Reine Deifinitionssache? Teil 6 und 7

Aug 22, 2011 16:12

6.

Es war stockdunkel im Zimmer. Thiel lag vollkommen reglos auf seinem Bett. Er hörte nichts. Er sah nichts. Aber dennoch fühlte er sich erschreckend lebendig. Erst als ein vorbeifahrendes Auto mit seinem Scheinwerfer Thiels Zimmer erhellte, bemerkte er, dass er bisher gar nicht geschlafen, sondern mit offenen Augen zur Zimmerdecke gestarrt hatte. Mit einer unwirschen, fast schon groben Bewegung, tastete er nach der Nachttischlampe. Das Licht erhellte seine Umgebung erbarmungslos und schmerzte dadurch fürchterlich in den Augen schmerzte. Ächtzend erhob er sich aus dem Bett und rieb sich auf dem Weg ins Badezimmer das müde Gesicht. Er war müde und das nicht nur, weil er nicht geschlafen hatte. Er hatte einfach alles satt. Er konnte sich kaum noch im Spiegel ansehen. Er war fett. Er war eindeutig nicht das, was man allgemeinhin als attraktiv oder anziehend bezeichnen würde. Und doch …

Thiel lag im Dunkeln des Zimmers, das nur durch Scheinwerferlichter dann und wann erhellt wurde, auf seinem Bett und starrte der Zimmerdecke entgegen. In seinem Kopf wirbelten wieder alle Bilder durcheinander Boerne, der ihn küsst - die Kerzen - Boerne, der seine Hand ganz langsam unter Thiels Poloshirt gleiten lässt - die Weingläser auf dem Tisch - Boerne, der ihm überrascht hinterhersieht - Boerne in der Rechtsmedizin - Boerne, der sein Handgelenk festhält - Boerne, der wild gestikuliert.
Es war fast so, als ob sie eine immer wiederkehrende Abfolge hätten. Und jedes Mal war es das Lächeln, Boernes Lächeln, was Thiel aufseufzen ließ.

Er war auf sich sauer und, was noch viel schwerwiegender war, auf Boerne. Karl-Friedrich Boerne. Auf sich, weil er nicht hätte schwach werden dürfen und nicht hätte mit Boerne mitgehen sollen. Wieder und wider ging Thiel das Gespräch mit Boerne durch und wieder und wieder verfluchte er sich selbst, dass er nicht einfach gegangen war. Jetzt, ja jetzt, war die Situaiton wirklich verfahren. Wie sollte er Boerne nur begegnen und wie Frau Haller. Es ärgerte Thiel maßlos, dass Boerne mit seiner Assisstentin über sie beide gesprochen hat. Aber er konnte sich auch gut vorstellen, dass Boerne das nicht unbedingt freiwillig getan hat. So wie er Frau Haller kannte, hatte die sicher Mittel und Wege gefunden, aus ihrem Chef alle nötigen Informationen herauszubekommen, immerhin musste sie ja unter Boernes anhaltender schlechten Laune leiden. Dennoch wollte Thiel am liebsten im Boden versinken vor Scham. Was ist, wenn sie nun dachte, dass er schwul sei und ... Was denkt Boerne jetzt? Thiel musste sich eingestehen, dass er weggelaufen war. Dass er Boerne hatte einfach stehen lassen. Es war eine Kurzschlussreaktion, aber damit bestätigte er Boernes These, dass er ein Feigling sei. Sein ganzen Verhalten am heutigen Abend ärgerte Thiel maßlos und er schämte sich dafür.

