Titel: Cane carmen doloris pro me!
Teil: 4/13?
Fandom: Yu-Gi-Oh!
Hauptcharaktere/Pairing: YMalik/Marik
Word Count: 8.399
Entstehungsdatum: 15. November 2005 - editiert 2007
Genre: Drama
Warnungen: Düster, Angst
Rating: 10
Kritik: Ja
Inhaltsangabe: YMalik findet einen Weg zurück in die Welt - die Welt aus den Augen Maliks...
Cane carmen doloris pro me!
1.Kapitel: Hoffnung
Schwarz; alles war schwarz und kalt. Es tat weh, meine Haut fühlte sich an, als stünde sie in Flammen, schmerzte so furchtbar. Ich kauerte mich zusammen, wollte nicht daran denken, was er getan hatte. Er, Marik, mein Licht. Er hatte mich hier eingesperrt, war bereit gewesen, mir diese Schmerzen zuzufügen. Körperlich war alles in Ordnung, obwohl ich da eigentlich noch Glück gehabt hatte. Ich wusste schließlich, was einer Person alles im Reich der Schatten passieren konnte; wusste, was man dort durchleiden konnte.
Oh, natürlich konnte man Leute auch einfach einsperren. Ich hatte es selbst bereits getan - Seelen in Gefängnisse gesperrt, Sandgläser, in denen sich das Leben verliert. Die Seelen waren am Schluss nicht mehr als ein Schatten ihrer selbst, verschwanden im Reich der Schatten oder hörten manchmal auch einfach ganz auf zu existieren.
Diese Art der Bestrafung war annähernd schmerzlos; ich war mir sogar ziemlich sicher, dass die junge Frau damals kaum etwas von ihrem schleichenden Verfall mitbekommen hatte. Aber hier befand ich mich im ursprünglichen Reich der Schatten, das um einiges gnadenloser war.
Doch Marik wusste natürlich nicht wie man Leute auf solch gnädige Weise verbannt. Eigentlich hatte er mich auch nicht einmal richtig verbannt, wie es sich gehörte. Deshalb war ich nun hier und den Schatten auf Gedeih und Verderben ausgeliefert.
Ich hasste dieses Gefühl, hasste es hier zu sein. Ich war ein Wesen der Dunkelheit; ich, gerade ich sollte nicht schwach sein. Obwohl ich nie Angst vor den Schatten gehabt hatte, änderte sich das langsam, denn nun war ich nicht mehr derjenige, der sie kontrollierte, sondern ihr Opfer. Nicht länger der Jäger, sondern der Gejagte…
Noch hielten sich die Schatten zurück, aber ich hörte ihr Wispern. Es war überall; erzählte mir von Dingen, die ich nicht hören wollte; Tatsachen, die zu akzeptieren ich nicht bereit war; Sachen, die ich nicht wahr haben wollte… Als ich es das erste Mal gehört hatte, fand ich es lächerlich, geradezu kindisch und ich nahm es nicht ernst. Aber mit der Zeit konnte ich nicht mehr weghören, bekam Zweifel. Wenn man lange nur dem rauen Wispern und leisen Raunen der Schatten lauschen konnte, ließ es einen nicht ewig kalt.
Jetzt war es die ganze Zeit in meinem Kopf präsent, hatte sich in meine Gedanken gehämmert. Ich wollte schreien - hört auf, seid doch endlich still! - doch es ging nicht. Vielleicht war ich nicht mehr Herr meiner Sinne oder hatte mich mein Stolz daran gehindert? Ich wusste es nicht, aber ich verlor langsam die Hoffnung, je aus meinem Gefängnis auszubrechen, so geschwächt wie ich war.
Ich wusste nicht wieviel Zeit seit meiner Niederlage gegen den Pharao vergangen war, doch es hatte sich etwas geändert. Es fühlte sich nicht mehr wie das Reich der Schatten an und ich war oft genug dort gewesen um sagen zu können, wie es sich anfühlte. Es war noch da, aber es schien weiter weg zu sein.
Aber nun war da ein ganz anderes Gefühl von… Sicherheit? Obwohl ich niemals wirklich gewusst hatte, wie sich Sicherheit oder Geborgenheit anfühlte, musste ich plötzlich an mein Licht denken. Ja, da war etwas Ähnliches gewesen… hieß das jetzt, dass Marik hier irgendwo war? Und plötzlich konnte ich etwas sehen.
Tische. Stühle. Leute. Ein Raum.
Nicht, dass ich vorher blind gewesen wäre, aber es kam mir beinahe so vor nach der kleinen Ewigkeit in der Finsternis des Reichs der Schatten.
Geräusche…
Das Ticken einer Uhr. Das Kratzen einer Kreide auf einer Tafel. Jemand sprach.
Wie lange war es her, seit ich etwas anderes gehört hatte als das Raunen der Schatten? Doch alle anderen Sinne blieben mir vorerst verwehrt. Wo war ich? Warum war ich hier? Was machten die anderen Leute hier? Ich versuchte meinen Kopf zu drehen, doch es ging nicht.
Was war hier los?
Ich spielte mit einem Bleistift, den ich zwischen meinen Fingern balancierte.
Weswegen tat ich das? Ich versuchte aufzuhören. Nichts geschah. Langsam bekam ich Panik. Ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper! Ich betrachtete die dunkle Haut meiner Hand, die am Handgelenk von blauem Stoff überdeckt wurde.
Moment! Ich trug doch ein schwarzes, ärmelloses Shirt?! War das vielleicht gar nicht mein Körper?
Verzweifelt starrte ich auf meine Hand, aber der blaue Stoff blieb dort.
Ich drehte meinen Kopf nach rechts, ohne die Bewegung zu spüren.
Mehr Tische, mehr Stühle, mehr Leute.
Mein Nachbar saß aufrecht auf seinem Sessel, schien interessiert demjenigen zu lauschen, der da noch immer sprach. Vor ihm befand sich ein Buch, in das er sich immer wieder eifrig Notizen machte. Das Gesicht kam mir bekannt vor.
Langes, weißes Haar. Porzellanane Haut. Feminine Gesichtskonturen. Große, schokoladenbraune Augen. Hose und Jacket in eben jenem blauen Stoff, der meinen Arm bedeckte.
Ich sog jede Information gierig in mich auf, die ich bekommen konnte. Ich kannte ihn irgendwoher. Aber wer war das?
"Ryou?"
Wo kam diese Stimme her? Das war doch Mariks Stimme? Wo war mein Marik?
Der weißhaarige Junge drehte sich in meine Richtung, lächelte mir zu.
"Kannst du mir nachher deine Notizen leihen?"
Wieder Mariks Stimme. Aber ich konnte ihn nirgendwo entdecken.
"Versuch doch wenigstens einmal, selbst aufzupassen, Marik", sagte mein Nachbar.
/Ryou Bakura/
Plötzlich war ich mir ganz sicher, dass der Name dieses Jungen Ryou Bakura lautete. Woher kam dieser Gedanke? Wieso wusste ich das auf einmal?
"Wenn du eh mitschreibst, was muss ich da aufpassen?", fragte Marik zurück; die beiden schienen befreundet. Konnte vielleicht nur er Marik sehen und ich nicht?
Ryou lachte leise und wandte sich wieder ab um der Stimme erneut zu lauschen. Ich versuchte mich auf diese Stimem zu konzentrieren, vielleicht sagte sie mir, wo Marik war?
"…wenn x = y und p = q, dann ist die Lösung 243. Jetzt zieht man die Wurzel aus…"
Ich verstand kein Wort. Aber die Stimme sprach nicht über Marik, so viel war sicher. Was war das hier? Wieso erzählte mir die Stimme über diesen Unsinn, den ich ohnehin nicht verstand? Verwirrt sah ich nach vorne zu der Frau mittleren Alters, die da vor den Tischreihen stand und sprach.
