Ficathon:
Das WaisenhausFandom: Nowhere Boys
Prompt: [2819] He always kept a handful of stars in his pockets and rays of sunshine in his smile, a hurricane in his eyes and whole galaxies in his mind. ["Diary of the mad: A short story collection", Victoria Haugnes]
Promptsteller*in: tears_into_wine
Content Note: Erwähnung eines Unfalls
die welt in seinem blick
»Hey, Sportsfreund«, ruft Dad aus dem Küchenfenster heraus. Sein Blick streift Oscar kaum, wandert gerade einmal in dessen ungefähre Richtung, während er ihm mit einer Hand zuwinkt. Dann hechtet er zum Herd zurück. In dramatischer Geste reißt er genau die Pfanne von ihrer Platte, in der es just in diesem Moment zu zischen beginnt.
»Hi«, murmelt Oscar und ringt sich ein müdes Lächeln ab. Nicht, dass Dad etwas davon mitbekommen würde. Vermutlich hat er schon wieder verdrängt, dass er gerade seinen jüngeren Sohn die Auffahrt hinaufkommen gesehen hat. Das scheint dieser Tage immer häufiger zu passieren. Andere Dinge sind wichtiger - oder angenehmer und nicht so kompliziert, denkt Oscar etwas gehässig -, und plötzlich sind einige Minuten vergangen und sein Vater wirft ihm einen zerstreuten Blick zu und sieht so aus, als hätte er ganz vergessen, dass Oscar sich im selben Raum befindet.
Vielleicht sollte er die Gelegenheit nutzen. Umdrehen, auf die Straße zurück fahren und sich aus dem Staub machen, solange Dad mit seiner Pfanne beschäftigt ist. Er könnte an der Schule warten und mit Felix gemeinsam heimkommen. Zeit mit seinem Bruder zu verbringen, ist ihm Moms unumgängliche Standpauke wert.
Es ist nur, dass bei ihrem Glück nicht er den Ärger bekommt, sondern Felix. Das kann er ihm nicht antun. Moms Standpauken sind nie besonders leise oder zimperlich gewesen, aber seit dem Unfall ist es schlimmer als vorher. Und Felix von früher würde sie vielleicht wegstecken, mit einem verstohlenen Grinsen und der hochheiligen Versicherung am Ende, ›dass es nicht wieder vorkommt, versprochen, Mom‹, aber Felix jetzt? Oscar schließt die Augen und versucht, es sich vorzustellen. Alles, was dabei herauskommt, ist, dass er sich nicht sicher ist.
Denn manchmal - meistens, wenn er an Felix denkt, vermischen sich in seinem Kopf Vergangenheit und Gegenwart.
Seine Fantasie gaukelt ihm das Sonnenscheinlächeln von Felix von früher vor, nur unter den schwarzen Haaren von Felix von jetzt. Oscar sieht es ganz deutlich vor sich. Es ist so echt, so warm, dass er unwillkürlich zurücklächeln muss. Aber dann, wenn er die Augen wieder öffnet, schiebt sich die Realität über dieses Bild; und Felix mag lächeln, doch es ist nie ohne eine Spur von Traurigkeit im Blick.
»Oscar?!« Moms Stimme hat einen besorgten Unterton. Oscar glaubt, dass der nicht wirklich schrill klingt, sondern er sich das nur einbildet. Trotzdem kann er sein erstes Zusammenzucken nicht vermeiden. Fast reflexartig schlägt er die Augen auf.
Vorstellungs-Felix’ Sonnenscheinlächeln wird ersetzt durch Moms Stirnrunzeln, während sie von der Hausecke her auf ihn zu eilt. An der Stelle, an der sie eben noch gestanden haben muss, kommt eine leere Gießkanne klappernd auf den Boden auf. »Ist etwas passiert, mein Schatz? Ist dir nicht gut?«
Oscar hält sich mit Mühe davon ab, ein wenig zurück zu rollen. Stattdessen zieht er die Schultern hoch. »Alles in Ordnung«, versichert er ihr, obwohl er das dumpfe Gefühl hat, dass sie ihm nicht ohne Weiteres glauben wird. »Ich habe mir nur vorgestellt …« … dass mein älterer Bruder glücklich ist. Mit einem Mal kommt es Oscar klüger vor, seinen Satz nicht zu beenden. Er lässt die Schultern wieder sinken und räuspert sich.
Moms Blick wird weich - auf eine gequälte Art, die Oscar in den letzten zwei Jahren vermutlich an jedem einzelnen Tag gesehen hat. Sie streckt die Hand aus, als wolle sie ihm über die Haare streichen. »Ach, Oscie …« Denn, natürlich. Natürlich denkt sie, er hätte sich vorgestellt, dass er wieder laufen könnte. Als ob er keine anderen Wünsche hätte.
Nun fährt Oscar doch rückwärts; ein winziges Stück nur, aber das reicht schon. Seine Mutter verharrt mitten in der Bewegung. Dann fällt ihre Hand an ihre Seite zurück. Einen Augenblick lang sehen sie sich stumm an, bevor Oscar sich noch einmal räuspert und murmelt: »Schon okay. Ich gehe wohl besser …« Er nickt in Richtung der Haustür. »Hausaufgaben machen.«
Mom lächelt, aber es sieht zittrig aus. Schief, würde Oscar vielleicht sagen, wenn er es beschreiben müsste. Dabei stimmt das nicht, es ist nicht schief; der Klang spiegelt nur wider, wie es für ihn aussieht.
