Title: Dieses neue Leben
Author: spilled_coffee
Rating/Warning: PG13/ gen
Disclaimer: No copyright infringement intended. No money is made out of this, I just take the boys out to play. Not sure I'm turning them back unharmed, though
Summary. Nach einem Unfall bleibt Sam und Dean nichts anderes übrig, als sich in einem neuen Leben einzurichten. Ich weiß, das gibt es schon, aber ich wollte es auch einmal versuchen.
There's also an English version of this fic. You can find it
here.
Dieses neue Leben
„Dean!!!... Dean!!!“
Er fährt hoch aus dem Albtraum, der keiner ist. Er hört Sams Stimme, wieder und wieder. Sieht in sein Gesicht, sieht die Angst, den Schmerz.
Er steht auf, geht unter die Dusche. Als das Wasser auf ihn herabprasselt, schließt er die Augen. Versucht sich vorzustellen, wie es sein muss. Gestern haben es ihm die Ärzte gesagt. Haben ihn zur Seite genommen als er gehen wollte und ihm gesagt, dass Sam nie wieder sehen wird. Er hat es nicht glauben wollen. Nicht glauben können. Zuerst waren sie alle so optimistisch gewesen, hatten von Schock gesprochen, kaum von den so seltsam verfärbten Augen, für die der Dämon verantwortlich ist. Dean ist sich dessen sicher. Dann Tage des Schweigens und gestern...
Ihm wird schwindelig. Er öffnet die Augen und denkt, dass Sam das nie wieder tun kann. Dass es nichts mehr ändern wird. Es schnürt ihm die Luft ab und er muss sich übergeben. Er würgt nur bittere Galle hoch, denn er hat nichts gegessen, nicht, seit der Arzt mit ihm gesprochen hat.
Gleich wird er ins Krankenhaus fahren, wird Sam sehen und... und dann? Was dann?
Sam wird nicht mehr mit ihm auf die Jagd gehen und er kann nicht mehr zurück nach Stanford. Er kann sich nicht niederlassen und auch nicht weiterziehen.
Das Wasser regnet weiter auf ihn hinab, als Dean zusammen sinkt und sich auf den Boden kauert. Salzige Tränen vermischen sich mit dem kalt werdenden Duschwasser und verschwinden im Abfluss.
++++
Sam ist nicht allein, jemand sitzt an seinem Bett und spricht mit ihm. Kein lieber Freund oder Verwandter. Nur jemand vom Krankenhaus.
Dean will nicht stören, will wieder gehen, aber Sam ruft seinen Namen. „Dean?“
Also geht er hinein, nickt dem Besucher zu und berührt sanft Sams Schulter. „Ich bin hier.“
„Denken Sie darüber nach, Sam“, sagt der Besucher, ehe er aufsteht und geht.
Sam ist ruhig, zu ruhig. Dean schweigt, traut sich nicht zu fragen. Schließt die Augen und spürt wie es ihm wieder die Luft abschnürt. Er atmet tief, möchte schreien, aber er kann nicht. Wenn er jetzt spricht, wird seine Stimme brechen und er darf nicht brechen. Nicht jetzt. Nicht hier vor Sam.
Er spürt Sams Hand auf seiner Hand. Seine Hand, die immer noch Sams Schulter berührt.
„Es ist okay, Dean.“
Er will Sam in die Augen sehen, will sehen, dass alles okay ist, aber seine Augen bleiben hinter der Bandage verborgen und Dean weiß, dass es nicht okay ist. Nichts ist mehr okay. Er bleibt an Sams Bett sitzen, Stunde um Stunde. Die Schwestern kommen und gehen, aber Dean bleibt. Unbeweglich und schweigend. Sam versucht ein paar Mal, mit ihm zu sprechen, aber Dean hat keine Worte, nur seine Hand. Die Hand auf seinem Bruder, die alles verspricht, was er geben kann.
„Sammy...“, flüstert er schließlich, als es im Zimmer fast so dunkel ist, wie hinter seinen Lidern.
„Es ist okay, Dean“, wiederholt Sam, was er vor so vielen Stunden schon gesagt hat.