/Mathematik/
Was? Woher wusste ich das schon wieder? Nannte man das denn so? Ach ja. Mathematik. Marik hatte so etwas mal gelernt, aber das war ganz anders gewesen damals.
Ich zuckte zusammen - oder wenigstens glaubte ich das, denn mein Körper schien sich nicht zu bewegen - als ein schrilles Geräusch erklang. Was war das?
Starr vor Schreck blieb ich sitzen, obwohl ich doch aufgestanden sein muss, denn plötzlich stand ich, einen merkwürdigen Beutel in der Hand haltend. Verwirrt starrte ich ihn an, da begannen sich meine Beine auch schon von allein zu bewegen. Ich schloss zu Ryou auf, der an der Tür auf mich wartete. Wir betraten einen Gang, kämpften uns zwischen den Massen von Leuten durch und passierten noch eine Tür bis wir in eine Art Innenhof kamen. Trotzdem konnte ich mich nicht erinnern, irgendeine dieser Bewegungen ausgeführt zu haben.
Wir setzten uns auf eine Bank weiter hinten im Schatten. Erst jetzt fiel mir auf, dass es wohl Sommer sein musste, doch ich spürte nicht, ob es heiß oder kalt war. Mein Blick blieb an Ryou heften. Auf diese Weise konnte ich nicht sehen, was um mich herum geschah.
Er und Marik sprachen über Belanglosigkeiten. Es muss belanglos gewesen sein, denn ich verstand es. Die meisten Wörter schon, aber der Sinn blieb mir verborgen und ich langweilte mich bald. Marik zu suchen hatte ich ebenfalls bereits aufgegeben, da ich ihn offensichtlich einfach nicht sehen konnte.
Ich entnahm dem seltsam festen Beutel eine kleine blaue Dose, die ich anschließend öffnete. Ohnehin hatte ich weitgehend aufgehört, den Sinn meiner Handlungen zu hinterfragen. Es stand fest, dass ich keine Kontrolle darüber hatte, was ich tat.
In der Dose befand sich eine Scheibe Brot, die ich herausnahm und davon abbiss. Ich konnte sie schmecken! Am liebsten hätte ich meine Freude herausgeschrien, doch das ging natürlich nicht.
Doch bald schon kehrten wir zurück in den Raum voller Tische und Stühle und der tickenden Uhr.
Wieso mussten wir dorthin zurück?
Jetzt schrieb auch ich Sachen in ein Buch, nein, Heft. Das Seltsamste daran war, dass ich nicht lesen konnte, was ich schrieb. Es sah auch überhaupt nicht aus wie die ägyptischen Zeichen, die ich gewohnt war. Eine andere Sprache? Wie konnte ich in einer Sprache schreiben, die ich nicht verstand?
Als ich meinen Kopf nach links drehte, traf mich fast der Schlag: Der Pharao!
Nein, nein, der Pharao war… größer. Außerdem hatte er nicht so große Augen. Wer war das? Wieder wurde meine Frage aus dem Nichts beantwortet.
/Yugi Muto/
Yugi. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor… Wenn es nicht der Pharao war, dann vielleicht die gute Seite des Pharaos? Ja, das klang logisch. Aber was machte das Licht des Pharaos hier in meiner Nähe? Wieso schien ihn meine Anwesenheit nicht einmal zu stören?
Ich wandte mich jedoch zu schnell wieder nach vorne, als dass ich diesen Yugi länger hätte betrachten können.
Das schreckliche, schrille Geräusch ertönte in regelmässigen Abständen wieder, noch drei oder vier Mal. Ich wusste nicht, wieviel Zeit verging, woran wahrscheinlich mein längerer Aufenthalt im Reich der Schatten Schuld war. Jedenfalls folgte ich dann Ryou und Yugi durch die Gänge, fort von dem Raum mit den Tischreihen. Wo gingen wir hin?
Hinaus. Wir verließen das Gebäude, wir redeten - nein, Ryou redete mit Mariks Stimme, von der ich immer noch nicht wusste, woher sie kam - und wir schlenderten einen Weg entlang.
Ich versuchte nicht auf die vielen, für mich neuen und seltsamen Dinge zu achten, aber es war kaum möglich. Für einen Moment erwog ich sogar, einfach die Augen zu schließen, aber ich tat es nicht - ich konnte es nicht.
Da ich mich nicht in der Lage sah, die vielen Eindrücke in mich aufzunehemn, blockte ich sie aus, ließ die Information nicht zu mir durchdringen. Es war einfach zuviel.
Ich erinnerte mich dunkel, dass ich ähnliche Dinge schon zuvor gesehen hatte, bevor ich ins Schattenreich verbannt worden war. Aber das einzige, woran ich mich erinnerte, war Marik…
Als meine Gedanken wieder zur Gegenwart zurückkehrten, war Ryou nicht mehr da. Komisch, ich hatte es gar nicht mitbekommen… Ich merkte nur mehr, wie ich die merkwürdigen grauen Straßen verließ und ein Haus betrat.
"Ishizu?! Bist du schon zu Hause?"
Wieder die Stimme meines Lichts. Langsam machte mich das wahnsinnig; ich wollte wirklich wissen, wo mein Marik war!
Es kam keine Antwort.
Ishizu? Das war…Moment, das wusste ich doch… Ein Bild von einer schwarzhaarigen Frau erschien in meinem Kopf. Natürlich, Ishizu - Mariks Schwester!
Ich stellte einen Teller in einen kleinen Kasten, drückte einen Knopf an der Seite des Kastens und wartete. Ein Summen erfüllte den Raum, ließ mich unruhig werden.
Was war das? War es gefährlich?
Doch nichts geschah. Ich holte den Teller wieder aus dem Kasten heraus; er war warm. Das Summen hatte aufgehört.
/Mikrowelle/
So nannte man den Kasten? Interessant.
Mittlerweile hatte ich einen neue Theorie: Vielleicht bekam ich diese zusätzlichen, aus dem Nichts auftauchenden Informationen ja von Marik? Immerhin konnte er auch mit Ryou sprechen, ohne dass ich ihn sah - wieso dann nicht auch mit mir?
Ich setzte mich, begann das Zeug auf dem Teller zu essen. ...Das konnte man essen? Aber es schmeckte nicht schlecht. Ungewohnt, aber nicht schlecht, was auch immer es war…
Ich starrte auf den Teller, ohne ihn wirklich wahr zu nehmen. Zuviel, einfach zu viel Neues. Verwirrt versuchte ich meine Gedanken zu ordnen, ließ den Tag gedanklich noch einmal passieren…
Es war eindeutig eine Verbesserung zu vorher. Andererseits war alles eine Verbesserung zum Reich der Schatten. Zugegeben, ich konnte meinen Körper weder steuern, noch spüren und ich konnte nicht riechen. Aber ich war in der Lage zu sehen, zu hören und zu schmecken - wenn auch letzteres eingeschränkt aufgrund meines fehlenden Riechsinns. Ich brauchte nicht länger in der Finsternis auf meinen Tod zu warten und über Mariks Verrat nachzudenken. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wieso ich gerettet worden war…
Als ich wieder auf meine Umgebung achtete, saß ich in einem großen schwarzen Sessel. Es war wohl wieder eine Weile vergangen; irgendetwas sagte mir, dass es schon ziemlich spät war. Trotzdem war es noch taghell im Zimmer. Plötzlich wurde es allerdings dunkel, denn ich hatte meine Augen wohl geschlossen.
Ich versuchte gerade erfolglos, sie wieder zu öffnen, als ich etwas Vertrautes spürte. Dann wusste ich, wo ich war: Ich befand mich wieder im Reich der Schatten.
Wieso? Was alles nur ein seltsamer Traum gewesen? Vielleicht wurde ich verrückt und begann zu fantasieren?
Immer noch wusste ich es nicht, aber es hatte mir auf jeden Fall gut getan.
Ich hatte wieder neue Hoffnung.