»Tu das, mein Schatz.«
Oscar nickt wieder. Dann fährt er an ihr vorbei, ohne noch einmal zu ihr hoch zu schauen. Muss er aber auch gar nicht. Dutzende ähnliche Situationen aus der Vergangenheit liefern ihm genug Erinnerungen, dass er sich vorstellen kann, wie sie ihm hinterhersieht. Sicher, sie macht sich nur Sorgen - aber wenn er ehrlich ist, könnte er sehr gut damit leben, wenn nicht jede seiner Bewegungen mit Argusaugen beobachtet werden würde. Und ohne die Wehmut in ihrem Blick auch.
Oscar ist vierzehn Jahre alt und kein naiver kleiner Junge mehr. Er weiß, dass sein Leben nie wieder so sein wird wie früher. Wie vor dem Unfall, korrigiert er sich selbst in Gedanken, weil es nicht hilft, mit vorsichtigen Worten um den Sturz und alles, was seitdem anders ist, herumzureden. Aber hin und wieder fragt er sich, ob Mom und Dad das auch wissen.
Wenn ja, dann sind sie sehr gut darin, es zu verstecken. Oscar zieht die Tür zu seinem Zimmer mit mehr Elan als nötig zu und fühlt sich ein bisschen gemein dabei, das zu denken. Aber ist doch wahr. Sie reden nie über den Nachmittag, an dem Oscar vom Baum gefallen ist. Und wenn sie es doch tun, dann hören sie auf damit, sobald Oscar ihnen zu nahe kommt, und werfen ihm besorgte Blicke zu.
»Ich hasse es!«, hat Oscar Felix einmal entgegengeschleudert. Es ist ein bitterer Moment voll Hilflosigkeit und Wut gewesen, nachdem Dad vier Mal hintereinander »Sportsfreund« statt seines Namens gesagt hat, obwohl Oscar in seinem ganzen Leben noch nie der Freund von irgendeinem Sport gewesen ist. »Was soll’s«, hat er angefügt - aber er hätte es vielleicht gelassen, wenn er Felix’ Gesichtsausdruck einen Moment früher bemerkt hätte -, »auf die Art sieht Dad mich wenigstens zwei Mal in der Woche direkt an und nicht an mir vorbei.«
Felix hätte sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht pusten, lachen und ihm gegen die Schulter boxen sollen. Oscar ist sich sicher gewesen, dass er das tun würde. Er hat es so genau vor sich gesehen, dass er es hätte zeichnen können. ›Hey, jetzt sei nicht ungerecht, Oscie! Dad hat nur viel zu tun! Er träumt halt immer noch von seiner großen Cricket-Karriere, weißt du noch?‹ (Felix’ Grinsen wäre ansteckend gewesen.)
Aber … sein Fehler. Natürlich ist das nicht passiert. Stattdessen ist Felix sich matt durch die Haare gefahren, irgendwo hängen geblieben und hat dann mit halb erhobenem Arm gemurmelt: »Oh Mann.« Er hat sogar eine der halben Entschuldigungen angefügt, die er neuerdings immer für ihre Eltern parat hat. »Sie meinen das bestimmt nicht so«, oder: »Sie machen sich nur Sorgen«, oder: »Vielleicht haben sie ja mit Doktor Clarke geredet und hoffen deswegen, dass …«
Die Erinnerung frustriert Oscar immer noch. Mit etwas zu viel Schwung streift er seine Schultasche ab. Sie gleitet ihm aus der Hand und landet mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Scheiß Tasche. Für einen Moment starrt Oscar sie aus zusammengekniffenen Augen an. Etwas in ihm sträubt sich dagegen, sie einfach wieder aufzuheben. Muss er doch eigentlich gar nicht. Als würde Mom in der nächsten Stunde hier vorbeischauen, um zu kontrollieren, ob er sich wirklich mit Schulkram beschäftigt.
Aber sein Anflug von Ärger löst sich mit den nächsten Atemzügen und Oscar beugt sich seufzend vor, um nach dem Riemen zu greifen. Das Problem ist ja nun wirklich nicht … die Tasche oder der Quatsch für die Schule oder so.
Es ist die Art, wie Felix den »hoffen, dass«-Halbsatz jedes Mal abbricht. Wie er tonlos klingt und dann einfach mit dem Sprechen aufhört, so als ob er gar nicht wüsste, worauf ihre Eltern hoffen könnten. Oscar darf nicht zu lange darüber nachdenken - und tut es doch, manchmal -, weil der Gedanke ihm ein klitzekleines bisschen Angst macht, wenn er ehrlich ist. Und das ist immer noch gelogen. Genau genommen ist es eine Heidenangst, inklusive Kloß im Hals und brennenden Augenwinkeln und einem flauen Gefühl im Magen. Denn Felix hat früher nie das Vorstellungsvermögen für irgendetwas gefehlt - und er hat nie nach den passenden Worten suchen müssen, nicht so, und schon gar nicht hat er sie nicht gefunden; und Oscar will das zurück.
Heuchler, flüstert er sich selbst in Gedanken zu. Aber eigentlich weiß er, dass das nicht stimmt. Mom und Dad tun so, als ob die Realität eine vorübergehende Unannehmlichkeit wäre, und als ob sie hoffentlich bald in ein Leben zurückkehren können, das in Wahrheit längst vergangen ist. Oscar hingegen - …
Oscar denkt an seinen Bruder und in seinem Kopf mischen sich Vergangenheit und Gegenwart (und er hofft - manchmal mit aller Verzweiflung, die er aufbringen kann -, dass er vor sich die Zukunft sieht, damit Felix etwas von der Schwere aus seinem Blick verliert und endlich wieder glücklich sein kann).
Oscar hofft.