PG-15
April 2007
Ich nehme den Auflauf gerade rechtzeitig aus dem Backrohr.
Die neuen Gardinen, die nun mein Küchenfenster zieren, flattern leicht im der lauen Brise und ich schließe noch das gekippte Fenster, bevor ich mich dem Mittagessen widme. Susanne hatte wirklich Recht, der Stoff ist seinen Preis wert. Das Muster hat es mir auch angetan, so wirkt die Küche sofort viel heller und freundlicher als mit den alten, dunkelblauen Vorhängen.
Ich mache die Ofentür zu und decke das Gericht erstmal mit einem Küchentuch ab, bevor ich mir die Schürze abbinde und die Treppe nach oben steige, um meinen Sohn und seinen Teamkameraden zum Mittagessen zu holen.
Er hat nun schon seit vier Tagen Osterferien und ich habe ihn, um ganz ehrlich zu sein, noch nicht viel arbeiten sehen. Es war damals sowieso ein fragwürdiger Entschluss gewesen, ihm diese Play Station zu kaufen. Natürlich wirkt sie sich auf sein Lernpensum aus, und wenn dann noch der Fussball dazu kommt... tja, es ist schwierig. Ich will sicher nicht diejenige sein, die ihm das Leben schwer macht, aber über einen Schulabschluss gibt es nichts zu diskutieren. Das ist ein Muss. Ohne Abitur wird auch kein Fussball gespielt, das weiß er selber. Aber noch bleiben ihm zwei Jahre und ich werde in Anwesenheit einer seiner Kumpels das Thema sicher nicht auf den Tisch legen. So viel Verstand muss man als Mutter haben.
Auf seiner Tür hängt wie immer schräg die Wimpel von der Alemannia. Drinnen ist das leise Dudeln der Play Station Musik zu hören, ansonsten ist es erstaunlich still. Beim Zocken ist Christoph normalerweise immer sehr laut, manchmal sogar vulgär. Sanft klopfe ich gegen die Tür und öffne sie nach einem kleinen Moment.
Natürlich ist es unaufgeräumt. Ich habe schon vor einigen Jahren aufgegeben, ihn zur Ordnung zu zwingen. Mein Mann hat es auch gesagt: Irgendwann wird der Tag kommen, an dem etwas Wichtiges, etwa sein neuer Vertrag, in dem Chaos untergeht und er ernsthafte Probleme bekommt.
Schon will ich die Tür etwas weiter öffnen, um die zusammengeknüllte Unterhose aus dem Weg zu räumen, als ich etwas registriere.
Christophs Play Station steht so, dass der Spieler mit dem Rücken zur Tür sitzen muss, um den Bildschirm in Sicht zu haben. Ich bleibe mitten in der Bewegung stehen und sehe, wie sich der andere Junge, Lewis, zu meinem Sohn gebäugt hat und ihm einen sanften Kuss an den Hals drückt. Christoph bewegt sich nicht, hat den Kopf zur Seite geneigt. Mir fallen sofort seine roten Ohren auf, ein sicheres Zeichen, dass er verlegen oder aufgeregt ist.
Ich stoße gegen die Tür und sie fahren auseinander. Christophs Blick ist verschreckt und Lewis hat sich schnell wieder über seine Konsole gebeugt.
Ich verkünde laut, dass das Mittagessen fertig sei und hebe die paar Kleidungsstücke auf, die in Reichweite sind, bringe sie trotz allen guten Vorsätzen für ihn hinunter in den Waschkeller.
Das Bild von meinem Sohn und seinem Freund kreist in meinem Kopf herum, während ich seine T-shirts zurecht zupfe und im Buntwäschekorb verstaue. Ich bin mir nicht sicher, wie ich die ganze Situation einschätzen soll. Christoph ist kein Junge, der sonderlich viel körperliche Nähe braucht. Ich war früher schon recht enttäuscht, als er sich in der zweiten Klasse nicht mehr auf den Arm nehmen lassen wollte, ganz zu schweigen von Kuscheln vor dem Schlafengehen. Unter Freunden dürfte das genauso der Fall sein... Herrgott, das sind Teenager, pubertierende Jungen. Sie zeigen doch prinzipiell keine überflüssigen Emotionen.
Ich streiche mir eine Stirnfranse aus dem Gesicht und mache mich wieder auf dem Weg nach Oben, in die Küche, wo die beiden schon bei gedecktem Tisch auf mich warten.