Ende Kapitel 1
2.Kapitel: Marik
Als ich dem Reich des Schatten ein weiteres Mal entkam - zuminderst schien es mir so für eine kurze Weile - schmerzten meine Schultern und mein Rücken. Die Nacht in einem Stuhl zu verbringen, war immerhin ziemlich unbequem. Moment, unbequem? Ich bildetete er mir jedenfalls nicht ein, die Schmerzen waren da; körperliche Schmerzen, ebenso das leichte Ziehen in meinem Nacken wegen meiner unquemen Position.
Ich konnte es spüren. Ich konnte meinen Körper endlich wieder fühlen!
Jubelnd wartete ich bis mein Körper, der immer noch tat was er wollte, aufstand und sich streckte. Selbstständig ging ich ins Bad - an das ich mich zuminderst erinnerte, wenn auch sehr verschwommen - und spritzte mir Wasser ins Gesicht.
Als ich den Kopf hob, blickte ich in Mariks Gesicht.
Marik.
Mein Marik.
Mein Licht, endlich hatte ich dich wieder.
Er starrte mich an, genauso wie ich ihn anstarrte; keiner von uns bewegte sich.
Ich sah in die glitzernden lavendelfarbenen Tiefen, die meinen eigenen ähnlich waren und mich genau musterten.
Erst dann bemerkte ich, dass vor mir eine Wand war - da konnte niemand stehen.
/Spiegel/
Ach ja, ich erinnerte mich. Wenn man in dieses Ding hineinschaute, sah man sich selbst. Also stand Marik hinter mir? Voller Freude wartete ich, bis mir mein Körper die Liebenswürdigkeit erwies, sich umzudrehen.
Ob Marik mir vergeben hatte? Ich hatte die Gründe für seinen Verrat an mir nicht ganz nachvollziehen können, verstand nicht einmal, wieso er mich so sehr gehasst hatte, bevor ich überhaupt ein Wort zu ihm gesagt hatte, damals; war nicht einmal eine einzige Chance wert gewesen. Das hatte mich rasend gemacht vor Wut. Ich hatte Sachen getan und gesagt, die ich sehr bereute. Zuminderst jene, an die ich mich jetzt erinnerte.
Aber ich hatte nie, auch nicht damals, angenommen, dass er mich, ein Stück seiner eigenen Seele, verraten könnte; mich einfach aufgeben würde… ins Reich der Schatten verbannen würde.
Umso mehr hoffte ich, dass was auch immer ihm damals zuschaffen gemacht hatte, vergessen sei; er mich endlich als seine Dunkelheit, als Teil seiner Seele, aktzeptieren würde.
Doch da war kein Marik.
Das konnte doch nicht sein, dieses Spiegel-Dings machte doch… Für einen Herzschlag setzte mein klares Denken aus, dann begriff ich.
-Wenn man in dieses Ding hineinschaute, sah man sich selbst.-
Ich drehte mich noch einmal um, starrte wieder in den Spiegel. War ich die ganze Zeit in der Nähe meines Lichts gewesen und hatte es nicht mitbekommen?
Obwohl es mich eigentlich nicht so verwundern hätte sollen, dass die Dinge so waren wie sie waren; schließlich hatte ich nie einen eigenen Körper gehabt. Ich war immer in Mariks Körper gewesen, wieso sollte es nun anders sein?
Immerhin ergaben jetzt einige Dinge auf einmal Sinn, die mich vorher verwirrt hatten; zum Beispiel woher Mariks Stimme gekommen war, warum ich keine Kontrolle über meinen Körper hatte oder die Sachen, die ich plötzlich wusste, die er mir wirklich - unwissentlich - mitgeteilt hatte.
Marik ging in die Küche und wollte sich offensichtlich ein Frühstück machen. Frühstück? War es denn schon soweit? Hatte ich… hatten wir wirklich die ganze Nacht auf dem Sessel verbracht?
Nun, mir war es egal, ich versuchte meine Gedanken erst einmal zu ordnen, als mir noch etwas klar wurde: Er hatte mir Sachen unwissentlich mitgeteilt.
In erster Linie klang das nicht sehr spannend, aber das hieß, - und diese Überlegung freute mich insgeheim sehr - dass unsere gedankliche Verbindung noch funktionierte. Nach kurzem Zögern wagte ich einen Versuch.
-/Marik?/-
Es klirrte laut. Er hatte den Teller, den er in der Hand gehalten hatte, fallen lassen. Fast panisch drehte er den Kopf nach links, dann nach rechts; suchte die Stimme, die da eigentlich gar nicht hätte sein sollen.
Ich wusste, wie es ihm ging. Ich hatte Ähnliches gestern erlebt, als ich ihn sprechen gehört hatte. Es war verwirrend und zugleich sehr… merkwürdig gewesen. Nun, für mein Licht schien es eher unheimlich zu sein.
Er fürchtete sich doch nicht etwa vor mir, seiner eigenen dunklen Seite? Oh, natürlich hatte ich ihm gedroht, ihm schlimme Dinge anzutun, denn in meiner Wut hatte ich ihm Angst machen wollen, damals. Aber ich hatte nie auch nur ein Wort ernst gemeint. Ich hatte doch nur immer das Beste für mein Licht gewollt.
Sein Vater, der ihm die Grabwächterzeichen auf den Rücken gebrannt hatte, hatte Odeon leiden lassen, der für Marik wie ein Bruder war und meinem Licht schreckliche Angst gemacht. Marik hatte ihn gehasst, wie er sein Schicksal hasste.
Ich wollte meine gute Seite nicht leiden sehen, also hatte ich das Objekt seines Hasses - seinen Vater - getötet. Ich war so wütend gewesen, dass jemand es wagte, meinem Licht Leid zuzufügen und war unendlich froh, als wir dann endlich jenen Ort verließen. Aber sein Hass und sein Leid hatten nicht geendet - doch Angst, vor mir, seiner eigenen dunklen Seite?
Als er sicher war, dass sich niemand außer ihm in der Küche befand, fing er an, die Splitter des zerbrochenen Tellers aufzusammeln. Ich versuchte es noch einmal.
-/Marik?/-
Er zuckte zusammen und schnitt sich dabei an einer der Scherben.
Wieder musste mein Licht meinetwegen leiden - auch wenn das nie meine Absicht war. Dann hatte ich ein wundervolles, warmes Gefühl. Unsere Verbindung hatte sich geöffnet.
/…/
Er antwortete nicht, aber immerhin fühlte ich unsere Verbundenheit wieder, die ich so vermisst hatte. Auch wenn ich es noch nie vor irgendjemandem zugegeben hätte, er war der Einzige, der mir je wichtig gewesen war. Ich hatte sonst nichts; nur Marik.
Ich wurde sofort wieder enttäuscht, denn so schnell er sie auch geöffnet hatte, so schnell schloss er sie auch wieder. Wieso hatte er sie dann geöffnet? Vielleicht gar nicht absichtlich?
Er fuhr jedenfalls mit dem Zusammenzuräumen fort und machte sich selbst ebenfalls noch ein schnelles Frühstück. Auch das schmeckte nicht schlecht, auch wenn ich wieder einmal keine Ahnung hatte, was es war. Aber ich musste zugeben, es interessierte mich jetzt auch nicht mehr sehr. Das Einzige, das zählte war, dass mein Marik wieder bei mir war.
Unser gemeinsames Band war stärker, als ich angenommen hatte; auch, wenn mein Licht es offensichtlich nicht wahrhaben wollte.
Nach dem Essen ging es los. Marik musste zu etwas, das er ‚Schule’ nannte - noch so ein Ding, das er mir wahrscheinlich mitgeteilt hatte ohne es zu merken. Vielleicht der seltsame Raum gestern?
Ich wartete begierig darauf, Marik wieder anzusprechen, doch ich wusste, dass es noch zu früh war. Er würde mir wieder nicht antworten. Also blieb ich still.
