Liebes Tagebuch

Sep 21, 2010 15:55


HELEN IS BACK  :)

Liebes Tagebuch,


warst du schon mal auf einem Rock-Konzert?

Huh? Was? Du beschwerst dich, dass ich solange nichts von mir habe hören lassen und dann mit so einer bescheuerten Frage komme. Pfff. Na und. Du bist MEIN Tagebuch, da kann ich wann und was ich möchte hinein schreiben. Und du wirst geduldig meine Buchstaben auf deinem Papier ertragen. So. Also - wo war ich?

Ach ja. Genau. Rock-Konzert. Ein schlimmer Fehler. Böser Fehler. Alles begann damit, dass meine Freundin gegen zwei Uhr morgens bei mir anrief. Mich mitten in der Nacht weckte. Schlaftrunken griff ich nach meinem Telefon, klemmte den Hörer zwischen meinem Ohr und dem wohlig weichen Kopfkissen ein.

"Mmmm" krächzte ich in den Hörer, statt mich zu melden. Der unerwünschte Anrufer konnte froh sein, dass ich zu müde war, um ihn in tausend Stücke zu reißen.

"Helen! Helen! HELEN! Rate mal..." drang die aufgeregte Stimme meiner Freundin Flo an mein Ohr.

"Du hast Todessehnsucht?" quäkte ich mies gelaunt zurück.

"Was? Quatsch. Nein. Rate noch mal."

"Spinnst du? Du reißt mich mitten in der Nacht aus meinem dringend benötigten Schönheitsschlaf nur um mit mir ein dämliches Quiz zu veranstalten? Du weißt schon, dass dies das Ende unserer Freundschaft ist?" Um diese Uhrzeit war ich nicht besonders höflich. Eigentlich war ich nie besonders höflich. Aber darum ging es jetzt nicht.

"Es ist aber wichtig" schmollte sie mich an.

"Was kann wichtiger sein als mein Schlaf?" fauchte ich zurück. Den Zusatz, "du Miststück" verkniff ich mir besser. Schließlich hatte ich nicht viele Freundinnen. Genau genommen nur eine. Und die stellte meine Geduld und Zuneigung gerade auf eine harte Probe.

"Ich werde dir sagen, was wichtiger ist, du verschlafene Langweilerin. Sie kommen!! Hierher. In unsere Stadt."

War sie jetzt völlig gaga? Wovon zum Henker sprach sie? Von Außerirdischen? Von grünen Marsmännchen?

"Huh?"

"Meine Lieblings-Band, du Dummchen. 30 Seconds to Mars! Sie kommen! Hierher" jubelte sie mir fröhlich entgegen.

Da lag ich mit meiner Marsmännchen-Theorie also gar nicht so falsch. Ich stöhnte laut auf. Schon seit Monaten lag sie mir mit Infos über diese Band in den Ohren, jeder Satz von ihr beinhaltete irgendetwas, was mit diesen Musikern zu tun hatte. Womit hatte ich das verdient? Ich mochte deren Musik nicht mal besonders - was vielleicht daran lag, dass ich mich noch nicht näher damit beschäftigt hatte.

"Und das hatte nicht bis morgen Zeit, um mir das zu erzählen?"

"Nein. Weil ich sofort Karten bestellen muss, bevor das Konzert ausverkauft ist. Du begleitest mich."

"Ich mache WAS??" Jetzt war ich hellwach.

"Wir gehen zusammen auf das Konzert. Alleine macht das doch keinen Spaß."

Mir machte das auch zu zweit keinen Spaß, aber das schien Flo nicht weiter zu interessieren.

"Nein." Ich war jetzt bockig. Kann passieren, wenn man mich aus dem Schlaf reißt.

"Helen! Bitte!" flehte sie.

"Ich gebe kein Geld für ein Konzert aus, das mich nicht die Bohne interessiert" maulte ich.

"Ich zahle."

Gute Taktik. Und sie funktionierte sogar. Ich war einfach zu müde, um länger darüber zu diskutieren. Vielleicht hatte ich ja sogar Glück, und dieses Konzert war schon ausverkauft.

Ich hatte kein Glück. Flo bekam zwei Karten und ich musste in den sauren Apfel beißen.

Selbstverständlich informierte ich  mich in den nächsten Wochen über die Band. Gründlich. Ich kaufte mir sogar ihr neuestes Album. Und suchte im Internet nach Informationen über die drei Bandmitglieder. Das alles tat ich für meine Freundin - redete ich mir ein. Dass ich inzwischen ebenfalls ein Faible für die drei Jungs entwickelt hatte, fiel mir nicht auf.