Dean steht auf, die Muskeln steif. Er geht zum Fenster, starrt in die Nacht. Es ist nicht okay und er weiß, dass Sam es weiß. Aber er weiß nicht, wie er es ändern soll. Er weiß nicht...
„Können wir darüber reden?“, fragt Sam.
Dean nickt, bis er es merkt.
„Okay“, sagt er.
„Der Mann der hier war, als du gekommen bist... er hat mir geraten Reha zu machen, du weißt schon, Orientierung lernen... diese Dinge.“
„Und?“, fragt Dean. „Willst du...“ Seine Stimme droht wieder zu brechen, also sagt er nichts mehr.
Sam ist immer noch zu ruhig. „Ich will nicht mehr im Krankenhaus bleiben, wenn es nichts bringt. Und ich will dir nicht zur Last fallen, ich will...“
Dean ist sofort wieder an Sams Bett, wieder auf dem Stuhl. „Nein“, sagt er bestimmt und dieses Mal muss seine Stimme einfach halten. „Wenn du nicht willst, dann gehst du da nicht hin. Du bist mein Bruder, du wirst mir niemals zu Last fallen. Niemals. Wir werden einen Weg finden.“
„Aber was dann, Dean? Was dann?“
Dean lässt seinen Kopf sinken, seine Stirn auf der Bettkante. „Ich weiß es nicht“, murmelt er leise. Müde fallen ihm die Augen zu, aber er reißt sie wieder auf. Eine Träne entkommt, verschwindet im Bettlaken. Er hofft, dass Sam es nicht bemerkt, beißt die Zähne zusammen. Dann Sams Hand in seinen Haaren, suchend, tastend.
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Im Auto bleibt nur die Erinnerung an Sams schweigenden Trost und die Hoffnungslosigkeit. Er ruft Ellen an und Bobby, spricht mit Ash und Jo.
Zwei Tage später verlassen sie das Krankenhaus. Wieder Sams Hand, doch dieses Mal nicht sanft in seinen Haaren, sondern fest um seinen Arm. Dean spürt wie sein Bruder strauchelt, wie er stolpert, doch er hält ihn, gibt leise Kommandos. Vor dem Impala lässt er ihn stehen, wirft die Taschen in den Kofferraum. Sam ist eingestiegen, sitzt auf dem Beifahrersitz und lächelt.
Dean fährt sie von Motel zu Motel, Sam auf dem Beifahrersitz, fast wie immer.
Sie bewaren sich die Fassade über Wochen. Alles prima. Dean sagt es sich jeden Abend, wenn er ins Bett sinkt. Aber es ist eben nicht prima, nicht wie immer. Sam macht nicht den Großteil der Recherche und so jagt Dean schlecht vorbereitet. Sam ist auch nicht da, um genau im richtigen Moment aufzutauchen und ihn zu retten und ein paar Mal geht es fast schief. Dean versucht sich an die Zeit zu erinnern, in der er alleine jagen gegangen ist. Ohne seinen Vater und ohne Sam. Aber es gelingt ihm nicht. Zu lange hat er sich hundertprozentig auf Sam verlassen. Dean weiß, dass es so nicht weitergeht, und er weiß auch, dass Sam es weiß. Sam kennt nur noch Motelzimmer. Eines wie das andere und doch so verschieden, dass die blauen Flecke von den Tischen und Betten an seinen Beinen kaum abklingen. Sam hat wenig Zeit sich das Zimmer einzuprägen, ehe sie weiter müssen.
Wieder telefoniert Dean, dieses Mal wirklich auf der Suche nach einer Lösung. Ellen bietet ihm an, dass Sam bei ihr wohnen kann, aber Dean will ihn nicht alleine lassen, will nicht, dass jemand anders für ihn sorgt, und lehnt ab.
Jo schlägt vor mitzukommen und Sam zu helfen, aber Dean weiß, dass sie nur mit ihm jagen will und lehnt ab.
Bobby bietet Hilfe an, aber Dean weiß, dass weder der Schrottplatz noch Bobbys Haus für Sam funktionieren werden. Sam braucht Ordnung, braucht Konstanz.
