Münteraner Nächte sind lang

Jun 13, 2011 22:37



Wie hatte er sich bloß dazu überreden lassen können? Normalerweise war er überhaupt nicht der Mensch, der sich auf solche Sachen einließ. Aber Nadeshda hatte ihm so lange in den Ohren gelegen, bis er schließlich aufgegeben und zugesagt hatte.

Angefangen hatte es damit, dass Thiel in letzter Zeit ein wenig maulig gewesen war, wie Nadeshda es ausdrückte. Nachdem ihre Versuche, ihn auf der Arbeit ein wenig aufzumuntern, kläglich gescheitert waren, hatte sie ihn eines Nachmittags gefragt, ob er nicht mit ein paar Kollegen am nächsten Wochenende um die Häuser ziehen wollte. Es war wohl im Präsidium kein Geheimnis, dass seine privaten Kontakte ziemlich dürftig aussahen. Und da er sich ehrlich gesagt nach ein wenig Ablenkung und Gesellschaft sehnte, willigte er nach kurzem Zögern ein.

Sie hatten sich am frühen Abend im ‚Bullenkopp‘ getroffen und mit einigen gemütlichen Bieren angefangen. Thiel war nach kurzer Zeit auch mit den Kollegen ins Gespräch gekommen und tauschte sich gerade mit einem gewissen Thomas von der Sitte angeregt über die letzten Spiele des FC St. Pauli aus. Er hatte sich seit langem nicht mehr so wohl gefühlt und war froh darüber, Nadeshdas Bitten nachgegeben zu haben. Erst jetzt fiel ihm auf, wie selten er sich doch mit Sachen beschäftigte, die nichts mit seiner Arbeit zu tun hatten. Natürlich waren da die gelegentlichen Abende, die er mit Boerne verbrachte, aber genaugenommen redete er auch dann meistens nur über die Arbeit oder lauschte einem von Boernes endlos scheinenden Monologen. Er musste bei der Vorstellung lächeln und fragte sich - nicht zum ersten Mal an diesem Abend - warum seine Gedanken immer wieder zu Boerne schweiften. Er schüttelte leicht den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Gesprächen der anderen zu.

Nach der Kneipe ging es weiter ins Minimi, einer gemütlichen Lounge, in der sie langsam auf Cocktails umstiegen. Dieses klebrig süße Zeug war ja normalerweise gar nicht sein Fall, aber heute war ihm einfach danach, mal etwas Neues auszuprobieren. Außerdem wollte er möglichst schnell dieses leicht melancholische Gefühl ertränken, dass im Verlaufe des Abends angefangen hatte, sich in ihm breit zu machen. Er wusste nicht genau wieso, aber der Anblick der durchweg fröhlichen und unbeschwerten Kollegen, der ihm anfangs so gut getan hatte, bewirkte nun beinahe das Gegenteil. Ihm wurde immer mehr bewusst, dass er nicht ganz dazu gehörte. Auch mit der Musik konnte er nicht wirklich viel anfangen, wie er feststellen musste. Mit der Zeit kam er zu dem Schluss, dass ewig währende Monologe gar nicht so schlimm waren, wie er sich versucht hatte weis zu machen. Immer stärker verspürte er den Wunsch, mit einem Bier in der Hand gemütlich auf seinem Sofa zu sitzen und den Abend entspannt, wenn auch alleine, vor dem Fernseher zu verbringen. Oder gemeinsam mit Boerne bei einem Glas Rotwein und einem gemeinsam gekochten Essen. Er seufzte und nahm noch einen Schluck von dem blauen Cocktail, den ihm einer seiner Kollegen vor die Nase gestellt und dabei irgendetwas von einem Swimmingpool genuschelt hatte... Er schüttelte sich, das Zeug war aber auch süß. Nadeshda kam zu ihm herüber und sah ihn mit leichter Besorgnis an.

„Alles in Ordnung, Chef?“

„Ja ja, alles okay.“, antwortete Thiel und rang sich ein gequältes Lächeln ab.

„Ist wohl nicht so Ihre Location, hm?“

„Nicht meine was...?“, fragte er etwas verwirrt. Ihm wurde einmal mehr bewusst, dass er so langsam aber sicher alt wurde.

„Dieser Laden scheint nicht gerade ihr Fall zu sein.“, wiederholte Nadeshda mit einem Zwinkern. „Aber wir wollten uns sowieso gerade auf den Weg in die nächste Bar machen. Sind sie noch dabei?“

„Achso… ja… meinetwegen. Solange die da auch etwas spielen, das man Musik nennen kann.“, antwortete Thiel und war froh, dieses merkwürdige Getränk seinem Schicksal überlassen zu können.