„...und dann war der Toast völllig verbrannt. Natürlich war Yami sauer, du weißt ja wie…“
Stimmen. Des Pharaos Hikari? Gekicher.
Was war das?
Während Marik auf dem Weg zu dieser Schule oder was auch immer gewesen war, hatte ich mich wieder zurückgezogen. Ich war noch immer nicht bereit für dieses Übermaß an neuen Informationen. Ich versuchte erst einmal, alles schon Gesehene einzuordnen.
„Klingt ja, als hättet ihr viel Spaß…“
Diese Stimme erkannte ich; es war Ryou.
Ich widmete mich wieder der Welt, die ich durch Mariks Augen mitbekam und ich hatte Recht mit beiden meiner Vermutungen: Vor mir - vor Marik - standen Yugi und Ryou, die sich recht gut mit meinem Licht zu unterhalten schienen.
„Ja, ich weiß kaum mehr, wie mein Leben ohne Yami aussehen würde!“
Es ging um den Pharao? …natürlich, es ging immer um den verdammten Pharao. Ich machte ihn dafür verantwortlich, dass Marik mich damals verraten hatte. Mein Licht war doch eigentlich treu, von sich selbst aus hätte er es nicht gemacht! Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass er freiwillig einen Teil seiner Seele aufgab, so sehr er mich auch gehasst haben mag - wieso auch immer.
„Ich wünschte, ich könnte das auch sagen…“, hörte ich meine gute Seite seufzen.
Aber ich war doch hier! Ich würde ihm nicht mehr weh tun, es würde alles gut werden. Marik brauchte mich nicht mehr zu hassen, ich würde jetzt für ihn da sein. Das teilte ich ihm auch mit:
-/Aber das kannst du doch./-
Er zuckte zusammen und wurde daraufhin gleich von Ryou und Yugi gefragt, was mit ihm los sei.
„Es ist nichts.“
Ich bin sicher, keiner der beiden glaubte ihm, aber seltsamerweise gingen sie nicht weiter darauf ein. Erst dann merkte ich, dass jemand hereingekommen war, der jetzt anfing zu reden. Schon nach ein paar Sätzen war mir klar, dass es genauso unverständlich werden würde wie am Tag zuvor, deshalb versuchte ich erst gar nicht, zuzuhören.
Also versuchte ich mein Glück wieder bei meinem Licht.
-/Marik?/-
/.../
-/Marik…?/-
/…/
-/Marik!/-
/Verschwinde doch endlich…/
Er wollte mich also wirklich loswerden? Mich, seine eigene dunkle Seite? Das schockierte mich, enttäuschte mich… verunsicherte mich. War es vielleicht doch sein Wunsch gewesen, mich ins Reich der Schatten zu verbannen?
Nein, nein, das durfte ich nicht denken, ich durfte nicht an meinem Hikari zweifeln. Er war alles, was ich hatte, je gehabt hatte.
Die restliche Zeit blieb ich still, wagte es nicht noch einmal, Marik anzusprechen.
Von Zeit zu Zeit hob Marik seine Hand, sagte irgendetwas. Ich achtete nicht auf seine Worte, die ich ebenso nicht verstand, nur auf seine Stimme. Ich hatte die Stimme meines Lichts immer gemocht. Nun nahm ich sie zum ersten Mal wieder richtig war, sie war angenehm, hell und klangvoll.
Nach stundenlanger Warterei, wie es mir vorkam, verließen wir diese ‚Schule’. In einiger Entfernung schienen wieder Yugi und Ryou zu warten. Waren in der ‚Pharao-Anhängerschaft’ (wie ich sie insgeheim nannte) nicht einmal mehr gewesen? Doch bevor ich überhaupt Zeit hatte, mich darüber zu wundern, stieß ein Typ mit uns zusammen. Marik fiel zu Boden, wimmerte leicht und sah ängstlich hinauf. Vor uns stand ein bulliger Junge, kräftiger als mein Licht, vielleicht auch älter, starrte schadenfroh und offen amüsiert auf Marik hinunter. Blaue Jeans, grüne Jacke.
„Na, Ishtar? Gefällt’s dir da unten? Da gehörst du auch hin, vergiss das nicht!“ Er lachte, höhnisch, genoss die Position des Stärkeren.
Ich wurde wütend; dieser Idiot wagte es doch tatsächlich, meinen Marik zu demütigen, ihm Angst zu machen! Ich würde ihm zeigen, was jenen wiederfuhr, die sich mit mir, Malik Ishtar, anlegten! Er würde sich winden und um Gnade flehen, aber er würde sie nicht bekommen; ich würde ihn quälen, nur langsam töten.
Als ich den Körper meiner guten Seite übernehmen wollte um Mariks Peiniger zu bestrafen, wurde ich von etwas aufgehalten.
Eine Blockade.
Ob jetzt bewusst oder nicht, Marik verhinderte, dass ich seinen Körper übernahm. Warum? Ich wollte ihm doch nur helfen, seine Rache zu nehmen… Er konnte sich das doch nicht einfach gefallen lassen?!
Dann dachte ich an das Turnier, an den Pharao und Mariks Verrat. Nein, Rache war definitiv das Letzte, das meine angeschlagene gute Seite jetzt brauchte.
Der Junge ging immer noch lachend davon, ließ mich damit aufatmen. Solange diese Blockade da war, konnte ich Marik nicht helfen. Falls dieser Typ ihm wirklich etwas angetan hätte… Ich musste eine Möglichkeit finden, sie zu durchbrechen. Aber wie?
„Marik! Bist du in Ordnung?“, fragte der um mein Licht besorgter Ryou sofort.
„Ja, mir geht’s gut.“
Was? Das stimmte eindeutig nicht, das konnte ich spüren. Aber ich würde dieses Problem so schnell wie es ging aus der Welt schaffen, mein Licht retten und mir sein Vertrauen zurückholen. Das jedenfalls nahm ich mir vor.
Ich würde mir meinen Marik schon wiedergewinnen.
Ende Kapitel 2
3.Kapitel: „Danke.“
Für mein Vorhaben, mir Marik zurück zu holen, musste ich behutsam vorgehen. So wie es schien, würde er mich nicht so ohne Weiteres akzeptieren. Ich musste wohlüberlegt handeln.
„Ryou… hast du deiner zweiten Seite vergeben?“
Ryous dunkle Seite, der Grabräuber, Geist des Millenniumsrings? Ich dachte, der wäre im Reich der Schatten? Andererseits hatte ich es auch irgendwie geschafft, da heraus zu kommen, da war es nicht mehr so verwunderlich, dass es dem Grabräuber ebenfalls geglückt war.
Ob Marik über sein Urteil über mich nachdachte? - Bestimmt, sonst hätte er nicht nach Ryous dunkler Seite gefragt.
„Ich weiß nicht. Es ist so schwierig mit ihm. Ich verstehe nicht, warum er sich so benommen hat oder warum er solche Dinge getan hat…“ Ryou sah auf, meinem Licht direkt ins Gesicht. „Wieso willst du das wissen?“
Oh, eine ehrliche Antwort? Ich hatte wohl vergessen, wie nahe die beiden sich nahe gekommen waren, während ich im Reich der Schatten gefangen gewesen war. Es störte mich nicht, dass mein Marik endlich Freundschaften schloss, schließlich war er viel zu viel allein gewesen - wir waren viel zu viel allein gewesen.
„Ach, nur so… du hast ihn gern, nicht wahr?“
Ich hätte Marik mehr Intelligenz zugetraut; für seine Verhältnisse war das eine überaus dumme Frage. Natürlich mochte Ryou seine dunkle Seite. Schließlich war eine solche Verbindung etwas sehr Starkes. Ein Licht würde seiner Dunkelheit alles verzeihen, ihn mit offenen Armen empfangen - und umgekehrt. Jedenfalls hatte ich das bis vor Kurzem noch geglaubt.