Ich teile den Kartoffelauflauf gerecht in zwei Portionen und schmiere mir selbst ein Brot. Zu viel Käse, zu viele Kalorien. Ich wachse schon lange nicht mehr, brauche so viel überflüssigen Nährstoff nicht. Die beiden Sportler allerdings schon.
Ich versuche, normal zu sein, wie immer. Frage sie, wie es im Verein läuft, ob Lewis auch Ferien hätte? Der Junge nickt nur. Er hat auf mich schon die letzte paar Male einen sehr aufgeweckten Eindruck gemacht, fröhlich, kumpelhaft. Ich habe jetzt noch das Gefühl, dass er wesentlich dazu beigetragen hat, Christoph in die Mannschaft zu integrieren.
Heute sehe ich ihn mit neuen Augen. Ich bemerke die Seitenblicke, die er meinem Sohn wiederholt zuwirft, auch wie er meinen Blick meidet.
Es sind beides fast noch Kinder. Wissen sie wirklich, was sie da machen? Der Gedanke ist unwillkürlich und ich esse rasch mein Brot zuende, stelle die frischen Kekse von den Nachbarn als Nachtisch auf die Küchentheke und verschwinde wieder im Waschkeller. Dort sortiere ich nochmal alles durch, fische ein paar grassbefleckte Socken von den teuren Hemden meines Mannes weg und fühle mich schrecklich. Natürlich werde ich meinen Sohn lieben, egal was er wird, für wen auch immer er sich entscheidet.
Aber es tut sehr weh, dass er weder mir noch seinem Vater etwas von dieser Beziehung erzählt hat. Wir sind anscheinend nicht vertrauenswürdig genug. Ich schütte Waschpulver und stopfe Kleidungsstücke in die Maschine hinein, frage mich dabei, ob meine Erziehung gescheitert ist. Und ob ich meinen Mann darauf ansprechen sollte. Ich entscheide mich dafür, hoffe, dass er Verständnis hat und meinem Beispiel folgt - ich werde nichts sagen.
Wenn wir jemals davon erfahren sollten, soll es von Christoph ausgehen. Ich möchte, dass er bereitwillig mit Lewis, oder wer auch immer es in der Zukunft sein mag, zu mir kommt und dabei weiß, dass ich seine Entscheidung respektiere.
Ich wasche mir die Hände und klettere dann wieder hinauf in die Wohnung. Sie stehen in der Küche und teilen sich den letzte Keks, haben wie immer alles gründlich aufgegessen.
Schnell mache ich mich ans Abräumen, bin mir dabei sehr wohl bewusst, dass ich die Jungs das ab und zu auch mal selber machen lassen sollte. Aber nicht heute.
Lewis bedankt sich bei mir für das Essen, lächelt höflich. Er ist ein netter Bursche, und wenn Christoph... ach Himmel, der Gedanke.
Schnell spüle ich die paar Teller mit der Hand ab und greife zum Küchentuch, um sie zu trocknen. Von oben höre ich wieder das Pfeiffen und Zischen der virtuellen Waffen.
Nach etwa zwei Stunden kommen sie wieder gemeinsam herunter. Der Vorfall vor dem Mittagessen ist anscheinend vergessen und sie lachen über etwas. Ich biete Lewis an, ihn nach Hause zu fahren, doch er lehnt dankend ab. Christoph bringt ihn noch vor die Tür, wo er in Socken auf den Stufen stehen bleibt, um unbedingt noch die letzte Worte an den Mann zu bringen.
Als er wieder herein kommt, geht er zuallererst zu dem Fenster im Wohnzimmer, das auf die Straße blickt. Wie der kleine Junge, der er einmal war, kniet er dort auf dem Sofa und schaut seinem Freund nach.
Ich verschränke die Hände ineinander und schlucke still. Dann gehe ich zu ihm hinüber und streiche ihm durch seinen klebrigen, gegelten Schopf. Sofort protestiert er, rückt wieder vom Fenster weg.
Ich verspreche ihm fürs Abendessen einen Pudding und vergesse auch nicht, ihm nachzurufen, dass er mal wieder was für die Schule tun soll. Daraufhin bekomme ich nur ein Brummen.
Er wird sehr viel länger brauchen, um uns von dieser Beziehung zu erzählen. Erst nachdem er auszieht, nachdem er seinen Profivertrag unterschreibt.
Aber ich weiß noch nichts davon.
Gehe in die Küche, um den Pudding zu kochen.