Ash sagt ihm, dass er aufhören soll, Sam wie ein Hündchen mitzuschleppen, nur damit es ihm abends die Pantoffeln bringt. Er sagt ihm, dass Sam erst einmal lernen muss, alleine klar zu kommen, ehe sie daran denken können, wieder zusammen durchs Land zu ziehen. Dean weiß, dass er Recht hat, also googelt er an diesem Abend keine übernatürlichen Phänomene sondern Blindenschulen. Auch am nächsten und übernächsten Abend. Als Sam fragt, warum er nicht mehr jagen geht, sucht er eine Ausrede, aber Sam schüttelt den Kopf. „Die Wahrheit, Dean.“
Also sagt Dean ihm die Wahrheit. Sagt ihm, wie er Sam dahinvegetieren sieht und dass er dafür nicht verantwortlich sein will. Dass er einen Termin bei einer Schule gemacht hat und sie jetzt dorthin fahren. Er sagt ihm nicht, dass er gerade heute früh wieder unter der Dusche gekotzt hat, weil er sich so schuldig fühlt. Er sagt ihm auch nicht, dass er keine Ahnung hat, was er machen soll, wenn Sam tatsächlich auf die Schule geht. Aber Sam nickt, also fahren sie weiter.
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Sam bleibt direkt nach dem Gespräch mit der Rektorin in der Schule und Dean fühlt sich einsam wie lange nicht in seinem Motelzimmer. Er will jagen gehen, um sich abzulenken, aber er will Sam nicht alleine lassen. Er will sich für all das interessieren, was jetzt jeden Tag in Sams Leben passiert, aber er hat nicht den Mut zu fragen, hat Angst, dass ihn Furcht und Schuld wieder übermannen.
Es ist schließlich die Rektorin, die ihm eine Aufgabe gibt. Sie bittet ihn zum Gespräch und sagt ihm, dass Sam schnell lernt, aber dass er nie ganz ohne Hilfe auskommen wird. Freunde, Nachbarn, Verwandte, jemand sollte erreichbar sein. Dean will aufspringen, will erklären, dass er immer erreichbar ist, aber sie lacht und sagt, dass Sam ein Zuhause braucht, in dem er sich auskennt. Sie weiß von dem Roadtrip und sie weiß von dem Widerwillen, sich niederzulassen, aber sie sagt es Dean ins Gesicht. Er muss. Er muss ein festes Zuhause finden. Und zwar schnell. Sam wird bald nach Hause kommen wollen.
Dean ist erstaunt und fühlt sich überfordert. Er hat nicht mitbekommen, wie schnell Sam gelernt hat, denn er hat nie gefragt. Er hat nicht gewusst, was Sam braucht und ist von mehr Schuldgefühlen geplagt.
„Sprechen Sie mit Sam“, sagt die Rektorin, als sie ihn hinausbegleitet.
Also spricht Dean. Er holt Sam nach dem Unterricht ab und fragt zum ersten Mal. Sam erzählt, belanglos, fast unbeteiligt. Aber Dean staunt über die Fortschritte und schließlich hört er den Stolz in Sams Stimme. Dean erzählt von dem Gespräch und sagt, dass er ein Zuhause suchen wird. Ein Haus oder eine Wohnung, zentral gelegen, so dass man kein Auto fahren muss, ruhig, um Nebengeräusche zu vermeiden, und günstig, damit sie es bezahlen können. Sam sagt nichts, wendet den Kopf ab, Gesicht nach unten, die Augen geschlossen. Dean aber will jetzt nicht auf seinen Bruder hören, will ihn nicht fragen, will sein schlechtes Gewissen nicht auf sich laden und schlägt stattdessen Städte vor, in denen sie leben können.
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Am nächsten Tag ist Dean im Impala unterwegs, allein. Stunde um Stunde auf den Highways, bis er schließlich nach Häusern und Wohnungen sucht, die ihm richtig erscheinen und, immer wenn ihm ein Haus gefällt, auch gleich nach einem Job. Wenn sie sesshaft werden, müssen sie mit den Kreditkartenbetrügereien aufhören. Brauchen einen Job wie alle Jäger, die sesshaft geworden sind. Wie Bobby seinen Schrottplatz und Ellen die Bar.
Knapp zwei Wochen später ist er wieder zurück. Er hat ein möbliertes Haus gemietet und kann in der Kfz-Werkstatt anfangen, sobald sie eingezogen sind. Es wird funktionieren. Es muss einfach.