Viertel nach zwei. In drei Stunden würde es hell werden. Thiel starrte seinen St. Pauli-Wecker an, als könnte er ihm sagen, was er tun solle.
Am liebsten wäre Thiel einfach abgehauen aus Münster. Für drei oder vier Wochen einfach mal abschalten und unter keinen Umständen Boerne sehen. Er wollte, dass dieses Gefühlschaos endlich aufhörte. Er wollte, nein, er brauchte Abstand von Boerne, aber auch von allem anderen in Münster. Doch er wusste, dass das nicht ging und schon gar nicht jetzt, wo er einen so kniffligen Fall auf dem Tisch hatte. Seufzend drehte er sich zur anderen Seite.
Er wusste außerdem auch, dass es nichts bringen würde, wegzulaufen, denn es war nicht nur das ständige Sehen. Nein, es war mehr. Es war in ihm drin, dieses Gefühl. Boerne hatte ihn vollkommen eingenommen.
Boerne. Warum ausgerechnet Boerne. Dieser aufgeblasene Schnösel. Mit seinem immer gutsitzenden Zweiteiler. Mit seinem abgehobenen Geschmack und eitlem Gehabe. Mit seiner Arroganz, als wäre er der klügste, beste und tollste Hecht im Becken. Mit seinem Charme. Mit seinem Witz. Mit diesem Lächeln.
Fast schon genießerisch lächelnd schloss Thiel seine Augen. Er dachte an ihre erste Begegnung und Boerne mit offenem Hemd. Er dachte an ihre gemeinsamen Kochabende, daran, dass Boerne ihm lange in die Augen gesehen hatte. Er dachte an die Dusche mit Boerne im Haus seines Vaters. Sie beide nackt. Und während er an all diese vergangenen Momente dachte, und sie sich immer wieder ins Gedächtnis rief, wanderte seine Hand zum Bund seiner Unterhose. So war es immer.
Während Thiel sich an seinen Erinnerungen aufgeilte, stellte er sich vor, dass die Hand nicht ihm, sondern Boerne gehöre.

Im Nachhinein schämte er sich auch dafür. Wie konnte er sich einerseits selbstbefriedigen und dabei an Boerne denken und andererseits völlig überfordert und panisch reagieren, wenn er dann die eigentlich erträumte Aufmerksamkeit und Zuwendung von Boerne bekam? Genervt hievte sich Thiel wieder auf die andere Seite des Bettes und starrte den Wecker an. Viertel vor drei. Er musste endlich schlafen und zur Ruhe kommen, aber immer wieder drehten sich seine Gedanken und er wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Er wollte Boerne. Er wollte ihn berühren. Er wollte bei ihm sein, ganz unkompliziert. Er wollte, dass Boerne ihm seine Aufmerksamkeit schenkte. Er wollte aber auch ganz normal sein. Er wollte nicht die Blicke der anderen sehen, wenn sie erfahren würden, dass er und Boerne. Er wollte nicht die Kommentare hören. Er wollte nicht alles riskieren. Und er wollte nicht, dass er nur ausgenutzt wurde ... von Boerne. Thiel wusste nicht, was Boerne eigentlich von ihm wollte. Vielleicht war er nur eine Art Experiment oder so etwas. Vielleicht wusste Boerne ja auch nicht, was er wollte und dann, dann würde er, Thiel, sich sicher nicht aus der Deckung wagen, nur um enttäuscht zu werden. Aber wenn er ehrlich war, dann wusste Thiel, dass es Boerne nicht darum ging, mit ihm zu spielen oder ihn vorzuführen. Das Gespräch und auch die Unsicherheit von Boerne hatten ihm deutlich gemacht, dass diese ganze Sache auch Boerne nicht kalt ließ.7.

Das Wochenende zog sich hin wie ein besonders zäher Kaugummi. Thiel schaute Sportschau, verfiel immer wieder in Grübeleien und machte keinen Schritt aus der Haustür. Er war dankbar, dass sein Wecker ihn am Montagmorgen wieder zum frühen Aufstehen aufforderte und so seinen Wochenendblues beendete. Er freute sich regelrecht auf die Arbeit und darauf, ins Büro gehen zu können.

"Moin, Nadeshda, gibt's was Neues von der KTU?", begrüßte Thiel seine Assistentin voller Elan. Er fühlte sich gut. Im Hausflur war er Boerne über den Weg gelaufen und dieser hatte vollkommen normal reagiert, anders als Thiel es nach Freitagabend erwartet hätte. Boerne hatte ihn beiläufig nach seinen Wochenendaktivitäten gefragt, nur um dann selber die ganze Zeit davon faseln zu können, dass er mal wieder der Beste auf dem Golfplatz war. Der Professor hatte ihm auch angeboten, ihn im Auto mitzunehmen, doch Thiel brauchte Bewegung und lehnte ab, aber sagte dann für eine Verabredung zum Mittagessen in der Kantine zu. Alles schien so normal, so selbstverständlich. Vielleicht hatte Thiel sich getäuscht und es war nun alles gesagt, er hatte seine Ängste ausgesprochen und vielleicht dadurch ein Umdenken beim Professor bewirkt. Allerdings traute er dem Frieden nicht. Boerne schien fast zu normal und das erweckte dann doch das Misstrauen des Kommissars.
Nadeshda schaute bei Thiels Begrüßung von ihren Unterlagen auf und lächelte ihm verhalten entgegen.
"Morgen. Der Bericht liegt auf Ihrem Schreibtisch", kam die Antwort von Nadeshda, die nebenbei zu telefonieren versuchte.