Ryou nickte, bestätigte damit nur meine Überzeugung. Warum musste Marik auch so aus der Reihe fallen? Ich war immerhin ein Teil von ihm selbst gewesen und war es noch immer. Eins war sicher: Ich würde mein Licht nicht kampflos aufgeben.
War Yugi schon gegangen? Egal; solange die Dinge zwischen meinem Licht und mir nicht geregelt waren, sollte es mich nicht stören, wo der verdammte Pharao, Yugi oder die anderen der Gruppe waren. Ryou allerdings war vielleicht wichtig. Er hatte zur Zeit großen Einfluss auf Marik, aber die anderen konnte ich noch ignorieren.
Apropos Ryou, was war nun eigentlich aus dem Grabräuber geworden? War er ebenso im Körper seines Lichts gefangen wie ich? Sah er uns vielleicht in dem Moment durch Ryous Augen zu? Um das erfahren zu können, musste ich wohl oder übel abwarten, ob er sich zeigte.
Marik trat den Weg nach Hause an. Ein weiteres Mal verlor ich Ryou einfach aus den Augen, als ich versuchte, mich gegen den Schwall von Informationen zu schützen. Mein Licht hatte mir viel zu erklären, wenn er mich endlich akzeptierte - was hoffentlich nicht allzu lange auf sich warten ließ.
Zu Hause angekommen - besser gesagt, was Marik ‚zu Hause’ nannte - rief er wie schon das letzte Mal nach Ishizu, doch sie wieder ließ sie nichts von sich hören. Marik hing sehr an seiner Schwester; er war traurig über ihre Abwesenheit. Ich hoffte, sie ließ nicht mehr
zu lange auf sich warten, denn ich hasste es, wenn ich Marik unglücklich sehen musste.
Wo sie wohl war? Ich wusste es natürlich nicht. Vielleicht war es meinem Licht bekannt, aber nicht mir. War da nicht noch jemand, der eigentlich bei Marik sein sollte? Ich erinnerte mich nicht.
Ich beschloss, mich wieder zurück zu ziehen. Ich hatte Mariks Gedankenverbindung entnommen, dass er irgendetwas für die Schule zu machen hatte und dafür interessierte ich mich nicht, noch verstand ich es.
Seufzend widmete ich mich meinen eigenen Gedanken; in den letzten zwei Tagen war so viel geschehen. Mir drängte sich immer wieder die Frage auf, wie ich aus dem Reich der Schatten entkommen war. Es war eine sehr überraschende Erlösung gewesen. Nicht nur,
dass ich jetzt Marik hatte, ich brauchte auch die Stimmen der Schatten nicht mehr hören. Die Stimmen, die mir von meinen Fehlern, meinen Ängsten, erzählten, die ich so verzweifelt zu verdrängen suchte… - natürlich waren sie noch da. Aber wenigstens konnte ich sie nur mehr wahrnehmen, wenn Marik schlief. Sonst blieb ich zum Glück von ihnen verschont. Aber sobald Marik in den Schlaf entglitten war, hatte ich mich im Reich der Schatten wiedergefunden, soviel war mir klar gewesen.
Vielleicht war diese Blockade schuld daran, dass mir, selbst wenn er schlief, die Kontrolle über unseren Körper verwehrt blieb?
Doch es war nicht nur eine einfache Blockade. Es war eine psychische Barriere. Ich hatte sie einfach nicht durchdringen können. Ich musste irgendwie herausfinden, wie ich sie zerstören konnte, denn sonst konnte ich Marik nicht beschützen. Es war doch nur zu seinem Besten, schließlich musste ich ihn doch als seine dunkle Seite beschützen.
Was war das? So… nass? Wasser? Verwirrt blinzelte ich umher. Ich spürte keine Kleidung mehr auf unserem Körper. Waren wir in Gefahr? Was war los?
Ich fühlte mich ausgeliefert, ungeschützt und wünschte mir mehr als alles andere den langen, violetten Umhang wiederzuhaben, den ich während des Battle-City-Kampfs getragen hatte.
Schließlich wurde ich durch unsere gedankliche Verbindung beruhigt. Die Situation war weder beunruhigend, noch gefährlich. Meine Verwirrung löste sich aber erst, nachdem ich von unserer Verbindung die Funktion einer Dusche erklärt bekommen hatte. Es war fast erschreckend, an wie viele Dinge ich mich nicht mehr erinnern konnte, denn ich war mir ziemlich sicher, dass Marik früher auch eine Dusche gehabt hatte.
Na wenigstens ging es schneller, das Wissen um diese Dinge aufzufrischen, als Sachen zu verstehen, die ich überhaupt nicht kannte…
Ich erinnerte mich nicht, mir Mariks Körper je so bewusst gewesen zu sein. Es war… seltsam, ungewohnt, neu. Schaudernd versuchte ich, mich wieder ein Stück zurück zu ziehen. Es kam mir irgendwie
merkwürdig vor, bei so etwas beizuwohnen - vor allem, da er mich noch nicht
akzeptierte.
Nach dem Duschen kehrte mein Licht zurück zu seinem Zimmer. Er ließ sich auf das
erstaunlich weiche Bett fallen und ich fühlte mich großartig. Zuminderst wusste ich, dass unser Bett früher, als Mariks Vater noch gelebt hatte, nie so weich gewesen war, sondern hart, unbequem; die Decke kratzig und rau. Wenigstens war er diesmal nicht im Sessel eingeschlafen.
Schließlich spürte ich das vertraute Gefühl wiederkehren. Die Dunkelheit
hatte mich zurückgeholt.
So ging das ein paar Tage lang weiter. Ich beobachtete alles durch Mariks Augen, lauschte den Gesprächen, aber blieb inaktiv. Ich wartete auf meine Chance. …und schließlich war sie da.
Seit meiner Wiederkehr aus dem Reich der Schatten war kaum eine Woche vergangen, als zu den Gesprächen der drei guten Seiten jemand anderer dazu kam - blond, fröhlich, auf den ersten Blick etwas naiv wirkend. Der Junge vor uns kam mir bekannt vor und er redete sehr vertraut mit Yugi. Ich wusste, dass ich ihn schon einmal gesehen hatte… aber wo nur?
/Joey Wheeler/
Ein Mal mehr teilte mir unsere Verbindung Mariks Wissen mit. Aber nicht nur Mariks, denn ich war mir sicher, dass auch ich ihm schon begegnet war.
Ich hatte mich mit ihm duelliert.
Joey… ja, jetzt erinnerte ich mich. Er hatte darum gekämpft, jemanden aus dem
Reich der Schatten zu befreien; jemanden, den ich verbannt hatte.
Er hatte sich gar nicht so schlecht geschlagen, aber er war am Ende natürlich doch von mir besiegt worden. War er nicht Yugis bester Freund? Warum hatte ich ihn bisher noch nicht zu Gesicht bekommen?
„Hey, Marik, du bist in letzter Zeit so merkwürdig…“, sagte Ryou. Es war fast rührend, wie er sich um meinen Marik kümmerte. Ich freute mich aufrichtig, dass Marik nicht mehr so isoliert lebte.
„Komisch?“, fragte der blonde Junge - Joey - misstrauisch. „Du wirst doch nicht wieder so psychopatisch, oder?“
Psychopatisch? Mein Marik?! - Oh, der meinte offensichtlich mich. Marik hatte ja nichts falsch gemacht. Ich wusste eigentlich auch nicht, was ich so Schwerwiegendes falsch gemacht hatte, dass mich alle verurteilten, aber keiner hatte das Recht, es Marik nachzutragen!
Andererseits waren das Turnier und meine Verbannung doch schon eine Zeit her. Auch wenn ich nicht genau wusste, wie lange, es erschien mir seltsam, dass Joey immer noch meinem Licht wegen solch unwichtiger Lappalien grollte.