Er will es Sam gleich erzählen und klopft an seine Zimmertür. Als niemand antwortet, geht er hinein. Es sieht aus wie alle Zimmer hier, aber zum ersten Mal fällt Dean auf, dass Sam hier doch seine eigene Note hinterlassen hat. Sein Laptop auf dem Tisch, die Braille Zeile angeschlossen, dahinter ein Buch, seine CDs vor der Stereoanlage. Kleidung liegt keine herum und auch sonst ist penibel aufgeräumt. Dean seufzt, denkt daran, dass er in ihrem Haus auch immer aufräumen muss. Keine Socken mehr im Waschbecken.
Die Tür öffnet sich und Sam kommt herein. Er hält inne und fragt, „Dean?“
„Ja.“ Er versteht nicht, warum Sam es weiß, aber er ist froh darüber. Freut sich, dass sein Bruder ihn noch immer erkennt.
Sie setzen sich aufs Bett und trinken Kaffee, den Sam gemacht hat. Später gehen sie in die Küche und essen Nudeln, die Sam gekocht hat. Sie lachen und albern herum und schwelgen in Erinnerungen. Als sie wieder auf Sams Bett sitzen, dieses Mal mit einem Bier in der Hand, sagt Dean, dass er das Haus gemietet hat und dass er einen Job hat. Dass sie umziehen können, wenn Sam hier fertig ist.
Für einen Moment kommt es Dean so vor, als würde Sam ihn ansehen und zum ersten Mal seit dem Unfall sieht auch er Sam in die Augen. Zum ersten Mal kann er es aushalten. Es sind die selben Falten auf seiner Stirn, die selben Grübchen wenn er lacht. Es ist immer noch Sam, auch wenn die Augen tot sind, die Iris seltsam milchig grau, statt strahlend grün. Dean möchte sich seine eigenen Augen herausreißen und sie Sam geben, aber statt des Brechreizes überkommt ihn nur eine leichte Übelkeit. Er atmet tief durch und schon ist es vorbei. Er lächelt als er fragt, was Sam von dem Haus hält.
Als hätte Sam das Lächeln gehört, lächelt auch er. „Es ist gut, Dean. Alles ist okay, ich hab’s dir ja gesagt.“
Dean sieht Sam wieder in die Augen und die Übelkeit verfliegt noch schneller als gerade zuvor. Es ist alles so viel leichter, jetzt, wo sie einen Plan haben. Wo sie eine Zukunft haben. Nicht die Zukunft, die sie sich ausgesucht hätten, aber eine, die funktionieren kann. Und weil alles so viel leichter ist, beginnt Dean zu fragen. Er fragt Sam nach allem, was er gelernt hat, was er alleine kann und wobei er helfen soll. Er will lernen dann zu helfen, wenn es nötig ist und Sam machen zu lassen, wenn er keine Hilfe braucht. Er merkt schnell, dass es schwer werden wird, Sam seine Fehler machen zu lassen, aber er merkt auch, dass Sam recht gut alleine klar kommen wird. So dass er sich keine Sorgen machen muss, wenn er zur Arbeit geht oder vielleicht einmal einen Tag oder zwei auf die Jagd.
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Wochen später sind sie wieder zu zweit unterwegs, aber dieses Mal gibt es keine Fassade mehr, die aufrecht erhalten werden muss. Fast wie selbstverständlich greift Sam nach Deans Oberarm, wenn sie vom Impala zum Motel oder ins Restaurant gehen, die andere Hand an seinem Stock. Dean bemerkt, wie viel lockerer der Griff geworden ist seit damals, als sie nicht wussten, wohin die Reise ging. Noch immer ist die Zeit kurz, sich die Motelzimmer einzuprägen, aber trotzdem leiden Sams Schienbeine jetzt weniger.
Dean hat Sam gerade erklärt, wie das Essen in dem billigen Diner auf seinem Teller verteilt ist, als ihm auffällt, wie die Frau vom Nachbartisch sie anstarrt. Nein, nicht sie anstarrt, sondern Sam. Er will aufstehen und ihr die Meinung sagen, aber er will nicht, dass Sam es mitbekommt. Also starrt er zurück, bis sie es merkt. Wieder im Auto sagt Sam, „Du hättest es ihr ruhig sagen können.“
„Wem was sagen können?“
„Der Frau am Nachbartisch, dass es unhöflich ist zu gaffen.“
Dean will protestieren, will sagen, dass er es doch nur nicht gemacht hat, damit er... Dann begreift er erst, was Sam gesagt hat.