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Sie hatten sich entschieden, den Weg zur nächsten Örtlichkeit zu Fuß zurückzulegen. Die frische Luft zusammen mit der Bewegung war eine wahre Wohltat. Thiels Stimmung besserte sich merklich und er beteiligte sich wieder an den Gesprächen der anderen. Er war gerade dabei, einige Geschichten aus seiner Zeit in Hamburg zum Besten zu geben, als die ganze Gruppe unvermittelt anhielt. Waren sie etwa schon da? Thiel war ein wenig enttäuscht, da er den kurzen Fußmarsch und die relative Ruhe eigentlich als ganz angenehm empfunden hatte. Als er jedoch Nadeshdas erwartungsvollen Blick sah, gestattete er sich seinerseits einen Blick auf das Schild der Bar, auf dem in großen Buchstaben ‚Na Und…?!’ stand. Er runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern, wo er den Namen schon einmal gehört hatte, aber er kam beim besten Willen nicht drauf.

Gerade eingetreten, fanden sie sich auch schon in dichtem Gedrängel wieder. Sie suchten sich einen Weg durch die Menge und ergatterten einen Tisch in einer ziemlich abgelegenen Ecke. Zusammen mit Nadeshda machte sich Thiel auf den Weg zur Theke und bestellte eine Runde Getränke, wobei er mit Erleichterung feststellte, dass hier auch Bier angeboten wurde. Während sie auf ihre Bestellung warteten, sah Thiel sich genauer in der Bar um. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es hier auffällig viele männliche und weibliche Paare zu geben schien. Auf den zweiten Blick stellte er fest, dass einige der Frauen gar keine Frauen zu sein schienen… So langsam regte sich etwas in seinem Hinterkopf und er wusste wieder, wo er den Namen der Bar schon mal gehört hatte. In irgendeinem Gespräch mit Boerne war dieser Name einmal aufgetaucht. War das nicht der Laden, den er damals mit seiner Nichte besucht hatte? Irgendwie hatte er sich etwas anderes vorgestellt als… das hier.

Noch immer in Gedanken versunken, suchte er sich einen Weg zurück durch die vielen Leute, wobei er große Mühe hatte, nicht einen Großteil der Getränke zu verschütten. Er stellte die Gläser auf dem Tisch ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Die anderen waren schon wieder in ihre Gespräche vertieft, was bei der Umgebungslautstärke gar nicht so einfach war. Irgendwie war ihm die Lust vergangen, sich mit einzubringen, da seine Gedanken immer wieder zu Boerne wanderten. Ging er öfter in solche… Bars? Warum waren sie eigentlich noch nie auf ein Bier - oder einen Wein - unterwegs gewesen? Und warum dachte er eigentlich über solche Sachen nach? Weshalb hatte er überhaupt auf einmal so ein Interesse daran, öfter etwas mit Boerne zu unternehmen?

Thiel musste wohl einen ziemlich abwesenden Eindruck gemacht haben, denn nach kurzer Zeit sprach Nadeshda ihn an.

„Na Chef, wollen wir nicht mal ’ne kleine Runde drehen?“ Sie sah ihn auffordernd an und nahm ihm das Glas aus der Hand.

„Meinetwegen…“, gab Thiel nach und erhob sich. „Ich heiße übrigens Frank, das ‚Chef’ kannst Du heute Abend ruhig mal weg lassen.“, fügte er mit einem Grinsen hinzu.

Er folgte Nadeshda, die ihm wieder sein Bier in die Hand drückte. Sie schlängelten sich durch die kleinen Gruppen, die sich an den möglichsten und unmöglichsten Stellen zusammengefunden hatten und steuerten auf die immer lauter werdende Musik zu, bis sie schließlich am Rande der Tanzfläche zum Stehen kamen. Es war richtig was los. Thiel ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und versuchte das aktuelle Lied wiederzuerkennen. Während er noch mit seinem dürftigen Englisch kämpfte, musterte er die Leute in seinem näheren Umfeld genauer. Bei dem ganzen bunten Geleuchte und dem Stroboskoplicht war das gar nicht so einfach. Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und hätte sich im nächsten Moment beinahe verschluckt. Er blinzelte und sah genauer hin. Das war doch nicht… nein, das lag garantiert an der merkwürdigen Beleuchtung.

„Sag mal… Frank, ist das da drüben nicht Professor Boerne?“ Nadeshda sah ihn fragend an.

Er litt also doch nicht an Halluzinationen. Mitten auf der Tanzfläche, fast verdeckt von den anderen Gästen, tanzte Boerne. Ohne seinen Anzug und die Krawatte hätte er ihn beinahe nicht erkannt.

„Ja, sieht ganz so aus.“, erwiderte Thiel etwas lahm.

„Und wer ist der Typ, mit dem er da tanzt?“

‚Welcher Typ?‘, fragte sich Thiel, der im Moment nur Augen für Boerne hatte. Aber Nadeshda hatte Recht, der andere war nicht alleine auf der Tanzfläche, sondern wurde recht eindeutig von einem anderen Mann… angetanzt. Eine passendere Beschreibung fiel ihm einfach nicht ein. Er merkte, wie sich ein kaltes Gefühl in ihm breit machte. Während Thiel noch überlegte, warum er gerade am liebsten sein Glas gegen die nächste Wand geworfen hätte, stieß Nadeshda ihn an.

