Mitternachtsbahn

Jul 06, 2012 09:19

Kleine, spontan entstandene Kurzgeschichte für eine Halloween- Storysammlung ;-) ziemlich harmlos


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Ein U- Bahnhof nachts nach zwölf. Das künstliche Licht und die Belebtheit der Großstadt tauchen alles in Zeitlosigkeit. Jedes der schnaufenden Metallungetüme kündigt sich an mit einem tiefen Einatmen des Tunnels. Dann der rumpelnden Einfahrt. Zischend öffnet sich der Zugang zum feuchtwarmen Innern. Menschen strömen ein, klettern in den Magen der Bestie, mit schwerem Ächzen und Pusten kommt sie wieder in Schwung und verschwindet auf Nimmerwiedersehen in der Dunkelheit.

Auf einem der metallgeflochtenen Stühle in der Nähe des Eingangs- dem äußersten einer Reihe- sitzt eine kleine, junge Frau. Zusammengesunken, weiche Gesichtszüge, sie blättert mit zierlichen Fingern in einer Zeitschrift. Die hellen Augen huschen über die Seiten. Ganz allein sitzt sie da. Sie ignoriert die Menschen, wie sie selbst ignoriert wird. Ein verlorener, friedlicher Anblick.
Nur die Atmosphäre um sie herum wirkt leicht angespannt. Die meisten Nachtwanderer folgen ihren Instinkten und halten sich fern davon. Aber Alkohol betäubt die Sinne. Und schon bald passiert etwas Unvermeidliches: Eine Gruppe junger Männer aus Osteuropa die zu laut, zu selbstbewusst in den Untergrundbahnhof taumeln wie junge Wölfe, steuern auf die freien Plätze der Reihe zu. Sie sind zu dritt.
Drei kräftige, ausgewachsene Menschen auf dem schmalen Grat zwischen Junge und Mann. Ein gefährliches Alter. Es zieht sie hin zu der Leserin. Die Blase der Ignoranz wird durchdrungen. Sie lehnen sich näher, kreisen sie ein, werfen hungrige Blicke. Eine Weile zögern sie noch, saugen Sicherheit, stärken sich an der Präsenz der jeweils anderen.
Sie tut so als hätte sie nichts bemerkt, ignoriert das zaghafte Lehnen in ihren Privatabstand, blättert in tiefer Versunkenheit die nächste Seite um. Die jungen Wölfe reden laut und scherzend in fremder Sprache. Es vergehen Minuten bis einer sie anspricht.

„Gefällt dir?“, fragt der nächste Nebensitzer schließlich mit schwerem Akzent und ruckt grinsend den Kopf in Richtung Zeitschrift. Zuerst reagiert sie nicht, als hätte er jemand anderen meinen können. Erst als er sich noch näher lehnt und die Frage wiederholt, blickt sie auf. Ihre hellen Augen schauen ihn an. Und endlich spricht sie dann auch, mit weicher, freundlicher Stimme, ganz ahnungslos: „Was meinen sie?“
Der Nebensitzer beugt sich noch einmal nah, wirft einen Blick auf die aufgeschlagene Seite die sie bisher vor neugierigen Blicken verborgen hat.

Auf der Seite ist viel Text und ein Bild von einem menschenähnlichen Wesen, das blutverschmiert über einem Mann kauert, der am Rücken liegt. Der Nebensitzer ändert spontan seine Taktik, auch wenn die fremde Sprache ihm Mühe macht.
„Ist bestimmt wirklich passiert?“
Sie krümmt eine Augenbraue. „Wie bitte?“
„Ist bestimmt wirklich passiert so, nein?“
Plötzlich ist sie doch aufmerksam, lehnt sich über den Nebensitzer zum zweiten der jungen Männer der seinem Freund ausgeholfen hat, lächelt. Sie weichen ein bisschen zurück.

„Das ist eine Filmzeitschrift“, sagt sie leise, „Nur Fantasie, verstehen sie?“
„Ach so!“, sie lachen laut, „Film! Nur ein Film!“ „Sprichst du... Slowenski?“

Der junge Mann auf dem Bild in der Zeitschrift trägt einen Feuerwehr- Overall. Das Wesen das über ihm kauert sieht aus wie eine junge Frau.

„Nein.“, sie lächelt und schüttelt den Kopf.
„Polnisch? Sonst etwas?“ Alle drei Männer drängen sich nahe über sie.
„Russisch“, sagt sie leise, „Ein paar Worte.“

Aus irgendeinem Grund versetzt sie das in Aufregung. Sie stöhnen auf, werfen sich Blicke zu, winden sich vor der Nachricht. Ihr Grinsen wirkt angespannt.
Sie schließt die Zeitung so als würde sie weiterhin nichts bemerken und ein paar Momente lang ist sie vollkommen beschäftigt damit, sie sorgfältig in ihre Tasche zu packen.
„Der Zug! Unser Zug ist da!“
Die jungen Wölfe brechen auf, laut und plötzlich wie sie gekommen sind. Sie lächeln und winken zum Abschied. „Tschüß!“ "Auf Wiedersehen!" Sie verabschiedet die drei Jungen höflich.
Sieht ihnen einen Moment lang mit neu erwachter Aufmerksamkeit nach, beobachtet wie sie davon traben. Drei ausgewachsene, kräftige Menschen. Zischend öffnet das mechanische Biest aus dem Tunnel den Zugang. Sie klettern in seinen Schlund.

Das Wesen, das aussieht wie eine junge Frau, erhebt sich langsam. Es wittert. Die Nasenflügel beben. Es richtet den Rücken auf. Die hellen Augen sind auf ein neues Ziel fixiert. Ein leises Lächeln hebt die Maske des Gesichts an den Mundwinkeln. Es betritt den Zug kurz bevor die Türen sich schließen und Alles, was im Innern der Wägen noch lebt, auf Nimmerwiedersehen in der Dunkelheit verschwindet.

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original fiction

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