4.
„Chef?“
„Ja, Nadeshda, was denn? Ich wollte gerade Feierabend machen“, grummelte Thiel seine Assistentin an, da er gerade auf dem Weg nach draußen war.
„Telefon für Sie, es ist der Professor“, antwortete Nadeshda und ein kleines Lächeln umspielte ihren Mund, so als wüsste sie, dass die dicke Luft der vergangenen Tage so gut wie verflogen war.
„Oh, okay. Ich nehm das Gespräch in meinem Büro an.“
Kurz bevor er den Hörer des Telefons abhob und zum Mund führte, atmete Thiel noch einmal kräftig durch. Nur die Ruhe. Nur die Ruhe. Die Verabredung für den Abend hatte Thiel nervöser gemacht, als er beim Verlassen der Rechtsmedizin gedacht hatte. Ja, er wollte Boerne wiedersehen und ja, er wollte auch endlich wieder ganz normal mit ihm umgehen können. Die Tage des Ignorierens waren zugegebenermaßen auch für ihn sehr anstrengend gewesen. Nur hatte er sich bisher viel zu sehr vor einer Konfrontation mit Boerne gefürchtet, um zu merken, wie sehr er selbst darunter litt. Und dann Boerne zu sehen, zuerst gestern und dann heute. Es war so, als hätte die Zeit sich zurückgedreht. Dieses Lächeln, dieser Blick.
Kurz räusperte sich Thiel, bevor er sich meldete. „Thiel.“
„Ja, Boerne hier“, kam es etwas unsicher von der anderen Seite.
„Ja, was denn? Haben Sie neue Ergebnisse?“ Thiel wusste beim besten Willen nicht, was Boerne jetzt noch von ihm wollen würde, immerhin war es kurz nach sieben und er wollte sowieso nach Hause gehen, um sich für ihre Verabredung frischzumachen.
„Nein, ich habe keine neuen Ergebnisse. Aber ... das mit heute Abend“, begann Boerne stockend zu sagen. „Ich bin noch beschäftigt. Wir müssen deshalb umdisponieren. Tut mir sehr leid. Wollen wir uns vielleicht einfach auf einen Wein treffen, später am Abend dann?“
Bildete sich Thiel das Ganze nur ein, oder klang Boerne gerade wirklich unsicher, ja fast schüchtern. Dieses Verhalten passte gar nicht zu Boerne, wunderte sich Thiel.
„Warum denn?“, wollte Thiel wissen.
„Ich... das kann ich nicht sagen. Eine private Angelegenheit, die keine Aufschiebung duldet“, erläuterte der Professor und das, so musste Thiel doch zugeben, klang schon wieder sehr nach Boerne. Doch ehe Thiel antworten oder irgendwie reagieren konnte, fuhr sein Gegenüber fort:
„Fein, dann nehme ich Ihr Schweigen mal wie üblich als Zustimmung und wir sehen uns später auf einen Wein, von mir aus können Sie auch für sich ein Bier mitbringen, wenn Ihnen nicht der Sinn nach einem meiner edlen Tropfen steht.“
Großzügig wie immer, dachte Thiel, konnte aber bloß noch ja sagen, als er auch schon das Tuten in der Leitung hörte. Boerne hatte aufgelegt. Einfach aufgelegt. Das war nun wirklich unerwartet. Sowas hatte er noch nie getan, nicht bei ihm zumindest. Bei anderen war der Professor da schon ungenierter. Aber sein Benehmen von eben war für Thiel überhaupt nicht zu deuten. Erst wollte Boerne sich unbedingt mit ihm treffen, und nun sagte er ihre Verabredung quasi ab und das auch noch, ohne einen Grund zu nennen. Private Angelegenheit, als ob. Und von irgendwoher schlich sich dann bei Thiel ein leiser Gedanke ein. Hatte Boerne ihn etwa versetzt? Erst sich unbedingt verabreden und dann, einfach absagen. Dieser Gedanke löste in Thiel das unsichere Gefühl der Zurückweisung aus.
