Hier mein Beitrag zum Tatort-Adventskalender 2018. Ich entschuldige mich schon mal im voraus, falls ich bei jemandem Ideenklau betrieben habe. Wenn ja, war es auf jeden Fall unwissentlich. Es ist schwer, bei dem Thema originell zu sein und ich habe die letzten Jahre nur wenige Tatort-Geschichten gelesen. Achja, eine Ausnahme: dass Boerne gerne Kuchen bäckt, habe ich von cricri_72 übernommen. :-)
Tatort Münster, Romanze, Slash, P12
Sich öffnende Türen
Als Thiel morgens ins Büro schlurfte, fiel ihm zunächst gar nichts auf. Er war verkatert von zuviel Glühwein gestern, sein Kopf dröhnte und er konnte kaum aus den Augen schauen. Müde ließ er sich auf den Stuhl fallen und beäugte das Chaos auf seinem Schreibtisch. Der Eingangskorb quoll über (von wegen papierloses Büro!), Notizzettel überall und dazwischen Stifte, Büroklammern und sogar eine leere Tüte vom Bäcker. Kein Wunder, dass die Putzfrau sich immer wieder darüber beschwerte, dass sie seinen Tisch nicht sauberwischen konnte.
Schließlich fiel sein Blick auf einen A4-großen, in Plastikfolie eingeschweißten roten Pappblock. Der war gestern noch nicht dagewesen. Langsam wurde Thiel ein wenig munterer, die Sinne geschärft durch jahrzehntelang antrainierte Aufmerksamkeit fürs Detail. Gleichzeitig hatten seine Erfahrungen ihn aber auch Vorsicht gelehrt: es musste nicht unbedingt harmlos sein, wenn auf dem Tisch eines Kriminalkommissars plötzlich ein Gegenstand unbekannter Herkunft lag. Ohne den Block zu berühren, begann er die kleine Schrift darauf zu entziffern (wahrscheinlich brauchte er wirklich so langsam eine Brille, ging ihm zum wohl hundertsten Mal durch den Kopf): Erotische Figuren aus Vollmilch-Schokolade. Kakao: 32% mindestens. Kann Spuren von Haselnüssen enthalten...
Erotische... was zum Teufel? Gerade noch konnte Thiel sich daran hindern, den Block mit den Händen umzudrehen und griff stattdessen zum Brieföffner. Vorsichtig drehte er das Corpus Delicti herum und starrte auf die bunte Vorderseite. Ganz offensichtlich handelte es sich um einen Adventskalender, aber keinen von der üblichen Sorte, mit harmlosen Weihnachtsmotiven als Hintergrundbild. Stattdessen lächelte ihn ein junger Mann verschmitzt an, auf dem Kopf eine neckische Nikolausmütze. Sein nackter Oberkörper war dezent gebräunt und mit einem ansehnlichen Sixpack versehen. Eine Spur dunkler Haare verlief von seiner Brust hinunter bis zu den tief auf den Hüften liegenden Jeans.
Thiel schluckte. War das ein schlechter Scherz seiner Kollegen? Oder doch ein Versuch Krimineller, ihn zu unüberlegten Handlungen zu provozieren? Wieder nahm er den Brieföffner zur Hand, um eines der Türchen zu öffnen und den Inhalt näher zu untersuchen. Ein plötzliches Räuspern ließ ihn stattdessen hochschauen. Nadeshda stand vor ihm, eine dampfende Kaffeetasse in der Hand, ihr Blick verwirrt. „Was machen Sie denn da, Chef?“
Thiel legte den Brieföffner nieder. „Ich versuche herauszufinden, was es mit diesem... seltsamen Kalender auf sich hat. Sie wissen nicht zufällig etwas darüber?“ Seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. Falls es aber jemals in seiner Macht gestanden hatte, Nadeshda einzuschüchtern, dann war das sicherlich viele Jahre her. Stattdessen zuckte sie nur mit den Schultern. „Den hat mir eine Freundin geschenkt. Ist ja auch ganz witzig, aber ehrlich gesagt, mag ich diese billige Schokolade nicht. Macht nur dick, ohne dass man etwas davon hat. Ich liebe ja diese dunkle Schokolade aus Ecuador, mit mindestens 80 Prozent Kakaoanteil. Die müssten Sie mal probieren! Aber das hab Ihnen ja schon oft genug geraten und Sie stehen immer noch auf den Billigkram.“ Sie schmollte ein wenig.