Marik schüttelte den Kopf, verneinte. Er zögerte kurz, dann sagte er: „Joey, du hast doch noch mein Mathebuch. Bringst du’s mir vielleicht Ende nächster Stunde?“
„Geht klar!“
Soweit ich wusste, war die Schule heute für Marik nach dem Ende der nächsten Stunde aus.
Offensichtlich war Joey nicht immer so misstrauisch, denn mit Yugi und Ryou scherzte er herum. Ich verstand. Einer von der witzigen Sorte.
Ich überlegte, ob ich ihn für dieses Verhalten gegenüber meines Lichts nicht bestrafen sollte, entschied mich dann aber dagegen - nicht, wenn die gute Seite des Pharaos gleich daneben stand.
So war es dann auch: Marik blieb länger als die anderen im Klassenzimmer und wartete auf Joey. Ich dachte mir nichts dabei, obwohl ich es wohl hätte besser wissen müssen.
Denn als die Klasse leer war, tauchte - bei meinem Glück war das ganz klar - der bullige Typ auf, dessen Namen ich zwar nicht wusste, den ich aber trotzdem hasste. Marik kannte ihn bestimmt und wie sein Zurückweichen vermuten ließ, fürchtete er ihn auch. Allein dafür hätte ich ihn schon über kleiner Flamme rösten sollen…
„Putzt du etwa die Klasse, Ishtar?“, fragte er überheblich. Er grinste. Ich unterdrückte ein Knurren. Wie konnte er es wagen, so mit meinem Licht zu sprechen?! Über unsere Verbindung spürte ich Mariks Angst.
Der Typ - und ich meine ‚Typ’, so ungepflegt wie er aussah - kam näher, veranlasste Marik, an die Wand zurückzuweichen. Mein Licht zitterte, schaute panisch hin und her; benahm sich wie ein in die Ecke gedrängtes Tier.
Ich musste eingreifen, das war mir sofort klar - aber wie? Solange die Barriere existierte, konnte ich nichts tun. Nur um es mir selbst zu beweisen, versuchte ich die Kontrolle über unseren Körper zu übernehmen. Es funktionierte wie erwartet nicht, aber ich spürte ein Flackern.
Mariks Angst… schwächte die Barriere? Das war die Chance, auf die ich gewartet hatte; meine Chance, Marik zu beschützen!
Wieder versuchte ich sie zu durchbrechen, wieder spürte ich dieses Flackern.
Der Grund für Mariks Angst war jetzt bedrohlich nahe gekommen. Ich musste etwas tun und zwar sofort. Ein drittes Mal probierte ich es und es gelang mir. Voller Erleichterung übernahm ich die Kontrolle über unseren Körper. Endlich war ich kein Zuschauer mehr. Ich fühlte mich so frei wie schon lange nicht mehr.
Niemand würde meinem Licht etwas zu leide tun. Niemand. Ich grinste bei dem Gedanken.
Der Junge vor mir riss die Augen auf und machte nun selbst ein paar Schritte rückwärts.
„I-Ishtar?! W-wer…b-bist du?!“
Ich weiß wirklich nicht, wieso alle immer Angst bekommen, wenn ich grinse, aber es ist zuweilen ganz nützlich. Ich zwang mich, mich an die Ernsthaftigkeit der Situation zu erinnern. Der Typ hatte Marik Schmerzen zufügen wollen. Er würde nicht ungestraft
davon kommen.
Ich hätte wirklich einen Dolch bevorzugt, aber da ich nicht von Marik erwarten konnte, dass er ein Messer mit sich herumtrug, musste ich wohl zum Nächstbesten greifen - ein Sessel. Er wich noch weiter zurück, aber ich war schneller. Ich ergriff einen der Sessel an der Lehne und schleuderte ihn ihm vor die Brust. Der Typ fiel und prallte mit dem
Hinterkopf hart gegen die Wand.
Ich muss sagen, dass ich körperlich nicht so stark war, wie ich es gerne gehabt
hätte - oder wie andere es fälschlicherweise glaubten -, einfach weil Mariks Körper nicht so kräftig war. Aber es war wirklich keine Kunst, einen Sessel hochzuheben oder
jemanden damit zu treffen, der es nicht erwartete und Angst hatte. Es war zwar nicht die langsame, schmerzensreiche Folter, die ich mir erhofft hatte, doch ich hatte meinen Marik beschützt.
Ich stellte den Sessel wieder auf den Boden. Ein ganz neues Freiheitsgefühl durchströmte mich und ich genoss es, genauso wie meinen errungenen Triumph. Den schlaffen Leib vor mir dagegen ignorierte ich.
Dann war da noch ein anderes Gefühl: Schock. Mariks Schock. War mein Licht nicht glücklich, dass ich ihn gerettet hatte? Wer weiß, was ihm sonst passiert wäre…
Blinzelnd fiel mir etwas anderes auf. Der Junge blutete. Ich konnte das Blut sehen, konnte es fast riechen. Tief atmete ich ein, nahm den trockenen, staubigen Schulgeruch war. Endlich war ich wieder im Besitz aller meiner Sinne! …und eines Körpers.
Überwältigt von den Ereignissen stand ich noch immer dort vor dem zusammengesunkenen Leib.
/…Danke./
Ein glückliches Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Marik wusste meinen Eingriff zu schätzen.
/Aber du hättest ihn nicht so zurichten müssen./
Mein Marik - zu gut für diese Welt.
-/Er hat es nicht anders verdient./-
Darauf erwiderte er nichts, aber es reichte mir vorerst. Wir hatten endlich miteinander gesprochen.
Auf einmal hörte ich Schritte, einsam hallten sie durch das fast leere Schulhaus - ein Keuchen, ein Schwall blonder Haare und eine Stimme.
„Tut mir Leid, ich musste noch…“
Der Junge in der Tür stoppte. Ich erkannte ihn sofort, es war Joey. Joey, der Marik sein Buch bringen wollte. Er starrte mich aus vor Horror geweiteten Augen an, blickte dann zu dem Jungen, der Marik belästigt hatte und wieder zurück zu mir. Ich konnte direkt sehen, wie sein Gehirn arbeitete. Die Verbindung zwischen ihm, der blutend und bewusstlos am Boden lag, und mir war schließlich nicht zu leugnen. Ich konnte mir gleich ausrechnen, dass Marik das nicht gefallen würde.
„Du! Was hast du mit ihm gemacht?!“, schrie Joey. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt.
„Ich hab ihm gegeben, was er verdient hat.“ Meine Antwort war ruhig, fast gelassen. Ich stieg über den am Boden liegenden Körper und ging an Joey vorbei hinaus. Joey ballte die Hände zu Fäusten. Er knurrte.
„Yugi wird dich erledigen; das hätte er schon lange tun sollen! Wir waren dumm, dir wieder zu vertrauen!“
Er warf mir Mariks Buch hinterher. Es landete direkt vor meinen Füssen. Er hatte „schon lange“ gesagt… glaubte er etwa, er hätte eben Marik gegenüber gestanden? Glaubte er etwa, Marik und ich wären dieselbe Person?! Unmöglich.
Ich hob das Buch auf und setzte meinen Weg hinaus fort. Schließlich gehörte es Marik. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Ich konnte einfach nicht glauben, dass jemand nicht zwischen Marik und mir unterscheiden konnte.
Marik versuchte wieder, die Kontrolle über seinen Körper zu übernehmen; ich
ließ es zu.
Als wir das Gebäude verlassen hatten, fing Marik an zu rennen. Ich konnte seinen Schmerz fühlen. Unter anderen Umständen wäre Joey für ihn vielleicht ein guter Freund geworden, aber so… Dann spürte ich etwas, dass ich lange vergessen hatte. Tränen. Zuerst nur eine, dann immer mehr salzige Tropfen rannen über Mariks Wangen. Wieder hatte ich meinem Licht wehgetan. Was machte ich nur falsch?!