„Na los, worauf wartest Du noch? Steh hier doch nicht rum wie angewachsen!“ Sie sah ihn mit einem breiten Grinsen an.

„Äh… was?“ Thiel warf ihr einen irritierten Blick zu.

„Jetzt sieh mich nicht so entgeistert an. Ich merk‘ doch, was los ist. Also wegen mir brauchst Du dich hier nicht irgendwie zurückhalten oder so.“

„Nadeshda, ich bin doch nicht… ich meine… ich kann doch nicht einfach…“, stammelte Thiel überrumpelt und ein wenig hilflos vor sich hin.

„Keine Angst, von mir erfährt’s keiner“, versicherte sie ihm mit einem verschwörerischen Zwinkern und nahm Thiel erneut das Glas aus der Hand, bevor sie ihn mit sanftem Druck vorwärts schob.

Als er sich hilfesuchend nach Nadeshda umsah, lächelte sie ihm aufmunternd zu und verschwand aus seinem Sichtfeld. Na toll. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal getanzt hatte. Auf jeden Fall war es schon eine ganze Weile her. Thiel versuchte, sich mit dem Rhythmus anzufreunden und bahnte sich einen Weg durch die Leute. Er schlug einen Bogen, damit Boerne ihn nicht sofort in der Menge ausmachen konnte, um schließlich nur noch wenige Schritte hinter ihm zu stehen. Der andere schien völlig in der Musik und seinen Bewegungen versunken zu sein, was Thiel für den Moment erst mal ganz Recht war. Er überlegte, wie er sich Boerne gegenüber bemerkbar machen sollte. Auf die Schulter tippen? Nein, zu plump. Sich vor ihm aufbauen? Nein, zu direkt. Er warf einen Blick auf die umliegenden Pärchen und kam zu dem Schluss, dass Dreistigkeit anscheinend der Weg zum Erfolg war. ‚Außerdem nimmt Boerne es ja auch nicht so genau, was unangekündigte körperliche ‚Übergriffe‘ angeht‘, dachte er mit einem Grinsen.

Er legte seine Hände an Boernes Hüfte und drückte sich leicht an den anderen, während er sich zum Rhythmus bewegte. Boerne zögerte kurz, fiel dann aber in die Bewegung mit ein, während er seinen Kopf leicht zur Musik bewegte. Thiel sah mit Genugtuung, wie der andere Mann, der bis zu diesem Moment mit Boerne getanzt hatte, sich mit einem leicht säuerlichen Gesichtsausdruck abwandte und von der Tanzfläche verschwand. Er konzentrierte sich wieder ganz auf Boerne und ihre gemeinsamen Bewegungen, ließ seine Hände ein wenig auf und ab gleiten. Sie tanzten einige Minuten weiter und fanden sich jedes Mal problemlos in das neue Lied ein. Thiels Kopf war wie leer gefegt, er genoss einfach nur das Gefühl der Nähe des anderen, er hätte sich ewig in der Musik fallen lassen können. Viel zu spät merkte er, dass Boerne im Begriff war, sich umzudrehen. Bevor er den anderen noch irgendwie hätte festhalten können, sah er Boerne auch schon direkt in die Augen. Dessen anfänglich erstaunter Gesichtsausdruck wich aber fast im selben Moment einem glücklichen, beinahe schon erleichterten Lächeln. Boerne schloss die Augen, legte die Arme auf Thiels Schultern und begann, sich wieder zur Musik zu bewegen.

We're caught in this moment I won't let you go
And the world around us won't stop turning tonight

Thiel musste grinsen, als er den Sinn der Zeilen verstand und schloss ebenfalls die Augen, um sich erneut in der Musik und Boernes Nähe zu verlieren. Sein Herz schlug Purzelbäume und er fühlte sich einfach nur glücklich; die Melancholie der vergangenen Stunden war komplett vergessen.

Heart flips up and down
Dancing on sleazy ground
Betcha want to get it on

Boerne fuhr mit seinen Händen über Thiels Schultern und legte sanft seine Hände in dessen Nacken. Thiel öffnete die Augen und sah direkt in die Boernes und ehe er wusste, wie ihm geschah, spürte er die Lippen des anderen auf seinen und ein angenehmes Kribbeln breitete sich in ihm aus.

I'm losing control right now and I feel it's right
I like… I like…

Er schlang seine Arme um Boerne und zog ihn an sich. Sie lösten sich kurz voneinander, nur um den absolut zufriedenen Gesichtsausdruck des jeweils anderen wahr zu nehmen und daraufhin einen weiteren, aber weitaus längeren Kuss auszutauschen.

Tatort Münster, thiel/boerne, p-16, p-12, fanfiction

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