Thiel schnaubte nur. Er konnte mit dieser Art Schokoladen-Snobismus nichts anfangen. Schokolade hatte süß zu sein und auf der Zunge zu zergehen, sonst hatte er keine Ansprüche daran. Normalerweise war ihm auch die Form egal, aber das hier ging doch ein bisschen zu weit. „Vielen Dank, dass Sie bei „Billigkram“ sofort an mich gedacht haben, Nadeshda. Dass ich aber eventuell ein Problem mit der Aufmachung haben könnte, ist Ihnen wohl nicht eingefallen?“
Nadeshda runzelte die Stirn. „Sie meinen, wegen dem Foto darauf? Aber ich dachte, Sie...?“
„Sie dachten was??“ Langsam wurde Thiel ernsthaft sauer. Dass sein Kopf immer noch dröhnte, machte die Sache sicherlich nicht besser.
„Naja, Sie und Boerne sind doch schon seit Jahren...“
Thiel hieb wütend auf den Tisch, so dass einige Büroklammern in die Luft sprangen. „Boerne und ich sind gar nichts. Und jetzt machen Sie sich bitte an die Arbeit, wir haben heute mehr als genug zu tun, ohne solchen Unsinn!“
Kopfschüttelnd ging Nadeshda an ihren Platz. Thiel warf den Adventskalender in eine Schublade und beschloss, ihn auf der Stelle zu vergessen. Das gelang ihm für eine Weile auch sehr gut, da sie in der Tat sehr viel zu tun hatten an diesem Tag. Eine Frau war in der Innenstadt überfahren worden und was zuerst wie ein Unfall wirkte, stellte sich schnell als Mord heraus. Dutzende Zeugen mussten aufgespürt und befragt werden. Es war immer wieder erstaunlich, wie schlecht sich viele Menschen an Details erinnern konnten und mehr noch, wie sehr diese Erinnerungen oft voneinander abwichen, auch wenn es um das gleiche Ereignis ging.
Letztlich konnte sie den Fall aber noch am gleichen Tag lösen (der Täter hatte sich freiwillig gestellt) und gegen 15 Uhr kam Thiel dazu, sich in der Mikrowelle ein Fertiggericht warm zu machen. Gerne hätte er hinterher noch etwas Süßes gegessen, aber der Automat im Foyer des Präsidiums war wieder einmal kaputt. Loszuziehen und sich etwas zu kaufen, kam gar nicht in Frage, da die Staatsanwaltschaft auf seinen Abschlussbericht wartete. Zögernd holte er den Kalender wieder aus der Schublade. Schokolade war schließlich Schokolade, oder?
Im gleichen Augenblick, als er das erste Türchen öffnen wollte, schaute jedoch Nadeshda zu ihm herüber. Sie lächelte und ihr Blick war so wissend, dass Thiel direkt wieder wütend wurde. Was bildete sie sich ein? Eigentlich hatte er sich wegen seinem Ausbruch am Morgen entschuldigen wollen, aber das kam nun nicht mehr in Frage. Er ließ den Kalender zurück in die Schublade fallen und begann mit laut klappernder Tastatur seinen Bericht in den Computer zu tippen.
***
Gegen 17.30 Uhr verabschiedete sich Nadeshda - Thiel grummelte nur zurück - und um ihn herum wurde es still. Diese Zeit des Tages mochte er besonders. Die Arbeit war weitgehend erledigt, der Feierabend nicht mehr weit und niemand reagierte komisch, wenn er mal aufstand und aus dem Fenster schaute, um seinen überanstrengten Augen etwas Ruhe zu gönnen. Draußen wurde es langsam dunkel. Ein paar Schneeflocken wirbelten durch die Luft, die jedoch tauten, sobald sie die nasse Straße berührten.
Erneut bekam Thiel Lust, etwas von der Schokolade zu essen und diesmal würde ihn niemand stören. Er zog den Adventskalender hervor und betrachtete, fast wider Willen, den darauf abgebildeten Mann. Er sah gut aus mit seinen dunklen Haaren, Dreitagebart und durchtrainiertem Körper. Aber er war natürlich viel zu jung. Zu jung für was? fragte sich Thiel.