Ende Kapitel 3
4.Kapitel: Die Folgen
Jetzt war es also kein Geheimnis mehr, dass ich mich nicht mehr im Reich der Schatten befand. Ob Marik es noch einmal zulassen würde, dass der Pharao mich verbannte? In seiner derzeitigen Verfassung war ihm das vermutlich egal.
Er hatte das Haus erreicht, stürmte ins Wohnzimmer, erblickte Ishizu, die es sich gemütlich gemacht hatte und warf sich seiner älteren Schwester direkt in die Arme.
Langes, schwarzes Haar, azurblaue Augen, ähnlich dunkle Haut wie Marik. Es war das erste Mal, seit ich aus dem Reich der Schatten zurück war, dass sie anwesend war; das erste Mal, dass ich sie seit dem Battle-City-Turnier sah. Sie sah erstaunt und besorgt auf ihren Bruder, legte sanft die Arme um ihn. Marik weinte bitterlich. Die gestammelten Worte gingen in einem Schluchzen unter.
Es ging mir nahe, dass mein Licht, der zweite Teil meiner Seele, so aufgelöst war, Tränen vergoss. Ich hatte ihn doch nicht wieder unglücklich machen wollen, im Gegenteil. Er war doch froh gewesen, dass ich ihm diesen Kerl vom Hals geschafft hatte. Was hatte ich falsch gemacht?
Für Joeys Reaktion konnte ich doch nichts, oder? Was hatte ich nur falsch gemacht…
Ich hatte mein Licht beschützt wie es jeder anständige Yami getan hätte. Dass Joey in dem Augenblick hereinkommen und Marik die Schuld geben würde, hatte ich doch nicht wissen können. Sicher, es hätte nicht passieren dürfen, aber jetzt war es geschehen.
Ich hätte Marik gern getröstet, aber ich wusste, dass Ishizu dieses Privileg hatte; wusste, dass er seine Schwester jetzt brauchte.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, obwohl es kaum ein paar Minuten sein konnten, bis das Schluchzen meines Lichts verstummte.
„Bruder, willst du mir sagen, was dich bedrückt?“, fragte Ishizu Marik sanft, während sie ihm beruhigend durchs platinblonde Haar streichelte. Ich konnte die Berührung auch fühlen, was mich ungeheuer überraschte. Es war so lange her, dass ich eine zärtliche Berührung gespürt hatte. Andererseits hatte keine davon je wirklich mir gegolten.
Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn Marik mich berühren könnte?
„N…nein“, war alles, was mein Licht seiner Schwester antwortete. Sie nickte verständnisvoll und strich ihm über den Rücken. Ich hatte mich immer schon gewundert, wie Ishizu so hart und unerbittlich gegen mich vorgehen und gleichzeitig so ungeheuer fürsorglich und zärtlich Marik gegenüber sein konnte. Immerhin waren wir Licht und Dunkelheit, zwei Stücke einer Seele. Man konnte uns nicht so einfach trennen, wie sich das alle vorstellten, denn ich war eben ein Teil von Marik. Und Marik war ein Teil von mir.
Mein Licht wischte sich die letzten Tränen von den sicher bereits geröteten Wangen. Er stand auf und küsste Ishizu auf die Wange.
Zuerst glaubte ich, er wollte in sein Zimmer, doch sein Ziel war ein anderes - das Bad. Dort angekommen zögerte er kurz, dann zog er sich das Oberteil über den Kopf und betrachtete seinen Rücken im bodenlangen Spiegel neben der Dusche.
Hätte ich es gekonnt, ich hätte meine Hände zu Fäusten geballt. Schwarz auf Mariks bronzenen Haut schimmerten mir seine, unsere, Grabwächter-Tätowierungen provozierend entgegen. Sie waren schuld an so viel Leid gewesen. Hass stieg in mir auf. Hätte doch jemand anderer diese verfluchten Zeichen bekommen und nicht mein Marik!
Im Spiegel konnte ich den traurigen, fast hoffnungslosen Blick meines Lichts sehen.
„Du bist also wieder da.“ Seine Stimme klang seltsam irreal im leeren Raum.
-/Ja/-, antwortete ich über unsere Verbindung. Im Gegensatz zu ihm konnte ich nicht laut sprechen.
„Warum?“
Die Frage versetzte mir einen Stich; ich war doch seine andere Seite, warum musste er da fragen, wieso ich bei ihm war? Genauso sollte es doch sein. Ich wollte ihn nicht unglücklich sehen, ihn endlich zufrieden machen, frei von Sorge sehen…
Aber der Ausdruck in den lavendelfarbenen Tiefen sagte mir, dass ich mich nicht sehr gut dabei anstellte.
-/Weil du mein Licht bist./-
Grob zusammengefasst entsprach das der Wahrheit. Ich hätte ihm gern noch so viele Details erzählt; dass ich ihn beschützen wollte, dass ich für ihn da sein wollte… Doch im Moment würde er mir das nicht glauben, egal wie sehr ich es ihm versichern würde. Ich hoffte sehr, dass sich das bald ändern würde.
Marik schien überrascht, vielleicht sogar verwirrt zu sein. Ich nahm an, er hatte etwas in der Art von ‚Ich will den Pharao töten’ oder ‚Um Rache zu nehmen’ erwartet. Aber war das jetzt noch nötig? Marik wollte das nicht mehr, also was gab es für mich für einen Grund noch länger hinter dem Pharao her zu sein?
Natürlich mochte ich ihn nicht, hasste ihn sogar - wie ich bereits erwähnte, schrieb ich ihm die Schuld an Mariks Verrat zu - aber warum sollte ich ihn töten, wenn es nicht Mariks Wunsch entsprach? Ich hatte absolut kein Interesse daran, etwas zu tun, was mein Licht nicht wollte.
„Äh… das heißt, du wirst niemandem weh tun oder so was?“, fragte er.
-/Nur wenn es erforderlich ist./-
„Erforderlich?“ Argwohn war aus seiner Stimme zu hören. Ich konnte förmlich spüren, dass ich ihn damit jetzt noch mehr verwirrt hatte, was mich insgeheim amüsierte. Er musste aufhören, mich als ‚Das Böse in ihm’ zu sehen, wie es alle taten. Womit ich diesen Titel verdient hatte, wusste ich nicht - aber es war mir egal, solange Marik nicht daran glaubte. Zu meinem Unglück schien das aber noch der Fall zu sein, oder?
-/Wenn du in Gefahr bist/-, erklärte ich. Dann würde ich keine Sekunde zögern, irgend jemandem Schmerzen zuzufügen. Jeder, der für mein Licht Gefahr bedeutete, hatte es allein dafür schon verdient zu leiden.
„So wie… heute?“, fragte er.
-/Ja./-
Mir lag auch eine Frage auf der Zunge - eigentlich mehrere, aber nur eine, die ich ihm jetzt stellen konnte. Ich wagte es:
-/Ignorierst du mich jetzt nicht mehr?/-
„Nein. Das hat jetzt keinen Sinn mehr. Solange du nicht wieder versuchst, mich ins Reich der Schatten zu schicken…“
-/Werde ich nicht/-, meinte ich energisch. Obwohl ich nicht sagen konnte, ob er mir glaubte oder nicht.
Marik nickte dem Spiegel zu, zog sich wieder vollständig an und setzte sich an seine Arbeit für die Schule. Ich war mir fast sicher, dass ich sein Vertrauen noch nicht wiedererworben hatte, aber es war zuminderst schon einmal ein Anfang gewesen.
-/Marik, was ist das da links?/-
/Ein Auto./
-/Und was macht man damit?/-
/Damit kommt man ziemlich schnell von einem Ort zum anderen./
-/Marik, was ist das da vorne?/-
/Eine Laterne./
-/Und wofür ist die gut?/-
/Sie macht Licht in der Nacht, damit du auf der Straße etwas sehen kannst./
-/Marik, was…/-
/Schluss jetzt!/
Diesmal zog ich mich auf Mariks Weg zur Schule nicht zurück, sondern ließ mir von ihm die Sachen erklären, die mir unverständlich waren. Die Stimmung zwischen uns war noch immer gespannt, aber ich konnte ihn zuminderst Sachen fragen und er erklärte sie mir.