Wie betäubt stand Thiel immer noch in seinem Büro und hielt den Telefonhörer in der Hand, als Nadeshda zur Tür hereinschaute.
„Alles in Ordnung, Chef?“
„Was, ehm... ja“, beeilte sich Thiel zu sagen, als er bemerkte, dass er wie versteinert dastand.
„Ich geh jetzt, Sie brauchen mich doch nicht mehr, oder?“
„Nein, nein. Ich werd auch gleich gehen. Ich will nur noch …“, nuschelte Thiel eine Erwiderung, aber er wusste eigentlich nicht, was er nun tun sollte. Seine Verabredung war ja nun erstmal aufgeschoben und die ganze Zeit in seiner Wohnung zu sitzen, um auf Boerne zu warten, das war keine wirklich erbauliche Aussicht.
„Wollen Sie vielleicht noch mit mir was Trinken gehen, Chef? Meine Eltern würden sich sicher freuen, wenn Sie mal wieder im Kalinka vorbeischauen würden. Immerhin haben Sie einen bleibenden Eindruck bei Ihnen hinterlassen mit Ihrer kleinen Tanzeinlage“, schmunzelte Nadeshda und schaute ihren Chef fragend an.
Ja, das Kalinka. Der Abend, auf den Nadeshda anspielte, war auch ihm lange noch in Erinnerung geblieben, allerdings nur weil die Verhaftung von Larissa in ihm widersprüchliche Gefühle ausgelöst hatte. Aber immerhin, so musste er zugeben, war ein Abend im Kalinka, in Gesellschaft, doch besser, als jetzt irgendwelchen trübsinnigen Gedanken und Gefühlen nachzuhängen, und auf Prof. Supertoll-Boerne zu warten.
„Warum nicht“, antwortete Thiel fast trotzig daraufhin. „Wie es aussieht, habe ich eh nichts mehr vor.“
„Sehr schön. Kommen Sie?“, forderte Nadeshda ihn auf, indem sie ihm die Tür aufhielt.
Die Kirchenglocken schlugen gerade zwölf, als Thiel nach einer schier nie endenwollenden Verabschiedung von Nadeshda und ihren Eltern das Kalinka verließ. Etwas bierselig machte er sich auf den Heimweg und war bester Laune. Der Abend im Kalinka hatte ihm gut getan und er fühlte sich, wie schon lange nicht mehr, mit sich und der Welt im Reinen. Nachdem Boerne ihm abgesagt hatte, zumindest hatte Thiel dieses Gefühl nach dem Telefonat beschlichen, hatte er beschlossen, sich von Boerne zukünftig nicht mehr die Laune verderben zu lassen. Immerhin war er ein erwachsener Mann und kein pubertierender Dreizehnjähriger, der von seinen Hormonen gesteuert wurde. Er war Hauptkommissar Frank Thiel und würde sich von einem Lackaffen wie Boerne sicher nicht den Abend verderben lassen. Solche und andere Gedanken und Thesen hatten schließlich dazugeführt, dass Thiel die Verabredung mit dem Lackaffen Boerne nach dem zweiten Bier im Kalinka erfolgreich verdrängt hatte. Irgendwann waren Thiel und Nadeshdas Vater dann auch in eine spannende Diskussion über Fußball und die Auf-und Abstiegsplätze der Bundesliga vertieft, sodass Thiel auch gar nicht mitbekam, wie schnell der Abend vorbei und die Nacht angebrochen war.
Auf seinem Heimweg musste Thiel auch immer noch über die Ansicht von Gennadi grinsen. Nadeshdas Vater, mit dem er sich nun duzte, hatte tatsächlich behauptet, dass Russland das nächste Mal Weltmeister würde. Seufzend schüttelte Thiel bei dem erneuten Gedanken daran den Kopf. Es war wirklich ein erheiternder Abend, das musste er zugeben.
Dieses heitere Gefühl verschwand aber schlagartig, als er, vor seinem Wohnhaus angekommen, das brennende Licht in Boernes Wohnung bemerkte. Verflucht! Thiel hatte die Verabredung mit Boerne vollkommen vergessen. Oder erfolgreich verdrängt, gestand er sich ein. Aber die Gesellschaft der anderen und die ausgelassene Stimmung im Kalinka hatten ihn so erfolgreich abgelenkt von seinen Gedanken über Boerne, dass er schließlich überhaupt nicht mehr an ihn dachte.
