Luna lehnte an der kalten, steinernen Wand. Ihre langen, blonden, schmutzigen Haare hingen ihr ins Gesicht. Ihr war kalt. Sie trug noch immer dieselbe Kleidung wie an dem Tag, an dem die Weihnachtsferien begonnen hatten. Damals - es war kaum eine Woche her, aber für sie war es wie ein Ereignis aus einem anderen Leben - war sie fröhlich gewesen. Sie war in den Hogwartsexpress gestiegen und hatte sich auf zuhause gefreut, auf das geschmückte Haus, die Kerzen, den Baum. Auf ihren Vater, der so froh war, dass sie endlich nach hause kommen würde. Sie selbst war auch froh gewesen nach hause gehen zu können, so froh wie nie zuvor, denn Hogwarts war nicht mehr Hogwarts, seit Dumbledore tot und Todesser im Schloss waren. Allein die Aussichten, für einige Zeit Snape und die Carrows nicht sehen zu müssen, waren verlockend gewesen. Alles hätte so schön werden können, aber es war anders gekommen. Es war ganz plötzlich gewesen, noch bevor der Zug abgefahren war, waren auf einmal Todesser im Zug gewesen, vermummte Todesser und sie hatten nach Luna gesucht. Und sie auch gefunden. Ihre Freunde hatten versucht sie zu beschützen. Endlich hatte sie Freunde, da war jemand auf dieser Welt, der nicht einfach zusah, wie sie von Todessern entführt wurde. Luna hoffte, dass keiner von ihnen verletzt worden war, weil er ihr geholfen hatte. Hoffentlich war Neville nichts passiert, dem guten, mutigen Neville, der sich den Todessern in den Weg gestellt hatte und von ihnen niedergeschlagen worden war. Die Todesser hatten Luna betäubt und sie war erst hier wieder aufgewacht, hier in der Zelle. Ollivander hatte sich über sie gebeugt, mit einem besorgten Gesicht. „Luna Lovegood", hatte er gesagt. „Weidenholz, Kern aus Drachenherzfaser." Er hatte ihr etwas zu trinken gegeben, trübes Wasser, dass komisch schmeckte. Er hatte gesagt, er freue sich dass sie aufgewacht war, er hatte sich schon Sorgen gemacht. Sorgen, dass die Todesser eine Leiche in seine Zelle geworfen hätten. Sie sprach oft mit Ollivander. Der Zauberstabmacher war froh, endlich jemanden zum reden zu haben, nach all den Monaten, die er allein von sich hin vegetiert hatte. Auch Luna war froh, mit jemandem sprechen zu können. Stimmen vertrieben die bedrückende Stille in ihrem Gefängnis. Jeden Tag wurde ihnen Essen gebracht, meist von einem Todesser, der nie mit ihnen sprach und dessen Namen sie nicht kannten. Manchmal kam Narzissa Malfoy zu ihnen, und an diesen Tagen bekamen sie immer mehr Essen. Ollivander erzählte, früher, als er noch allein gewesen war, hatten Narzissa und der namenlose Todesser immer die selbe Menge Essen gebracht. Das Narzissa jetzt Mitleid zeigte, lag wohl an Luna. Vielleicht dachte die kühle, blonde Frau daran, dass Luna ihre eigene Tochter sein könnte, vom Alter her. Es war eine Sache, einen fremden, alten Mann im Keller eingesperrt zu haben. Es war eine andere Sache, wenn die Person im Keller jung war, ein Mädchen, und wenn sie auf die selbe Schule ging wie Narzissas Sohn. Heute war alles ein bisschen anders. Ollivander hatte eine Art Kalender, eine Strichliste an der Kellerwand. Er wollte immer wissen, welcher Tag war. Die Liste hatte er immer weiter geführt, seit dem Tag an dem er entführt worden war. Und laut dieser Liste war heute Weihnachten. Luna saß also auf dem kalten Boden und sang leise ‘Jingle Bells’ vor sich hin.
„Jingle Bells, Jingle Bells, Jingle all the way..."
Jemand schob einen Schlüssel ins Schloss. Ein Klicken war zu hören. Luna hörte auf zu singen und sah zur Tür. Eine Gestalt mit blonden Haaren, so viel konnte sie erkennen. Narzissa brachte ihnen das Essen, das war ein gutes Zeichen.
„Luna? Ollivander?" Das war nicht Narzissas Stimme, dachte Luna. Aber es war eine Stimme, die sie kannte.
„Draco?", fragte sie. „Draco Malfoy?"
„Ja." Draco kam auf sie zu und stellte etwas vor Lunas Füßen ab.
„Heute ist Weihnachten.", sagte er, etwas unbeholfen.
„Heute ist Weihnachten.", sagte Luna.
„Ich habe ein Stück Fleisch aus der Küche geholt. Zur Feier des Tages. Fleisch mit Soße und Kartoffeln." Luna merkte erst jetzt, wie hungrig sie war. Ollivander horchte auf, es war lange her, dass er Fleisch gegessen hatte. Meistens bekamen sie nur Suppe, oder Nudeln, oder kalte Kartoffeln.
„Danke.", sagte Luna. Sie erwartete, dass Draco gehen würde, doch das tat er nicht. Sie hob den Teller vom Boden auf und sah sich das Essen an. Es war viel Fleisch, mit leckerer Soße und dazu drei Kartoffeln. Es würde sowohl Ollivander als auch sie satt machen. „Danke.", sagte sie noch einmal. Draco stand unbeweglich da.
„Ich habe sie gebeten, dich gehen zu lassen.", platzte es aus ihm heraus. „Niemand sollte an Weihnachten hier eingesperrt sein." „Niemand sollte zu irgendeiner Zeit hier eingesperrt sein.", sagte Luna. Draco nickte. „Sie lassen dich aber nicht gehen.", sagte er.
„Wenn ich gehen müsste, wäre Ollivander wieder allein.", sagte Luna. Draco nickte noch einmal. „Ich muss gehen, gleich gibt es oben Essen.", sagt er. Er streckte seine Hand aus.
„Hier.", sagte er. „Besteck. Für das Fleisch." Luna nahm zwei Paar Besteck entgegen. Sie wusste, Draco brach gerade eine Regel. Man durfte den Gefangenen nichts geben, was sich als Waffe verwenden ließ. „Danke, Draco.", sagte sie. „Das ist sehr nett von dir. Frohe Weihnachten." Draco ging langsam aus der Zelle. Als er an der Tür angekommen war, drehte er sich noch einmal um. „Frohe Weihnachten.", sagte er.