Wenn Nadeshda (und damit war sie wahrscheinlich nicht die Einzige) homosexuelle Neigungen bei ihm vermutete oder gar eine Beziehung mit Boerne, dann lag sie damit falsch. Ziemlich jedenfalls. Er musste zwar zugeben, dass er manche Männer attraktiv fand, vor sich selbst zumindest. Aber dieses Interesse auszuleben, war eine ganz andere Hausnummer. Meine Güte, er war Polizist, er war Fußballfan, er hatte einen Sohn gezeugt. Da passte es ganz sicher nicht ins Bild, mit einem anderen Mann Händchen haltend durch die Stadt zu gehen. Allein der Gedanke versetzte ihn fast in Panik.
Solche abwegigen Gedanken verdrängend, öffnete er entschlossen das erste Türchen des Kalenders. Dass es sich direkt neben dem Bauchnabel des Models befand, konnte ihn nun auch nicht mehr abschrecken. Ebensowenig die doch recht anzügliche Form der Schokolade, wobei...
„Thiel!“
Erschrocken ließ er fast den Kalender fallen. Hatte sich heute eigentlich alles gegen ihn verschworen? War es ihm inzwischen nicht mal mehr vergönnt, ein kleines Stück Schokolade zu genießen?
Dieses Mal war der Störenfried Boerne und die Erfahrung hatte gezeigt, dass er sich nicht so einfach verscheuchen ließ wie Nadeshda. Schicksalsergeben legte Thiel den Kalender neben sich auf den Tisch und sah den Rechtsmediziner fragend an. „Was gibt‘s, Boerne?“
Boerne wirkte regelrecht aufgekratzt für seine Verhältnisse. Seine Haare waren feucht vom Schneeregen, seine Augen strahlten und er wippte leicht auf den Fußballen vor und zurück. „Thiel, das müssen Sie sehen!“ Er wedelte mit einem Laborbericht herum. „Die Frau von dem Autounfall heute morgen... haha Unfall!... Raten Sie mal, was ich in ihrem Magen gefunden habe: Batrachotoxin! Ich wette, ihr Mann war es gar nicht, seine Aussage passt jedenfalls überhaupt nicht zum Befund!“
Thiel seufzte. Soviel zum schnell abgeschlossenen Fall. Die Staatsanwaltschaft würde nicht gerade begeistert sein. Trotzdem wirkte Boernes Enthusiasmus irgendwie ansteckend. Thiel stand auf und ging zur Tür. „Gut, dann werde ich ihn lieber nochmal verhören, vielleicht gesteht er ja dieses mal, es nicht gewesen zu sein.“
Boerne nickte zustimmend und schloss sich Thiel an, keine Sekunde einen Zweifel daran lassend, dass er bei diesem Verhör anwesend sein würde. Plötzlich fiel sein Blick auf den Adventskalender auf Thiels Tisch. Er hielt mitten in der Bewegung inne, einen Moment lang wie erstarrt. Dann fing er sich wieder und ging zielstrebig auf den Kalender zu. Thiel stöhnte innerlich. Warum nur hatte er das verdammte Ding nicht sofort weggepackt?
Schon hielt Boerne den Kalender in den Händen, seine Miene teils erstaunt, teils belustigt. „Thiel, wer hätte das gedacht?“ Nicht er auch noch, dachte Thiel verstimmt und wollte schon zu einer wütenden Tirade ansetzen, als Boerne fortfuhr: „...dass Sie tatsächlich ein Stück Schokolade verschmähen würden! Hat Fräulein Krusenstern Sie endlich überzeugt? Nun, ich muss sagen, dass ich selbst nicht ganz so wählerisch bin, insbesondere nach einigen Stunden im Labor. Wussten Sie schon, dass der Automat wieder defekt ist?“
Ohne zu zögern, nahm Boerne das längliche Stück Schokolade aus dem geöffneten Fach und steckte es sich in den Mund. Anstatt es schnell aufzuessen, ließ er es genießerisch im Mund zergehen, die Augen halb geschlossen. Seine Hingabe hatte etwas sinnliches, das Thiel seltsam erregte. Wie wäre es wohl, jetzt selbst dieses Stück Schokolade zu sein? Schließlich war Boerne fertig, sah ihn an und sagte: „Nunja, die Qualität könnte besser sein, aber sie ist doch zumindest befriedigend.“
