Soziale Distanz
Einen Esel hat er ihn genannt. Einen royalen Esel.
Es ist über drei Jahre her, aber Arthur hat es nicht vergessen, hat diesen unverschämten Bengel vor Augen als sei es gestern gewesen: ahnungslos, respektlos und mit mehr Zivilcourage als gut für ihn - gut für irgendwen - war.
Und dann musste dieser Idiot losgehen und ihm das Leben retten, und Uther war nichts Besseres eingefallen als ihn dafür zu belohnen - wenn man es denn als Belohnung bezeichnen konnte, Merlin damit zu würdigen, Arthurs Kammerdiener zu werden.
Seit diesem Zeitpunkt haben sie einander am Hals, und Arthur gesteht sich ein, was er sich nie zuvor eingestanden hat: Merlin ist dank dieses Arrangements bei weitem schlimmer dran als er.
Überall, wirklich überallhin muss er ihn begleiten, auf allen Streif- und Kriegszügen ist er an seiner Seite, und Arthur kommt der quälende Verdacht, dass dieser schmalschultrige, blasse Bauernlümmel es irgendwie geschafft hat, ihm im Laufe der Jahre immer und immer wieder das Leben zu retten.
Anders lassen sich die vielen überraschenden Triumphe einfach nicht erklären, zu denen Arthur aus einer unerklärlichen Ohnmacht aufgewacht ist - anders lässt sich dieses merkwürdige Lächeln nicht erklären, mit dem Merlin ihm so oft zu seinen Siegen gratuliert hat. Als wisse er etwas, und nur er - als habe er ein Geheimnis, das zu gut ist, um es mit anderen zu teilen.
Sicherlich, es ist nur schwer vorstellbar und noch viel schwerer logisch zu erklären, aber Arthur hegt die unauslöschliche Befürchtung, dass Merlin tatsächlich sowas wie ein waschechter Held ist.
Denn Merlin, und Arthur wird ihm dafür den Kopf abreißen, sobald er aufwacht, hat es tatsächlich gewagt, ihm schon wieder das Leben zu retten.
Warum er sich vor ihn geworfen hat, ist Arthur nicht ganz klar - immerhin ist Arthur derjenige, der eine verdammte Rüstung trägt - aber Merlin hat es getan, und wenn Arthur die Augen schließt, hat er noch immer das Bild vor Augen, wie der Pfeil Merlins Körper durchbohrt.
Es ist über eine Woche her, und Merlin ist noch nicht aufgewacht, und Gaius schweigt, wenn Arthur ihn fragt, wie lange es noch dauern wird, und Arthur wird schlecht bei dem Gedanken, dass es möglicherweise nie passieren wird.
Aber Merlin ist zäh, ist stur wie ein Maulesel, hat immer Widerworte, immer eine unbequeme Meinung, die er Arthur ohne Rücksicht auf Verluste mitteilen muss, und er wird nicht einfach so sterben.
Also sitzt Arthur an seiner Seite und wartet darauf, dass er aufwacht.
Merlin liegt in seinem Zimmer, in seinem Bett, und Arthur musste mit niemandem streiten, als er die Anweisungen dazu gegeben hat. Sein Vater ist nicht in der Verfassung, Morgana ist nicht mehr da (und Arthur durchfährt ein Stich bei dem Gedanken, aber sie hätte vermutlich nicht einmal versucht, ihn aufzuhalten) und obwohl er erleichtert sein sollte, dass es so einfach war, ist er nicht erleichtert - er fühlt sich allein.
Sicher, Gwen ist da, Gwaine ist da, Lancelot ist da … Arthur ist in der Tat alles andere als allein, aber derjenige, der ihm für gewöhnlich am meisten auf den Geist geht, derjenige, der ihn mit seinen respektlosen Bemerkungen zur Weißglut treiben kann, schweigt, und es ist einfach nicht das Selbe ohne ihn.
Arthur weiß nicht mehr, wann er zuletzt geschlafen hat, zuletzt gegessen, wann er sich zuletzt gewaschen hat; und es ist nicht so, als habe er sich nicht selbst gesagt, dass Merlin im Prinzip nicht mehr ist als ein Bediensteter, aber dann hat er sich selbst derartig empört widersprochen, dass es ihn erschreckt hat - hat sich selbst darauf hingewiesen, dass Merlin sein Freund ist, sein bester, und dass er sich schämen sollte, ihn auch nur im Geiste herabzusetzen.
Merlin sieht verloren aus in dem großen Bett, noch bleicher als sonst, sein Körper ausgezehrt von dem Blutverlust und dem Gift, mit dem die Pfeilspitze versetzt war, und das vermutlich dafür verantwortlich ist, dass er noch immer nicht aufgewacht ist.
Arthur starrt ihn an, und obwohl seine Augen brennen und er dringend Schlaf braucht, kann er den Blick nicht abwenden. Merlin könnte jede Sekunde aufwachen, und Arthur will bei ihm sein, wenn er aufwacht, damit er ihn anschreien kann.
Denn obwohl Arthur eine gewisse Dankbarkeit verspürt dafür, dass Merlin ihm das Leben gerettet hat, so ist er andererseits doch fürchterlich wütend. Denn es ist überhaupt nicht sicher, dass Merlin ihm das Leben retten musste.
Arthur trägt eine Rüstung, Merlin nicht. (Und an dieser Stelle könnte Arthur darüber nachdenken, warum eigentlich nicht, schließlich muss Merlin doch immer überall mit hin und schwebt somit in beständiger Lebensgefahr, aber diesen Gedankengang verdrängt er lieber, weil er sich sowieso schon die Schuld an allem gibt.)
Hätte Merlin auch nur eine Sekunde nachgedacht, hätte er einsehen müssen, dass überhaupt kein Grund bestand, sich vor Arthur zu werfen. Aber Merlin hat nicht nachgedacht. Er denkt nie nach.
Der Junge ist in der Tat bemerkenswert dumm, wenn Arthur jetzt darüber nachdenkt. Nur ein Idiot würde für jemanden wie ihn sein Leben aufs Spiel setzen.
Arthur durchfährt ein Zittern, und er schließt einen Moment lang die Augen - und als er sie wieder aufschlägt, blickt er direkt in Merlins, die ihn erschöpft beobachten.
Kurz denkt Arthur, sein Verstand spiele ihm einen Streich, aber dann teilen sich Merlins Lippen, und er spricht, macht diesen Moment so real, wie nur er es kann. „Du siehst schrecklich aus.“
Das Bedürfnis, ihn anzuschreien, verlässt Arthur, er hat keine Energie mehr, wütend auf ihn zu sein. Er lächelt nur, müde, erleichtert und dankbar, und Merlin blickt sich verwirrt um, bevor seine Augen wieder auf Arthur zu ruhen kommen. „Bin ich gestorben?“
Das entlockt Arthur ein schwaches Lachen, und er schüttelt den Kopf, steht auf und muss sich am Bettpfosten festhalten, weil seine Knie ihn nicht tragen wollen. „Nein. Diesmal nicht.“
Er wendet sich ab und geht, weil er Merlin sonst umarmen würde, und es gehört sich nicht für den Thronfolger, einen einfachen Bediensteten zu umarmen, selbst wenn dieser Bedienstete der beste Freund ist, den er je haben wird.
Teil 2