„Woher weißt du...?“
Sam zuckt mit den Achseln. „Genau wie ich meistens noch rechtzeitig merke, dass ich gleich gegen eine Wand renne, merke ich auch, wenn die Leute starren. Es ist fast so, als könnte ich es riechen. Und als du es bemerkt hast... man hätte die Spannung fast zerschneiden können.“
Dean sieht seinen Bruder nur verwundert an, sagt aber nichts. Sie fahren weiter und Dean hat die Unterhaltung schon fast vergessen, als Sam fragt, „Wie sehe ich aus, Dean?“
Wieder diese leichte Übelkeit. Dean atmet wieder tief durch, aber sie verschwindet nicht so leicht. Er hält den Wagen neben der Straße an, die Landschaft seltsam idyllisch.
„Du willst jetzt nicht hören, dass du groß und dunkelhaarig bist, oder?“
Sam schüttelt den Kopf. „Nein. Ich kann mich noch ganz gut an mein Spiegelbild erinnern, danke. Wenn Leute so starren, dann frage ich mich immer, ob sie einfach starren, weil ich sie mit meinem Stock fast umgehauen hätte oder die Hälfte vom Essen auf dem Tisch verteilt habe, oder weil meine Augen so furchtbar aussehen.“
„Dein Essen hast du jedenfalls nicht auf dem Tisch verteilt“, sagt Dean und spielt mit dem Schlüssel, den er abgezogen hat. „Ehrlich, Sammy, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Deine Augen sehen seltsam aus, ja. Aber sicher nicht furchtbar.“
„Aber du hast mir auch lange nicht ins Gesicht sehen können“, stellt Sam ruhig fest. „Nicht mal mit mir reden. Und ich habe mich immer gefragt, wieso.“
„Müssen wir darüber reden?“, fragt Dean und möchte am liebsten verschwinden. Wünscht sich in diesem Moment, dass Furcht und Schuld ihn doch hätten zerfressen sollen, so dass jetzt nichts mehr übrig wäre.
„Du hast ein Haus gemietet“, erinnert ihn Sam. „Du willst von mir alles wissen, willst wissen was ich kann und nicht kann und wie alles funktioniert. Sollte ich dann nicht auch wissen, wie du funktionierst? Ich kann nicht sehen, ob du schmunzelst oder eine Grimasse ziehst. Also rede bitte mit mir.“
Dean zögert noch einen Moment, in dem er auf das Lenkrad starrt. Dann sieht er Sam an. „Ich bin nicht damit klar gekommen, dass ich nicht auf dich aufgepasst habe. Dass dir etwas passiert ist, obwohl ich ganz in der Nähe war. Deswegen bin ich dir ausgewichen und habe weder mit dir reden noch dir ins Gesicht sehen können. Ich fühle mich verantwortlich und ich habe nicht gewusst, wie es weitergehen soll. Ich hatte einfach keine Ahnung, überhaupt keinen Plan. Das war neu für mich. Ich habe sonst doch immer einen Plan. Und irgendwo zwischen meinen Schuldgefühlen und der Ratlosigkeit habe ich verpennt, mich mit dir und der neuen Situation auseinander zusetzen. Ich hoffe du weißt, dass das jetzt nicht mehr so ist, dass ich es jetzt wirklich versuche.“
Sam nickt. „Ja, das weiß ich und ich bin dir dankbar dafür. Aber du weißt auch, dass ich das niemals verlangt hätte, oder? Dein Leben unterwegs - du hättest es meinetwegen nicht aufgeben müssen.“
„Sondern?“, fragte Dean. „Dich in ein Heim stecken, wo du zwischen Greisen dahinvegetierst? Dich in Ellens Hinterzimmer parken? Oder auf Bobbys Schrottplatz? Kommt ja gar nicht in Frage. Mann, ich war zwei Wochen ohne dich Wohnung suchen und es war total langweilig. Habe mich an die Nervensäge halt irgendwie gewöhnt.“
Sam lacht und auch Dean schmunzelt. „Alles okay?“, fragt er dann. „Können wir weiterfahren?“
Sam wendet ihm den Kopf zu und sagt, „Du hast mir meine eigentliche Frage aber immer noch nicht beantwortet.“
„Du hättest doch Anwalt werden sollen“, stellt Dean fest, ehe er sagt, „Ich finde nicht, dass du dich verstecken musst, aber deine Augen sehen einfach seltsam aus. Anders. So, dass ich verstehen kann, wenn Leute zweimal gucken.“
„Stört es dich?“, fragt Sam und ergänzt dann, „Ich meine, stört es dich im Sinne von ‚dabei kann ich jetzt aber nicht essen’?“
„Nein, natürlich nicht“, sagt Dean ehrlich.