Etwas ratlos sah Thiel zu den beleuchteten Fenstern hinauf. Was sollte er tun? Der Professor war anscheinend noch wach. Aber jetzt noch klingeln, um ein Glas Wein zu trinken? Das war absurd. Boerne würde merken, dass Thiel nicht mehr ganz nüchtern war.
Unschlüssig stieg Thiel die Treppe zu seiner Wohnungstür herauf und versuchte dabei so lautlos wie möglich zu sein. Er hatte kein gesteigertes Verlangen danach, Boerne, der nun sicher nicht in allerbester Stimmung sein würde, mit einer Bierfahne zu erklären, dass er ihn einfach vergessen hatte. Wie auch? Etwa so: Tut mir leid, Boerne. Ich hatte heute Abend seit langem mal wieder Spaß und da hab ich dich einfach vergessen. Lass uns unser Date doch ein anderes Mal nachholen. Ist doch nicht so schlimm, oder?
Wohl kaum. Boerne würde kein Wort mehr mit ihm reden.
Und da waren sie auch schon wieder, die Gedanken über Boerne und die Auseinandersetzung mit seinen eigenen Gefühlen. Er fühlte sich mies. Nun hatte er Boerne einfach versetzt. Dabei wollte er sich doch nicht mehr mies wegen diesem Typen fühlen.
Mit einem Klacken öffnete sich die Wohnungstür hinter Thiel. Thiel erstarrte. Boerne hatte offensichtlich sein Kommen gehört und auf ihn gewartet. Langsam drehte er sich auf dem Absatz um.
„Nabend, Herr Professor“, versuchte Thiel so freundlich wie möglich die Siuation zu retten.
„Thiel, da sind Sie ja endlich!“, fuhr Boerne ihn an und wollte in einem nicht minder ärgerlichen Tonfall wissen: „Wo waren Sie denn?“
Boerne trug keine Krawatte und kein Jackett, auch der oberste Knopf seines weißen Hemdes war offen. Er sah gut, dachte Thiel. Er sah einfach verdammt gut aus. Weil Thiel vom Aussehen Boernes vollkommen eingenommen war, fiel ihm auch erst nach einigen Sekunden auf, dass Boerne ihn auffordernd ansah und immer noch auf eine Antwort oder Erklärung von ihm wartete. Etwas unbeholfen und mit den Armen unsicher gestikulierend trat Thiel dann einen Schritt auf Boerne zu und sagte,
„Naja, ich … ehm, war noch im Büro.“ Doch am Gesichtsausdruck seines Gegenübers konnte er erkennen, dass diese Aussage wohl nicht das war, was Boerne hören wollte. Und auch Thiel musste zugeben, dass es ziemlich lahm klang.
„So, Sie waren im Büro“, säuselte Boerne plötzlich.
„Ja, ich hab noch ein paar Akten durchgesehen“, antwortete Thiel und merkte erst zu spät, dass Boerne ihn schon längst durchschaut hatte.
„Thiel, Sie waren nicht im Büro! Ich habe angerufen. Ich habe die ganze Zeit versucht, Sie zu erreichen. Sie waren nicht im Büro. Und Sie waren auch nicht bei Ihrem Vater, falls Sie mir das als nächstes auftischen wollten“, platzte es aus Boerne heraus.
Mist, fluchte Thiel innerlich.
„Ich war noch weg“, gab Thiel etwas schnippischer zurück, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Aber er wollte sich das Verhalten Boernes auch nicht ohne weiteres bieten lassen.
„Weg“, wiederholte Boerne ironisch. „Und wo waren Sie?“
„Das geht Sie gar nichts an“, gab Thiel zurück. Boernes Verhalten regte ihn tierisch auf. Er hasste es, verhört zu werden. Seine Ex-Frau hatte das auch immer gemacht.