Am Tag des großen Ereignisses, schlug Flo bereits in aller Frühe bei mir auf. Sie war hibbeliger als ein Kaffee-Junkie auf Entzug. Wir nutzten die Zeit bis zum Konzert um uns aufzubrezeln, die Haare zu tönen, zu schminken, uns ca. zweihundert mal umzuziehen, bis wir mit unserem Aussehen zufrieden waren. Wir benahmen uns wie pubertierende Girlies. Ich muss nicht extra erwähnen, dass wir beide jenseits der 30 waren...ich etwas weiter als sie.

"Wir sind viel zu früh dran" meckerte ich ein paar Stunden später, als wir bereits am Nachmittag auf dem Weg zum Veranstaltungsort waren.

"Wenn wir ganz vorne stehen wollen, müssen wir so früh dran sein" erwiderte Flo mit einem bestimmenden Lächeln.

Wir wollten was? Von ganz vorne stehen war bisher nie die Rede gewesen. Apropos stehen. Vor uns erstreckte sich ein lange Schlange ... Bereits hunderte von Teenies standen vor dem Eingang und machten somit Flos Wunsch und Hoffnung zunichte. Warum tat ich mir das an? Noch hätte ich einfach flüchten können. Ein Blick auf meine Armbanduhr sagte mir, dass wir hier noch drei Stunden ausharren mussten bis Einlass war.

Ich stöhnte genervt auf, als Flo mich zum Ende der Schlange zog und dort Stellung bezog. "Ist doch gar nicht so lang" meinte sie gutgelaunt und ich wusste nicht, ob sie die Schlange oder die Zeit bis zum Konzertbeginn meinte. Beides war für mich definitiv zu lang. Mir taten meine Füße jetzt schon weh. Ganz zu schweigen von meinem Rücken. Langes Stehen war Gift für meine alten Knochen.

Liebes Tagebuch, jetzt wirst du sicherlich denken: Du hohle Nuss, dann setz dich doch einfach auf den Boden, während du wartest.

Klar, hätte ich machen können, wenn ich scharf auf eine zünftige Blasenentzündung gepaart mit einer todbringenden Lungenentzündung gewesen wäre. Es war nämlich Winter und arschkalt. Meine Laune sank noch unter die gerade herrschenden Minus 10 Grad. Wenn meine Hände nicht so steifgefroren gewesen wären, hätte ich sie um Flos Hals gelegt und feste zugedrückt. Warum hab ich mich nur zu diesem Schwachsinn überreden lassen? Vermutlich deshalb, weil Flo die Schwester meines Lovers war. Jakes  jüngere Schwester. Mit IHM wollte ich es mir auf keinen Fall verscherzen. Der Sex war einfach zu gut. Und alles andere auch. Ich liebte ihn. Darum erduldete ich stumm Flo´s Launen und dämlichen Ideen. Ganz abgesehen davon, mochte ich sie auch. Irgendwie. Nur im Moment hegte ich Mordgedanken.

Nach einer halben Stunde waren meine Zehen taub. Eine weitere halbe Stunde später war meine Nase nur noch ein gefühlloser Knorpel. Ein kleiner Eiszapfen hing daran fest. Meine Wimpern waren tiefgefroren. Ebenso meine Wangen und meine Lippen. Ein eisiger Blick zu meiner Freundin war noch das Wärmste, was ich ausstrahlte.

„Wie lange noch?“ fragte ich Flo mit klappernden Zähnen und erntete von dem hüpfenden Girlie in der Schlange vor mir einen verständnislosen Blick.

„Für die Jungs friert man doch gern“ kicherte sie albern und entblößte einen dunkelblauen Maschendraht, der ihre Zähne in Form hielt. Zu niedlich.

Ich hätte mich ja gerne mit ihr geistig duelliert, aber erstens war sie offensichtlich unbewaffnet und zweitens musste ich eingestehen, dass ich mir tatsächlich den Arsch abfror, weil ich die Band gerne mal live erleben wollte.

Als nach einer, wie mir schien, unendlichen Wartezeit endlich die Türen zur Konzerthalle geöffnet wurden, war ich ein menschlicher Eisbrocken. Flo musste mich und meine Füße regelrecht vom Boden loseisen. Aber das Frieren und Zittern hatte sich gelohnt. Wir standen direkt in der dritten Reihe vorne - zusammen mit einer Horde kreischender Teenager-Fan-Girlies. Das Gute war, sie dezimierten sich selber, indem sie der Reihe nach vor Hysterie und Dehydration innerhalb der nächsten Stunde umkippten.  Somit wurde das Gedränge etwas erträglicher. Aber nur kurzfristig. Sie waren wie Fliegen. Kaum erschlug man eine, kamen zehn andere nach.

