!“, rief der Jüngere und umarmte ihn stürmisch, vorsichtig darauf bedacht, seinen noch immer nicht verheilten Rücken zu schonen.
Er ließ es zu, und genoss einen Augenblick die Zuneigung seines Freundes. Es war lange her, dass ihn jemand in den Arm genommen hatte. Es tat gut.
„Danke, Jared!“, sagte er mit einem Lächeln und ließ sich auf dem Stuhl nieder, auf den Jared wies.
Er hatte das Gefühl, als würde das sein bester Geburtstag überhaupt werden.

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