„Ich habe den ganzen Abend auf Sie gewartet. Ich konnte Sie nicht erreichen und dann, dann erreiche ich endlich Ihre reizende Assistentin Fräulein Krusenstern und wissen Sie was sie mir gesagt hat?“, und dabei sah Boerne ihn herausfordernd an, so als wäre jede Antwort oder Erwiderung nur noch mehr Zunder für seinen Frust und Ärger. „Dass Sie, lieber Herr Thiel,“, dabei strotzte seine Stimme nur so vor Sarkasmus, „soeben das Kalinka verlassen haben und bestimmt bald zuhause sein dürften.“ Zornfunkelnd sah Boerne Thiel direkt in die Augen.
„Ich weiß gar nicht, warum Sie sich hier so künstlich aufregen. Das is doch meine Sache, was ich nach Feierabend mache und geht Sie 'nen feuchten Kericht an!“, maulte Thiel zurück. Was zuviel war, war zuviel. Thiel hatte keine Lust, sich von Boerne hier runterputzen zu lassen und er wusste beim besten Willen nicht, warum der Professor sich wie eine hysterische Ehefrau benahm.
Boerne schaute ihn mit einem Mal etwas getroffen an, doch dieser Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand so schnell, dass Thiel schon glaubte, er hätte es sich nur eingebildet.
Der Professor räusperte sich kurz und erwiderte dann nur knapp: „Wir waren verabredet.“
„Ja, das waren wir“, versetzte Thiel vorwurfsvoll. „Aber Sie haben dann abgesagt!“ Und dabei konnte Thiel gerade so verhindern, dass er auch noch den Zeigefinger Boerne entgegenstreckte.
„Ich hab was?“, fragte Boerne verwundert.
„Abgesagt“, antwortete Thiel gerade, als ihm klar wurde, dass Boerne gar nicht abgesagt hatte, sondern die Verabredung verschoben hatte. Mist! Er hatte sich selber eingeredet, dass er versetzt worden war und nun glaubte er es selbst.
„Ich bat Sie lediglich um Aufschub,Thiel. Ich weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, dass ich abgesagt hätte“, bemerkte Boerne immer noch mit einer Spur Verwunderung in der Stimme.
Thiel war die ganze Sache so peinlich und unangenehm, dass er sich mit dem Studieren seiner Fußspitzen beschäftigte und es tunlichst vermied, Boerne in die Augen zu sehen.
Ein unangenemes Schweigen brach zwischen beiden aus. Thiel wollte einfach nur noch ins Bett und den Tag hinter sich lassen.
„Was ist jetzt, Thiel, wollen wir noch einen Wein trinken?“, fragte Boerne nach einigen weiteren schweigsamen Sekunden.
„Naja“, versuchte Thiel eine Antwort zu geben, jedoch ohne zu wissen, was er sagen sollte, und unterstrich seine Ratlosigkeit mit einem Schulterzucken.
„Na, kommen Sie, Thiel, oder haben Sie was Besseres vor?“, stichelte Boerne aufmunternd und lächelte Thiel gewinnend an.
Da war es wieder, dachte Thiel, dieses Lächeln. Boerne musste genau wissen, dass er ihn damit rumkriegen würde. Aber Thiel konnte und wollte auch nicht wirklich widerstehen. Nicht jetzt, nicht hier, nicht Boerne.
5.
Es kam Thiel so unwirklich vor, dass er nun in Boernes Wohnzimmer saß. Auf der grauen Stoffcouch, ein Glas Rotwein vor sich auf dem Tisch. Und Boerne, der gerade in die Küche ging. Thiel wusste, dass es eigentlich genau diese Situation war, die er vermeiden wollte. Er wollte nicht, dass sich das gleiche Szenario abspielte wie bei ihrem letzten gemeinsamen Abend. Sollte er lieber gehen? Einfach so? Einerseits war sich Thiel sicher, dass er keine Wiederholung wollte und andererseits …
Boerne kam aus der Küche zurück ins Zimmer und legte eine Schallplatte auf. Leise Klaviermusik erfüllte den Raum und Thiel merkte unterbewusst, dass er sich zu entspannen begann und der Gedanke, Boernes Wohnung auf der Stelle zu verlassen, immer mehr abflaute und anderen Empfindungen Platz machte. Vielleicht würden sie ja wirklich nur reden und ein Glas Wein trinken, doch das sanfte Lächeln auf Boernes Mund zeigte ihm deutlich, dass er sich täuschte.