Mittlerweile waren meine Füße, Nase und sonstigen halbgefrorenen Körperteile wieder aufgetaut - dafür schmerzte mein Rücken wie die Hölle. Eine Runde Matratzensport mit Jake war nicht so anstrengend, wie stundenlanges Stehen, eingequetscht zwischen Jung und Jünger.

Die ersten Klänge der Vorband brachten meinen Brustkorb zum Vibrieren und den Wunsch hervor, Oropax mitgenommen zu haben. Hatte ich aber nicht. Es fühlte sich an, als würden meine Ohren bluten. Taten sie wahrscheinlich auch. Hektisch suchte ich in meiner Hosentasche nach einem Tempotaschentuch, zerpflückte es und stopfte mir Teile davon als Hörschutz in die Ohren. Half leider  nicht viel. Ich war diesem Krach hilflos ausgeliefert. Zum Glück nur eine halbe Stunden, denn dann war eine kurze Pause, bevor der eigentliche Act begann.

Zu allem Überfluss klebte eine halbe Stunde später auch noch schätzungsweise 30 Liter Fremdschweiß an mir. Zusammen mit meinem eigenen Schweiß. Die Luft war stickig. Es war eng, verdammt eng.  Ich schnappte nach Luft - bekam aber nur einen Schwall Schweiß - von wem auch immer - in den Mund. Noch dazu brüllte der Kerl dort oben auf der Bühne das Publikum nach Leibeskräften an. Die Halle tobte. Und ich hatte die schönste Panikattacke. Mein Herz raste - ich musste da raus. Sofort.

Ich erkämpfte mir einen Weg durch die Menge, nahm dabei meine Ellenbogen zu Hilfe. Wenn ich nicht gleich aus dieser Hölle kam, würde ich zum Tier werden. Eine rasende Helen. Das hatten wir doch schon mal, oder? Niemand wollte eine Wiederholung. Ich erst recht nicht. Als ich das letzte Mal ausgeflippt war, endete dies auf einer Polizeistation. Darauf war ich nicht scharf.

Endlich erreichte ich den Rand der Halle, presste mich mühsam ins Freie und sog gierig die eisige Nachtluft in meine Lungen. Aaah - schon besser. Endlich konnte ich wieder frei atmen. Ich stand einsam und allein vor dem Gebäude, schloss die Augen und genoss - nein, nicht die Stille, sondern das nervige Pfeifen in meinen Ohren. Sie würden sicherlich noch tagelang klingen, befürchtete ich.

Als plötzlich eine Hand auf meiner Schulter landete, riss ich erschrocken die Augen auf, wirbelte herum und donnerte meine Faust in das Gesicht meines vermeintlichen Angreifers.

„Fuck! Helen!“

Ups.

Verdattert sah ich Jake dabei zu, wie er versuchte, sein Nasenbluten zu stillen. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Wie auch? Mit Tempotaschentüchern in meinen Ohren.

„Was machst du denn hier?“ fragte ich noch immer völlig erschrocken und verwirrt.

„Rate mal…“ murmelte mein Lover zwischen den Fingern einer Hand hervor, die er sich schützend vors Gesicht presste, während er mit der anderen in seiner Hosentasche nach etwas suchte.

Nicht schon wieder ein Ratespiel … Davon hatte ich echt genug.

„Meine Schwester hat mich gebeten, euch nach dem Konzert hier abzuholen“ erklärte er schließlich und quetschte einige Stücke Tempo in seine Nasenlöcher, um die Blutung zu stillen.

„Es … ich … es tut mir leid“ nuschelte ich ehrlich bereuend und deutete dabei auf seine Nase.

Jake zuckte nur mit den Achseln. „Wer mit dir zusammen ist, muss mit solch unerwarteten Reaktionen leben.  Eigentlich hätte ich es sogar wissen müssen…“ seufzte er und zog mich liebevoll in seine starken Arme.

Armer Jake. Ich  hatte eine Horde wildgewordener Teenager unverletzt überstanden - und er war derjenige, der eine zerbeulte Nase hatte. Toll gemacht, Helen. Wirklich toll.

Wir warteten noch auf das Ende des Konzerts und auf Flo, die über das ganze Gesicht strahlte und uns die nächsten Tage damit in den Ohren lag, wie geil doch das Konzert gewesen war.

Übrigens - gestern Nacht hat mein Telefon wieder geklingelt. Rate mal … Genau. Flo.

„Helen! Helen! HELEN! Rate mal …“

Ich musste nicht raten. Im Internet hatte ich gelesen, dass die Band in ein paar Monaten noch mal zu uns in die Stadt kommen würde.

Wortlos zog ich einfach den Stecker des Telefons aus der Buchse, kuschelte mich an Jake und drückte ihm einen sanften Kuss auf seine krumme Nase.

krokomaus, german, liebes tagebuch

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