Beim Mittagessen berichtete Thiel dann ausführlich, was die KTU ergeben hatte und welche Schlüsse er daraus zog. Der Kommissar hatte es schon längst aufgegeben, Boerne klarzumachen, dass Thiel der Ermittler und Boerne der Leichenschnippler war und er ihn eigentlich nicht über alle Fortschritte oder Ergebnisse in einem Fall informieren musste. Aber nach all den Jahren, in denen er das versuchte, hatte er immer wieder das Gefühl, gegen eine Wand anzureden. Boerne war stur, dachte Thiel, es passte also nicht zu ihm, dass er kleinbei gegeben hatte und diese ganze Sache mit dem Kuss wie vergessen schien.
„Andrea Müller? Wurde sie als vermisst gemeldet oder wie kamen Sie auf sie?“, fragte Boerne, der gerade seinen Salat in mundgerechte Stücke zerpflückte.
„Ja, Müller ist schon ein Allerweltsname, aber vermisst wurde sie nicht. Ihre Fingerabdrücke waren registriert. Frau Müller hatte nämlich noch einen weiteren Namen, der wesentlich auiffälliger war.“ Effekthaschend machte Thiel eine Pause, um dann fortzufahren: „Mademoiselle Eva, zumindest war das vor fünf Jahren noch ihr Künstlername, wie sie es damals den Kollegen gegenüber angab.“
„Künstlername?“, wiederholte Boerne und seine Augenbrauen hoben sich dabei in die Höhe. „Soso, und welchem Kunstgewerbe ist sie nachgegangen?“ Boernes Stimme war deutlich die Ironie anzuhören, dennoch fühlte sich Thiel genötigt ihm zu antworten.
„Sie wurde damals in Dortmund festgenommen, weil sie bei einer Razzia in einem Bordell keinen gültigen Gewerbeschein hatte.“
„Ist denn bekannt, was sie während der vergangenen fünf Jahre gemacht hat? Irgendwie passt das nicht zusammen. Es klingt alles nach einem typischen Skandalmord: ehrenwerter Bürger und die Prostituierte“, sinnierte Boerne und schaute dabei fragend zu Thiel.
„Nein, den Kollegen in Dortmund ist nichts darüber bekannt und vor einem Jahr zog sie dann nach Münster. Aber ich versteh schon. Wie passt das zusammen? Warum wurden beide auf die gleiche Art und Weise umgebracht und platziert? Es hat etwas von Zur-Schau-Stellen oder Aufmerksam-Machen.“ Thiel seufzte. Er wusste es nicht. Er konnte sich keinen Reim auf die Zusammenhänge machen und einen möglichen Tatverdächtigen hatte er schon gar nicht vorzuweisen. Er war frustriert.
„Meinen Sie, wir haben es vielleicht mit jemandem zu tun, der es auf Prostituierte und deren Freier abgesehen hat?“ Die Frage des Professors war eher zögerlich gekommen und er vermied auch jeglichen Blickkontakt.
Schulterzuckend wandte sich Thiel nun auch wieder seinem Essen zu und verfiel gemeinsam mit Boerne in Schweigen. Ihm war nicht nach Reden. Nicht über den Fall und nicht über all die anderen Gedanken, die sich in einem fort an die Oberfläche kämpften und ihn dadurch noch mehr aufwühlten. Unbewusst schüttelte Thiel den Kopf und erntete einen fragenden Blick Boernes.
„Was ist los, Thiel?“ Boernes Stimme fehlte jedwede Ironie, sie klang einfach nur ehrlich.
„Nichts“, antwortete dieser schnell. Er wollte nicht wieder eine Disklussion über sein Seelenleben anfangen und schon gar nicht hier in aller Öffentlichkeit.