„Boerne, ich“, versuchte Thiel ein Gespräch einzuleiten, von dem er selber nicht wusste, worüber und warum. Eigentlich dachte er nur noch daran, wie es sich anfühlte, von Boerne berührt zu werden. Und geküsst zu werden.
„Was denn Thiel, nun reden Sie doch schon!“, wurde er etwas ungeduldig aus seinen Gedanken gerissen.
„Ja, haben Sie neue Erkenntnisse?“, stammelte Thiel, dem partout nichts Besseres einfallen wollte. „Im Schimmrock-Fall, meine ich.“
Boerne hatte es sich mittlerweile mit einem Glas Wein in der Hand in einem Sessel neben der Couch bequem gemacht und taxierte Thiel, dem dies sichtlich unangenehm war.
„Nein, habe ich nicht. Aber hat die KTU denn schon etwas herausbekommen? Wer ist diese Frau? Und noch viel interessanter ist doch, warum hat sie die gleichen Verletzungen wie Schimmrock und wurde ebenso positioniert?“, überlegte der Professor laut und beugte sich vor.
Thiel seinerseits inspizierte die Tischplatte genauer, nahm dann das Weinglas in beide Hände und schien von der Lichtspiegelung vollkommen vereinnahmt. Er hatte eigentlich keine Lust, mit Boerne über den Fall zu reden, aber es war das einzige, was ihm so schnell eingefallen war.
„Von der KTU erfahren wir erst am Montag was. Da herrscht grade Personalmangel, deswegen kommen die nicht hinterher“, äußerte er sich schließlich und setzte mit einem Schnauben hinzu. „Und das obwohl die Klemm auch bei denen ständig Druck macht.“
„Sie wissen doch, Staatsanwältin Klemm gehört eher zu denen, die denken, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, tat Boerne seine Meinung kund.
„Vielleicht haben Sie recht.“
„Sicherlich“, entgegnete Boerne mit einem überheblichen Lächeln.
Dann verschwand das Lächeln und wich einem fast unsicheren Blick.
„Na, dann, zum Wohl“, sagte Boerne und streckte dabei sein Weinglas Thiel entgegen.
„Prost!“
Das Klirren der Gläser schien, das Ende des Themas Schimmrock einzuläuten, und Thiel fühlte sich nun endgültig zu jenem Abend vor elf Tagen zurückversetzt. Er lächelte verhalten und dieses Lächeln behielt er auch bei, als Boerne es erwiderte, auf seine ganz eigene gewinnende Art und Weise. Sie sahen sich in die Augen während beide den ersten Schluck ihres Weines genossen. Dieser fruchtig herbe Geschmack. Diese sinnliche Musik. Diese braunen Augen. Dieses charmante Lächeln ...
Erst jetzt merkte Thiel, dass Boerne ihn immer noch anlächelte. Ihm wurde heiß. War es die ganze Zeit schon so warm hier? Sollte er etwas sagen? Was war nur los mit ihm, wieso machte ihn dieser Mann immer so schwach? Er wollte nicht schwach sein. Er wollte … Er wusste es eigentlich selbst nicht, was er wollte.
In einem Anflug von Panik stellte Thiel sein Glas etwas zu grob auf den Tisch und sah Boerne ernst an. Das Lächeln auf dessen Lippen verschwand allmählich und wurde von einer gerunzelten Stirn abgelöst.
Verlegen räusperte sich Thiel und begann unsicher seine Hände zu kneten.
„Ich werde jetzt gehen“, sagte der Hauptkommissar und klang dabei so, als müsste er sich selbst gut zu sprechen, um seinen Worten auch Taten folgen zu lassen.
„Schon?“, fragte Boerne hektisch und konnte nur noch zusehen, wie sein Gegenüber aufgestanden und nun dabei war, das Zimmer zu verlassen.