„Gehst du trotzdem mit mir eine Sonnenbrille kaufen?“
„Wenn du willst.“
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Als sie in das letzte Motel ihrer Tour einchecken, war Sam beim Friseur und trägt eine breite aber flache Sonnenbrille, die ihm gut steht. Sam will testen, ob die Leute so weniger starren, also gehen sie in die Kneipe neben dem Motel. Dean hat Zweifel, ob eine Sonnenbrille mitten in der Nacht wirklich unauffälliger ist, aber Sam behält recht. Solange sie am Tisch sitzen und Bier trinken, sieht niemand zu ihnen hinüber. Jedenfalls niemand, der nicht auf der Suche nach einem One-Night-Stand wäre. Kaum dass Dean aufsteht, um neues Bier zu holen, rutscht auch schon eine niedliche Brünette in die Bank neben Sam. Dean lacht und als er an den Tisch zurückkommt, fragt er, „Und, langweilt mein Bruderherz dich schon mit seinen philosophischen Ergüssen?“
Sie schüttelt den Kopf und lacht. „Nein, bis jetzt nicht“, sagt sie, ehe sie sich wieder Sam zuwendet. Dean schmunzelt und mischt sich nicht mehr in das Gespräch ein.
Als die Brünette verschwindet, fragt Sam, „Und, habe ich was verpasst?“
„Ganz niedlich. Nichts Besonderes. Wo ist sie hin?“
„Nach Hause. Was denkst du denn?“
„Kondome kaufen?!“, schlägt Dean vor, aber Sam lacht nur.
„Lass mal. Ist schon gut so. Dann hätte sie es wohl doch gemerkt.“
„Was gemerkt?“
„Dass der Maulwurf Grabowski besser gucken kann als ich. Was sonst?“
Dean sieht Sam noch einmal an und versteht. Die Sonnenbrille schützt nicht nur vor Gaffern, sie ist auch ein prima Versteck. „Du hast es ihr nicht gesagt“, stellt er überflüssiger Weise fest.
„War das unfair?“, fragt Sam. „Es hätte ja mehr draus werden können und...“
„Ist es unfair ein Mädchen abzuschleppen, wenn wir wissen, dass wir sie danach nie wieder anrufen? Lügen gehört zum Spiel und ich würde ja auch niemandem meine Macken im ersten Gespräch anpreisen. Wenn sie es nicht selber merkt - ihr Problem, würde ich mal sagen“, sagt Dean.
Als sie kurz darauf im Motel ins Bett fallen, lacht Sam, „Ihr Gesicht, wenn sie es merkt, hätte ich trotzdem gerne gesehen.“
Dean schmunzelt und ist erleichtert. Er hätte nie vorgeschlagen, dass Sam sich eine Sonnenbrille kauft, aber wenn es ihm hilft, mit Frauen zu flirten, dann war sie sicher eine gute Investition. Sam lacht immer noch leise und Dean denkt daran, wie viel sie in den letzten Tagen wieder zusammen gelacht haben. Es ist nicht gut, das wird es vielleicht nie mehr werden. Aber es ist okay.
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„Das ist es“, sagt Dean, als sie vor dem Haus stehen. „Kein weißer Gartenzaun, nur eine Hecke.“
„Keine Garage?“, fragt Sam grinsend.