Thiel starrte den anderen Mann an. Kam es ihm nur so vor, oder nahm ihn Boerne hier gerade gewaltig auf den Arm? Er konnte doch wohl nicht ernsthaft so tun, als wäre gar nichts dabei, vor anderen Leuten an einem phallusartigen Gebilde herumzulutschen. Boerne aber wirkte unberührt. „Was ist, Thiel, wollen wir nicht endlich los? Ich habe nicht die Absicht, die ganze Nacht im Vernehmungsraum zu verbringen!“
Verärgert, aber auch unsicher beschloss Thiel, den Elefanten im Raum zu ignorieren und sich auf einen Nebenschauplatz zu begeben. „Sie hätten wenigstens mal fragen können, Herr Professor, bevor Sie sich über meinen Adventskalender hermachen. Ich hätte die Schokolade sehr wohl noch gegessen, wenn Sie mich nicht dabei gestört hätten!“
Boerne setzte einen unschuldig-betroffenen Gesichtsausdruck auf, der bei ihm nicht sehr glaubwürdig rüberkam. „Also das wirkte auf mich ganz und gar nicht so, mein lieber Herr Hauptkommissar. Sie sahen eher aus, als wäre dieser Kalender nicht nach Ihrem Geschmack.“
Thiel glaubte, eine Frage in dieser Bemerkung mitschwingen zu hören, aber er weigerte sich, über dieses Thema mit Boerne zu reden. Das konnte nur in einer Katastrophe enden. Mit höchster Wahrscheinlichkeit würde Boerne sich über ihn lustig machen, wenn er ein Interesse an Männern zugab. Und wenn er sich nicht lustig machte... dann gab es andere mögliche Reaktionen, die Thiel noch viel beunruhigender fand. Also wich er erneut aus. „Mir ist egal, wie die Verpackung aussieht, ich wollte einfach nur etwas Süßes essen.“ Sobald der Satz heraus war, kam er Thiel auch schon kindisch vor.
Wider Erwarten nickte Boerne zustimmend. „Wie wäre es, wenn Sie heute Abend mit zu mir kommen. Ich habe einiges in der Vorratskammer, das als „etwas Süßes“ durchgehen würde.“
Bevor Thiel auch nur über eine Antwort nachdenken konnte, hatte Boerne ihn auch schon am Ärmel gepackt und zum Flur gezogenen. „Nun aber los, Thiel, es wird Zeit, diesen Fall zu lösen!“
***
„Hätten Sie gedacht, dass jemand den Liebhaber seiner Frau vor der Polizei deckt? Insbesondere wenn sie von diesem Liebhaber umgebracht wurde?“ fragte Boerne, während er gleichzeitig die Tür zu seiner Wohnung aufschloss.
Thiel stand wartend hinter ihm, durchnässt und müde von dem langen Tag. Er war froh, dass der Fall endlich gelöst war. Aber Boerne konnte offenbar noch nicht loslassen. „Ich bezweifle, dass Schmidt nur der Liebhaber der Frau war.“, antwortete Thiel schließlich. „Ein Nachbar hat etwas von einer Dreiecksbeziehung angedeutet und es klang recht überzeugend für mich.“ Nicht, dass das Motiv sonderlich wichtig war, die Beweise waren auch so wasserdicht.
„Ein Dreier heißt nicht unbedingt, dass die beiden beteiligten Männer auch etwas füreinander empfinden.“ wandte Boerne ein. Er nahm Thiel die nasse Jacke ab und schob ihn dann ins Wohnzimmer, bevor er selbst in der Küche verschwand.
Thiel machte es sich auf der Couch gemütlich und streckte die Beine aus. Er wollte nicht mehr über den Fall diskutieren. Was verstand er schon von Dreiecksbeziehungen? Er bekam ja nicht einmal eine einfache Beziehung zu Stande. Jedenfalls keine Liebesbeziehung.
Es fühlte sich gut an, hier bei Boerne zu sein. Vertraut. In letzter Zeit hatte der Rechtsmediziner eine Leidenschaft fürs Backen entwickelt und sie trafen sich häufig, um das Ergebnis zu verköstigen und ein wenig über ihren Tag zu reden. Vielleicht gab es heute Schokokuchen, als Ersatz für das geklaute Stück Schokolade. Das wäre sicherlich ein guter Tausch.
Seit ihrem letzten Treffen hatte Boerne die Wohnung offenbar weihnachtlich dekoriert, fiel Thiel ein paar Minuten später auf. Nichts dramatisches, eher eine subtile Veränderung, die dem Raum mehr Wärme gab. Er betrachtete die von Teelichtern beleuchteten Glasfiguren auf dem Fensterbrett. Sie wirkten künstlerisch, geschmackvoll und teuer. Kein simpler Lichterbogen für jemanden wie Boerne.