Die Nachmittagsstunden verbrachte Thiel gemeinsam mit Nadeshda in der Wohnung des zweiten Opfers, Andrea Müller. Er wusste nicht, wonach sie genau suchten, aber ihm klar, dass es irgendeine Gemeinsamkeit oder Verbindung zwischen dem gutbürgerlich ehrenwerten und vor allem unbescholtenen Schimmrock und der Prostituierten oder auch ehemaligen Prostituierten Andrea Müller geben musste. Nicht umsonst wollte der Täter die Opfer durch den Tathergang und die sichergestellten Haare verbunden wissen. Nur warum, das war das Rätsel. Und Thiel war sich sicher, dass er zuerst das Warum klären musste, um sich dem Wer zu nähern.
„Chef? Ich glaub, ich hab da was?“, hörte Thiel Nadeshda aus dem Schlafzimmer rufen.
„So, was denn?“, fragte er, als er das Zimmer betrat. Nadeshda hielt ihm eine Schachtel entgegen. Irritiert nahm Thiel sie an sich. Es war eine gewöhnliche kleine Sperrholzschachtel, die braun gestrichen und mit einem Schloss versehen war. Thiel schüttelte das Kästchen, um seinen Inhalt zu erahnen, aber es raschelte nur und ließ aufgrund des geringen Gewichtes papierenen Inhalt vermuten. Er schaute zu Nadeshda, die ihn fragend gemustert hatte, während er mit dem Kästchen beschäftigt war.
„Und einen Schlüssel gabs nicht?“ Nadeshda schüttelte zur Antwort nur den Kopf.
Ein braunes Sperrholzkästchen mit Schloss. Mehr war da nicht. Als Nadeshda und Thiel die Wohnung von Frau Müller nach drei Stunden Hausdurchsuchung verlassen hatten und nur mit dem Kästchen zurück ins Präsidium gekommen waren, verzog der Hauptkommissar sich sofort in sein Büro und schloss die Tür. Nun saß er schon eine Viertelstunde vor dem Kästchen und grübelte.
Es klopfte. Und mit dem Klopfen trat auch gleich der Verurusacher hinein, es war Boerne - wer sonst.
„Wie ich höre, ergab die Haussuchung nicht sonderlich viel Neues. Nur ein Kästchen?“ Nachdem Boerne die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er zielstrebig auf den Schreibtisch zu, auf dem das besagte Kästchen stand.
„Mmh...“, brummte Thiel nur. Er hatte seinen Kopf auf seinen Händen abgestützt und hatte eigentlich nicht allzu große Lust erneut mit Boerne über den Fall zu reden, denn immerhin gab es seit dem Mittagessen nicht viel Neues zu berichten. Er mochte es nicht, wenn er bei einem Fall auf der Stelle trat und einfach nicht vorankam.
„Aha, ich merk schon, Sie sind also mit dem Kästchen auch nicht wirklich zufrieden. Was ist denn drin? Nur alte Rechnungen?“, fragte Boerne und beugte sich neugierig über den konfiszierten Gegenstand.
„Nee“, antwortete Thiel einsilbig.
„Nun lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen, das ist sehr anstrengend. Zeigen Sie doch mal her!“
Boerne nahm die Schachtel vom Schreibtisch und inspizierte sie genauso, wie Thiel es in der Wohnung getan hatte. Allerdings siegte rasch die Neugier über Boerne und er öffnete kurzerhand das Kästchen. „Haare?“, stellte er verwundert fest.
„Mmh... und eine alte Fotografie“, ergänzte Thiel etwas gelangweilt. Er versuchte nicht einmal, zu verbergen, dass er mit der Ausbeute der Hausdurchsuchung nicht zufrieden war. Boerne nahm nun auch das Foto aus der Schachtel und betrachtete es aufmerksam. Eine Schwarzweißaufnahme zeigte einen jungen Mann mit zerzausten Haaren, der einen Helm haltend auf einem Moped saß. Er wendete die Fotografie und las das Geschriebene auf der Rückseite laut vor: „Ja, so wie früher.“ Dann wandte er seinen Blick wieder zu Thiel. „Könnte das Schimmrock sein, in jungen Jahren?“, fragte er. Thiel zuckte zur Antwort allerdings nur mit den Schultern. Er hatte sich selbst sämtliche Fragen diesbezüglich gestellt und war nun ob der fehlenden Antworten mürrisch und verstimmt.
„Die Haare jedenfalls, lieber Thiel, werde ich in meinem Labor unverzüglich untersuchen und dann werden wir auch wissen, wessen Haare es sind oder vielmehr waren. Aber lassen Sie mich eine Vermutung äußern“, er machte eine Kunstpause und fuhr dann fort. „Es würde mich sehr wundern, wenn es nicht Schimmrocks Haare sind.“ Und dann lächelte er Thiel siegessicher an.

fanfiction thiel/boerne

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