Innerlich wollte Thiel gerade aufatmen und sich dazu gratulieren, diesen verfänglichen Augenblick gut umschifft zu haben, doch da stellte sich Boerne ihm gerade in den Weg. Boernes Hände landeten reflexartig auf Thiels Brust und verhinderten so ein Fortkommen des Kommissars.
„Wieso denn?“, war jedoch alles, was Boerne ihn fragte.
Thiels Blick streifte erst Boernes Hände auf seiner Brust, dann Boernes überraschten Gesichtsausdruck, dann die Eingangstür hinter Boerne und verharrte schließlich an einem undefinierten Punkt an der Wand. Er konnte ihn nicht ansehen, nicht jetzt. Er wollte gehen, aber er schwieg.
„Was war denn jetzt schon wieder?“, drängte Boerne und beobachtete sich selbst, als er die Hände von Thiels Brustkorb nahm.
„Nichts und das ist auch gut so“, raunte Thiel ihn verärgert an. War es nicht eindeutig? „Aber warum gehen Sie dann?“, fragte Boerne verdattert und versuchte Blickkontakt herzustellen.
„Damit das auch so bleibt, natürlich“, grummelte Thiel. Er wollte sich nicht erklären, er wollte nur noch gehen.
„Was soll das Thiel?“ Boernes Stimme hatte an Festigkeit gewonnen und der Frust, den der Professor zu empfinden schien, war ebenso nicht zu überhören.
Ja, das ist eine gute Frage. Wahrscheinlich sogar eine verdammt gute Frage.
Noch immer wich Thiel Boernes Blicken aus und starrte abwechselnd zur Wand und zum Boden. Eigentlich könnte er doch auch einfach so gehen, ohne etwas zu sagen. Doch er wusste, dass er das nicht tun konnte. Er würde Boerne verlieren. Er würde seinen einzigen Freund verlieren. Er musste etwas sagen.
Resignierend seufzte Thiel, sah kurz zu Boerne auf, um dann wieder zu Boden zu blicken.
„Es bringt nichts“, nuschelte er dann.
Die Mimik des Professors war nicht zu deuten und auch der Tonfall, indem er auf Thiels Aussage antwortete, war nicht einzuordnen.
„Aha, und wer entscheidet das?“ Als Thiel nicht reagierte, fuhr er aufgebracht fort. „Sie denken wohl, dass Sie alles entscheiden können, was? Ich sag Ihnen mal was. Das können Sie nicht! Erst da, da ...“ Während Boerne wild gestikulierend mit den Händen vor Thiels Gesicht fuchtelte, suchte er anscheinend nach einem passenden Wort. „Erst küssen Sie mich und dann, dann rennen Sie aus meiner Wohnung als wäre der Leibhaftige hinter Ihnen her. Reden eine Woche nicht mit mir und gehen mir aus dem Weg. Schicken ständig Ihre Assistentin vor oder irgendwelche Ausreden, nur um mir nicht begegnen zu müssen. Dann, dann …“ Wieder machte er eine Pause, um sich die Formulierung zu rechtzulegen, jedoch hatte seine Stimme und seine ganze Körpersprache nichts von der Aufgebrachtheit verloren, als er weitersprach. „Dann tauchen Sie plötzlich wieder auf und tun so, als wäre nichts aber auch gar nichts passiert. Und jetzt auch noch der heutige Abend. Was soll das Thiel? Ihr Verhalten ist … ist ...“ Hilflos brach Boerne ab und ließ seine Arme wieder sinken, die die ganze Zeit über wild in der Luft herumgeflogen waren. Kurz machte Boerne den Mund wieder auf, aber er sagte nichts, sondern atmete nur laut aus. Offensichtlich hatte er mehr gesagt und gezeigt von seinem Innenleben, als er beabsichtigt hatte. Thiel hatte Boerne während seines Gefühlsausbruches einfach nur angesehen und wusste, dass er jetzt etwas sagen musste. Nur was?