Mein Licht rief mich zur Ordnung, weil ich ihn mittlerweile wohl etwas nervte, aber ich war glücklich. Nicht nur, dass er endlich richtig mit mir sprach, ich verstand auch endlich die meisten Dinge.
Wenigstens brauchte ich mich nicht mehr irgendwo in meinen Gedanken zu verschanzen, wenn wir auf die Straße gingen. Alles war mir immer noch nicht klar, aber es drohte mich nicht mehr der Schwall an Informationen zu erdrücken. Es war besser geworden.
Gleich würde es soweit sein; wir würden Joey, Yugi, Ryou und vielleicht auch dem Pharao gegenüber stehen. Marik bestätigte mir, dass da noch andere waren, aber im Moment war es mir egal. Schließlich hatten wir von niemandem etwas zu befürchten, der nicht da war.
„Marik! Marik!“ Ryou kam schnell auf uns zugerannt und als er schließlich stehen blieb, rang er nach Luft.
„Marik, was war gestern los?! Angeblich wurde Atoshi zusammengeschlagen und musste ins Krankenhaus! Joey sagt, du hast was damit zu tun…?“
Marik zögerte.
„Er ist nach der Stunde auf mich losgegangen… Moment, er musste ins Krankenhaus?!“
Ich vergaß immer wieder ihre Freundschaft. Mein Licht schien darauf zu vertrauen, dass Ryou ihn wenigstens anhören würde.
„Ja! Gehirnerschütterung. Soweit ich weiß, hat er gesagt, dass er ausgerutscht ist… er ist auf dich losgegangen?! Ist dir etwas passiert?“
„Nein.“
„Joey sagt, du hättest ihn ohnmächtig geschlagen.“
Ryou sah seinen Freund zweifelnd an.
„Nein, das war ich nicht…“, begann Marik, wurde aber von Joey unterbrochen, der just in diesem Moment mit Yugi im Schlepptau um die Ecke kam.
„Da ist er! Ryou, halt dich lieber von ihm fern, der ist gefährlich!“
Sowohl Yugi, als auch Ryou wirkten mehr erstaunt als verängstigt, aber offenbar war Joey fest von seiner Behauptung überzeugt. Wieder packte mich die Wut. Wieso sprach dieser Joey schon wieder so über meinen Marik?!
/Reg dich nicht so auf/, sagte Marik über unsere Verbindung. Konnte er etwa spüren, was ich fühlte? Wieder etwas, dem ich später auf den Grund gehen musste.
„Er hat gesagt, dass er es nicht war“, erklärte Ryou den beiden Neuankömmlingen.
„Was?! Aber ich hab’ dich doch gesehen!“, rief Joey und sah Marik fest an. Sein Gesicht zeigte Entschlossenheit.
„Ich war das nicht!“, beharrte Marik und fügte dann leiser hinzu: „Das war meine dunkle Seite.“
Die Reaktionen waren witzig, obwohl ich die Situation wohl hätte ernster nehmen sollen. Yugis Augen wurden groß und Joey sah einfach nur überrumpelt aus. Ryou schien es kaum zu beeindrucken.
„Ach, deshalb hast du letztens nach meinem bösen Geist gefragt? Weil dein eigener wieder da ist?“, fragte er gelassen. Nun, eigentlich hatte er ja Recht, aber wäre es doch unabhängig davon in jedem Falle interessant gewesen zu erfahren, was eigentlich aus dem Grabräuber geworden war. Apropos, ich hätte zu gern gewusst, was der Pharao jetzt dachte. Schnell schielte ich zu seinem Licht, dem kleinen Yugi, der sich gerade erst von dem Schock erholte. Der Pharao zeigte sich allerdings nicht.
„Deine dunkle Seite ist wieder da? Wie lange schon? Und wo?“, fragte Yugi ängstlich. Er schien fast Angst zu haben, dass ich im nächsten Moment hinter einer Ecke hervorspringen würde. Ich musste gedanklich grinsen.
„Seit ungefähr einer Woche“, sagte Marik.
„Ach, deshalb warst du so seltsam. Aber mach dir keine Sorgen, wir finden eine Lösung, ihn wieder loszuwerden. Kannst du bis nach der Schule warten?“ Yugi sah mein Licht freundlich lächelnd an.
Mich loswerden?
„Äh… ja, klar, ich kann warten…“, sagte Marik. Seine Stimme wurde gegen Ende immer leiser. Wollte er mich wirklich… loswerden? Ich dachte, wir hatten uns gerade erst versöhnt!
„Gut, ich überlege mir etwas, versprochen!“, rief Yugi und stürmte bereits davon. Joey folgte ihm mit den Worten: „Warte, Yugi! Was ging da gerade ab?!“ Damit wurde es wieder etwas ruhiger; jetzt waren wir mit Ryou allein. Der Junge mit den weißen Haaren wirkte weder schockiert, noch wütend auf Marik. Er lächelte ihn einfach an, seine schokoladenbraunen Augen strahlten.
-/Du willst mich also… loswerden?/-, fragte ich mein Licht über unsere Verbindung.
/…nein./
Was? Hatte er wirklich gerade verneint? Endlich, endlich bekam ich meinen Marik wieder! Vor Glück hätte ich ihn jetzt gerne umarmt. Schade, dass das nicht ging.
-/Wirklich?/-
/Ja./
-/Wieso?/- Ich musste einfach wissen, weswegen er seine Meinung derartig geändert hatte.
/Immerhin hast du mich gerettet…/
Endlich zahlte sich meine Rettungsaktion aus! Jetzt konnte es nur noch bergauf gehen, jetzt würde alles besser werden. Wir würden uns gemeinsam schon ein neues Leben aufbauen.
Marik ging mit Ryou in die Klasse - wie mein Licht es nannte - und setzte sich mit ihm nach hinten in eine stille Ecke. Yugi stand weiter vorn und redete eifrig auf seinen besten Freund - das wusste ich ebenfalls von Marik - diesen Joey ein. Vermutlich diskutierten sie gerade, wie sie mich am besten ins Reich der Schatten zurück schicken konnten. Ich wollte dort nicht wieder hin! Die Zeit, in der die Schatten auf mich einreden konnte, reichte mir wirklich, aber ich wollte unter gar keinen Umständen dort zurück. Ich wollte bei Marik bleiben.
„Marik…? Hast du deiner dunklen Seite vergeben?“, fragte Ryou. Auf Mariks - und meinen - verständnislosen Blick hin fügte er hinzu: „Na, weil du mich das letztens gefragt hast.“
„Ich bin gerade dabei“, antwortete Marik zögernd. Von Ryou bekam er ein glückliches Lächeln geschenkt, das ich aus tiefstem Herzen teilte.
Dann seufzte Ryou.
„Ich wünschte, ich könnte mich mit dem Geist im Millenniumsring auch vertragen.“
„Und wieso kannst du’s nicht?“
Ryous trauriger Gesichtsausdruck schien mein Licht zu berühren, ihm nahe zu gehen.
„Weil ich ihm völlig egal bin.“
„Du bist ihm bestimmt nicht egal.“
Ryou wirkte ganz und gar nicht überzeugt, aber da in dem Moment der ‚Unterricht’ wieder anfing, blieb ihnen keine Wahl, als die Unterhaltung auf später zu verschieben.
Nach ihren häufigen Gesprächen über den Grabräuber hätte ich ihn gern einmal zu Gesicht bekommen… Na ja, das Nächste, das wir zu tun hatten, war jedenfalls dem Pharao
gegenüber zu treten.
Ende Kapitel 4