Dean schüttelt den Kopf, ehe er es merkt. „Nein, der Impala darf nicht mit einziehen. Aber er ist ja Kummer gewohnt.“ Dann betrachtet er den Vorgarten und das Haus ganz genau und beginnt es zu beschreiben. „Hier in der Hecke ist der Eingang. Ein kleiner geschotterter Weg führt zum Haus. Vor dem Haus sind zwei Stufen, dann die Eingangstür.“
„Welche Farbe hat das Haus?“, fragt Sam.
„Grün“, antwortet Dean. „Es müsste mal gestrichen werden, aber es ist ein schönes dunkles Grün. Die Fenster sind braun. Hinten gibt es eine Veranda und einen Garten mit Rasen und...“
„Können wir hineingehen?“, fragt Sam. „Und eines nach dem anderen, Dean. Ich verlaufe mich wahrscheinlich eh noch.“
„So groß ist es nicht“, sagt Dean schmunzelnd und wartet, bis er Sams Hand an seinem Arm spürt. Über den Weg gehen sie zum Haus und Dean schließt auf. Zimmer für Zimmer beschreibt und erklärt Dean alles. Sam fragt, ob sie ein paar Möbel umstellen können und fragt Dean, ob er auch etwas umstellen will. „Du hast jetzt einmal die Chance und dann nie wieder“, sagt er.
„Für mich ist alles gut“, sagt Dean und räumt nur das zur Seite, was Sam ihm sagt.
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Sie brauchen ein paar Tage, ehe sich alles eingespielt hat. Ehe Sam sich in dem Haus so gut auskennt, dass er seinen Stock zusammen mit Schlüssel und Portemonnaie auf dem Tisch im Hausflur lässt. Ein paar Mal muss Dean sich ausschimpfen lassen, weil er nicht alles wieder dahin zurückgeräumt hat, wo es hingehört, aber er gewöhnt sich schnell. Sie beschriften alle Regale, alle Schränke, alle Kleiderbügel. Sie beschriften auch die Dosen im Vorratsraum und die Putzmittel unter der Spüle. Als Dean das letzte Schild ausdruckt, murmelt er, „Noch länger und ich kann selber Braille lesen.“
Sam lacht und lässt seine Finger über das Regal streifen. „Soll ich dir meinen Übersetzer für den PC leihen?“
Dean kennt das Gerät gut, es war eines der ersten, das Sam unbedingt haben musste. Damit er weiter im Internet surfen kann, hatte er gesagt.
„Nee, lass mal. Reicht ja, wenn du es kannst.”
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Wenn Dean zur Arbeit geht, möchte er Sam am liebsten anrufen, ehe er da ist. Drei, vier Mal in der Stunde unterdrückt er den Drang zum Hörer zu greifen, wählt die Nummer nur ein einziges Mal in der Mittagspause. Die ersten Tage ist Sam schnell am Apparat, dann dauert es schon länger und schließlich antwortet nur der Anrufbeantworter. Fast eine Stunde überlegt Dean, ob er nicht lieber nach Hause fahren soll, dann klingelt sein Handy.
„Dean, ich bin’s. Was gibt’s?“
Sam. Alles ist okay.
„Ich war in der Bücherei, wollte wissen, ob sie Bücher in Braille haben.“
„Und die Bücherei hat kein Telefon, das man anrufen kann?!“, fragt Dean.
„Doch“, sagt Sam und Dean kann das Grinsen fast sehen. „Aber anrufen kann ja jeder.“
„Und?“, fragt Dean. „Haben sie Bücher?“
„Es ist eine Bücherei, Dean. Sie haben massig Bücher.“
„Du weißt, was ich meine.“
„Ja, weiß ich. Und nein, haben sie nicht.“
„Also war dein ganzer Trip umsonst“, stellt Dean fest und denkt, „Und ich habe mich umsonst wahnsinnig gemacht.“
„Nein, war er nicht“, sagt Sam. „Aber das erkläre ich dir wenn du nach Hause kommst.“
Als Dean nach Hause kommt, riecht es nach Pasta und Rotwein. Er findet Sam in der Küche. „Das riecht besser als beim letzten Mal“, sagt er.
Sam grinst. „Bis jetzt ist auch noch nichts angebrannt.“
„An dir ist eine Hausfrau verloren gegangen“, spottet Dean.