„Für dich ist alles so einfach ja?“ Fast automatisch wechselte er vom Sie zum vertrauten Du. Für Thiel war es merkwürdig von all diesen Dingen zu reden und den Professor dabei zu siezen. Zuviel ist doch zwischen ihnen geschehen.
„Du weißt wohl immer genau, was du machen sollst und was richtig und was falsch ist, was? Du kotzt mich an mit deiner Überheblichkeit und Arroganz. Es ist nun mal nicht für jeden so einfach.“ Thiel hatte sich richtiggehend in Fahrt geredet und merkte so erst viel zu spät, was er da gerade gesagt hatte.
„So, finden Sie, ja?“, bemerkte Boerne gekränkt. „Soll ich Ihnen mal was sagen? Ich mag vielleicht in den Augen vieler kleinkarierter Mitmenschen überheblich erscheinen, aber immerhin bin ich nicht so ein Feigling wie Sie. Ich stelle mich wenigstens meinen Gefühlen und renne nicht davor weg!“, wehrte sich Boerne aufgebracht, obwohl sein Zögern bei dem Wort Gefühlen doch deutlich zu hören war.
„Ich bin kein Feigling“, versuchte Thiel sich zu rechtfertigen, musste aber feststellen, dass seiner Stimme eindeutig die Bestimmtheit gefehlt hatte. War es wirklich so, war er ein Feigling?
„Bitte!“, bemerkte Boerne herablassend. „Und was hatten Sie gerade vor?“ Dabei zeigte er zur Verdeutlichung auf die Wohnungstür hinter sich und machte einen Schritt zur Seite. „Von mir aus, gehen Sie. Aber dann müssen Sie auch akzeptieren, dass Sie weglaufen.“
Thiel sah Boerne nun doch zögerlich in die Augen. Es war Boerne ernst. Wenn er jetzt gehen würde, dann wäre das eindeutig. Plötzlich fühlte sich Thiel unendlich leer. Jetzt, da er quasi aufgefordert wurde, zu gehen, konnte er regelrecht spüren, wie seine Beine schwerer wurden. Er wollte gehen, aber mit Boerne. Er wollte bleiben, aber ohne Boerne.
„Ich...“, setzte Thiel an.
„Ich mache es mir nicht einfach, Sie machen es sich die ganze Zeit viel zu einfach“, redete Boerne drauflos. „Wieso wollen Sie weglaufen? Wovor haben Sie Angst? Sie müssen mir schon sagen, was Sie … was … naja …“ Wieder begleitete Boernes Aussage eine undeutliche Geste. Irgendwie war Thiel von diesem Gespräch fasziniert, fast fühlte er sich überrumpelt. Boerne war ihm gegenüber so ehrlich und offen, dass er sich nun wirklich wie ein Feigling vorkam. Wie konnte er über Boerne von oben herab urteilen und brachte es doch selbst nicht einmal fertig, seine Sicht der Dinge in Worte zu fassen. Er war hier derjenige, der es sich zu einfach machte. Boerne hatte recht. Wieder einmal.
„Ich wollte das nicht.“
„Was?“, hakte Boerne sofort nach.
„Dich … dich naja du weißt schon. Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich …“
„Ob Sie was?“, fragte Boerne wieder, jedoch klang er dabei sehr unsicher, so als würde er die Antwort fürchten.
„Ob ich schwul bin, verdammt nochmal!“, platzte es aus Thiel heraus.
Boerne war etwas zurückgewichen und schaute ihn nun verblüfft an. Doch nach einer Weile schien er sich wieder gefasst zu haben und sagte eher zu sich selbst als an Thiel gewandt.
„Sowas in der Art hatte Alberich schon vermutet.“ Und erst nachdem ihn ein empört fragender Blick Thiels traf, musste ihm aufgefallen sein, was er da gerade gesagt hatte, denn Boerne wollte gleich zu einer Erklärung ansetzen, wurde jedoch von Thiel unterbrochen.
„Ach, jetzt diskutierst du auch schon alles mit Frau Haller, ja? Klasse!“ Und damit war er auch schon an dem verdutzten Boerne vorbei und zur Tür hinaus.