Nach einer Weile fühlte sich Thiel allein auf der Couch. Was dauerte nur so lange? Bevor ihm endgültig die Augen zufielen, rappelte er sich auf und ging in die Küche.
Boerne stand am Herd, ein Bild tiefster Konzentration. Gerade tauchte er vorsichtig eine kleine Kugel in geschmolzene Kuvertüre. Es war sehr warm in der Küche, fand Thiel. Die obersten Knöpfe von Boernes Hemd waren geöffnet, die Ärmel umgekrempelt. Er sah offener aus als im Arbeitsalltag, zugänglicher. Nicht, dass Thiel ihn zum ersten Mal so sehen würde, aber irgendwie empfand er heute alles intensiver als sonst, als fehlte eine schützende Hülle. Vielleicht lag es ja am Schlafmangel.
Als Boerne die Kugel mit Hilfe einer Gabel auf das Abtropfgitter legte, war kurz seine Zungenspitze zu sehen, wie es manchmal vorkam, wenn er sich besonders stark konzentrierte. Thiel wurde nun richtig heiß. „Was machst du da?“ fragte er schnell. Dann wurde ihm bewusst, dass er Boerne gerade geduzt hatte. Warum sie sich immer noch siezten, war ihm eigentlich gar nicht klar, aber jetzt hatte er das Gefühl, ungewollt eine Grenze überschritten zu haben.
Boerne sah Thiel erstaunt an, kommentierte seinen Patzer aber nicht. „Orangen-Trüffel“ antwortete er ruhig und nahm sich die nächste Kugel vor. Davon warteten noch jede Menge auf die Behandlung. Das würde Boerne bestimmt noch eine Stunde oder länger in Anspruch nehmen. Thiel hätte ihn jetzt viel lieber für sich gehabt, seine volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Was war nur heute mit ihm los? „Das dauert ja noch ewig.“ brummte er. „Ich brauche wirklich dringend etwas Süßes, nicht erst übermorgen.“
Boerne lachte. Er legte die Gabel weg, richtete sich auf und sah Thiel schmunzelnd an. Dann wurde er ernster, als hätte er etwas in Thiels Augen gesehen, das ihn umstimmte „So ungeduldig heute...“ sagte er leise, fragend. Aber Thiel wusste wie so oft keine Antwort.
Plötzlich schien Boerne sich einen Ruck zu geben. Er nahm ein Schälchen mit abgekühlter Kuvertüre und kam zu Thiel herüber, der immer noch an der Küchentür stand. Dann strich er die süße Masse mit dem Daumen über Thiels Lippen.
Thiel stand da wie in Schockstarre. Wie sollte er reagieren? Die Schokolade einfach essen? Boerne wegstoßen? Boerne in den Arm nehmen? Etwas sagen? Wahrscheinlich war das wieder einer dieser Momente, wo ihm erst hinterher einfiel, welche Worte perfekt gepasst hätten.
Dann begann Boerne, die Kuvertüre von seinen Lippen zu küssen und Thiel wurde klar, dass seine sprachlichen Talente heute glücklicherweise nicht gefragt waren. Er zog den anderen Mann näher an sich heran und verlor sich in ihrem ersten gemeinsamen Kuss. Seine Ängste erschienen ihm auf einmal unnötig, ja lächerlich. Boerne wollte wahrscheinlich gar nicht mit ihm in der Öffentlichkeit Händchen halten. Und wenn doch, würden sie schon eine Lösung finden. Er war ja nicht allein in dieser Angelegenheit, im Gegenteil. Er hatte sich schon lange nicht mehr so sehr zu jemandem zugehörig gefühlt.
Boerne schien zu merken, dass Thiels Gedanken abschweiften und löste sich aus dem Kuss. Er lehnte seine Stirn gegen Thiels und fragte „Und, war das nun ein ausreichender Ersatz für die Schokolade aus deinem Adventskalender?“ Seine Stimme klang ungewöhnlich unsicher, als würde er ernsthaft befürchten, dass dies alles war, was Thiel von ihm wollte.
„Auf keinen Fall. So einfach kommst du mir nicht davon.“ flüsterte Thiel ihm ins Ohr und bevor Boerne reagieren konnte, hatte er ihn auch schon in den nächsten Kuss gezogen. Wenn es nach ihm ging, war die Schuld noch lange nicht beglichen. Und was konnte man nicht alles anstellen mit einer ganzen Schale voll flüssiger Schokolade?