„Und du verlierst gleich dein Abendessen“, kommentiert Sam trocken.
Kurz darauf sitzen sie am Tisch und Dean fragt, „Und was ist nun mit der Bücherei?“
„Sie haben mir einen Job angeboten.“
Dean verschluckt sich fast an seinem Rotwein. „Einen Job? Sammy, das ist großartig. Was...“
„Was macht ein Blinder in der Bücherei?“, spricht Sam aus, was Dean denkt. „Sie suchen jemanden für die Information. Den Leuten sagen, wo die Bücher stehen, Reservierungen machen, solche Dinge. Man muss nur ein bisschen mit dem Computer umgehen können, nichts Dramatisches. Ich habe mich mit der Frau an der Information nett unterhalten, weil ich nach Büchern in Blindenschrift gefragt habe und es ihr unangenehm war, dass sie keine haben. Wir haben uns über Bücher unterhalten, ganz allgemein und als sie gemerkt hat, dass ich wohl schon mehr als ein Buch in meinem Leben gelesen habe, hat sie mich ihrem Chef vorgestellt. Der hat mich noch ein bisschen ausgefragt und mir gesagt, dass ich nächste Woche anfangen kann, wenn ich will.“
„Das ist wirklich großartig“; wiederholt Dean.
„Es kommt noch besser. Mein Chef hat gesagt, dass sie schon länger darüber nachgedacht haben, einige Braille-Bücher anzuschaffen, weil ich wohl nicht der erst war, der gefragt hat. Er ist derjenige, der entscheidet, aber ich soll mir mal überlegen, welche Bücher geeignet wären und da mein eigenes kleines Projekt draus machen.“
Dean sieht die Freude in Sams Gesicht, sieht das Lachen und das Strahlen, das sein ganzes Gesicht erfasst, nur nicht seine Augen. „Ich wusste ja immer, dass deine Streberei mal zu irgendwas gut sein würde.“
Sam lacht weiter. „Du mich auch, Dean.“
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Noch ein paar Wochen später ist mehr Normalität eingekehrt, als die beiden sie jemals erlebt haben. Morgens gehen beide zur Arbeit, abends essen sie zusammen, kümmern sich um den Garten. Manchmal gehen sie in eine der wenigen Kneipen im Ort oder ins Kino. Dean ist gut darin geworden, die Dinge zu beschreiben und es hilft, dass sie so viele gemeinsame Erinnerungen haben. Macht es leichter, Vergleiche zu finden.
Dean liegt in seinem Bett in seinem Zimmer, dem einzigen Raum im ganzen Haus, in dem es nicht aufgeräumt ist. Jede Nacht wartet er darauf, dass ihn die Panik überkommt. Die Panik vor diesem Leben, das er gewählt hat. Eine feste Adresse, eine feste Arbeit, keine Dämonen weit und breit. Aber er vermisst es nicht. Es stört ihn nicht, dass andere Jäger anrufen und fragen, ob er mitkommt. Er bleibt lieber bei Sam. Es gefällt ihm, wie es ist. Besser, als er gedacht hätte.
Er denkt an Sam. Er war schon immer stolz auf seinen kleinen Bruder, aber jetzt ist das Gefühl so viel stärker. Dieses neue Leben ist gut für Sam, er blüht regelrecht auf. Sein Job gefällt ihm gut, gerade heute hat er wieder erzählt, dass er seinem Chef mit seinem Wissen über Bücher beeindruckt hat. Er erzählt von Kunden die kommen und die seltsamsten Sachen fragen, die ihm teilweise nicht glauben, wenn er ihnen sagt, wo die Bücher stehen und die lieber zur Ausleihe laufen, nur, um von dort wieder zu ihm geschickt werden. Er erzählt es ohne Bitterkeit, lacht meistens dabei. Mit seinen Kollegen versteht er sich gut, hat sich schon ein paar Mal mit ihnen nach der Arbeit getroffen. Für Sam ist es das fast perfekte Leben. Es fehlt nur eine Frau an seiner Seite. Und sein Augenlicht. Und für Dean ist es ein Leben, das er nie freiwillig gewählt hätte, und das ihm doch so gut gefällt.
Alles ist okay.