titel: la dernière minute
fandom: la haine
charaktere: saïd, hubert, vinz
warnung: tod, blut
i.
Saïd träumt.
Notre Dame schießt daneben. Die Kugel streift Vinz' linkes Ohr und das Trommelfell platzt und da ist so viel Blut, aber Vinz überlebt. Und Notre Dame verschwindet, irgendwo in einem endlosen Prozess, bei dem wenig herauskommt. Ob er überhaupt schuldfähig ist, ob die Krawalle nicht auch für einen erfahrenen Polizisten ein Ausnahmezustand waren, ob Vinz ihn provoziert hat, ob die Jungen ihn bedroht haben - da war doch eine Waffe - aber Vinz lebt. Auf dem linken Ohr hört er nicht mehr. Er geht lange Zeit nicht aus dem Haus. Er sagt bitter: »Nur so erträgt man das Gelaber von den Weibern.«
Er sagt: »Ein Polizist hat auf mich geschossen und alles, was ich davon habe, ist dieses lausige Ohr.« Saïd grinst humorlos. »Ist scheiße«, Vinz schiebt die Schultern vor und guckt zu Hubert, »Hättest Du mich nicht mit diesem Pazifismus-Schwachsinn genervt, hätte der Wichser jetzt 'n Loch im Schädel.«
Es ist Winter und die Heizung funktioniert nicht. Sie sitzen in ihren dicken Jacken auf dem Bett und rauchen. Irgendwann räuspert sich Vinz. Er drückt den Joint in einer Teetasse aus und zupft sich an seinem unversehrten Ohrläppchen. »Hätte schlimmer kommen können.« Die Anwälte sind weg, die Autonomen und die Reporter. In den Zeitungen berichten sie über die GIA und das Ende des Bosnienkrieges. Und Vinz lebt.
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In London hangelt er sich von Auftrag zu Auftrag durch. Er wohnt in einem Zimmer in Hackney. Er photographiert junge Ehepaare, auf Familienfeiern und für kleine Artikel in unbedeutenden Zeitschriften. Sein Englisch ist langsam und brüchig und wenn er flucht, tut er es auf französisch. Er hat ein paar lose Bekannte in der Nachbarschaft und besucht alle zwei Wochen die Familie seines Cousins in Brighton. Wenn Nordine ihn an Sonntagen anruft, ist das Heimweh manchmal so unerträglich, daß er den nächsten Flug nach Hause buchen will.
Er ist dreißig und seit Notre Dame ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen, aber er schläft noch immer schlecht und wacht noch immer um kurz vor sechs auf, ganz gleich, wann er ins Bett geht. Als wolle sich sein Körper verzweifelt an die Erinnerung klammern. Da ist der zartblaue Morgenhimmel, da ist Vinz' müdes Lächeln, die Welt gehört uns, da ist der Schuss und Saïd schließt die Augen, um nur ein paar Sekunden länger daran glauben zu dürfen, daß alles gut werden kann.
ii.
Vinz schießt zuerst.
Er behält die Waffe, er verspricht Hubert, daß er sie in den Fluß werfen wird. Notre Dame steigt aus dem Auto und packt ihn am Arm, das Gesicht in einer schadenfrohen Grimasse, und Vinz zieht die Pistole und schießt ihm unter Paul Valérys bekümmertem Blick in die Brust. »Hau' ab!«, brüllt er Hubert zu, der sich zu ihnen umgedreht hat, und greift Saïd bei der Hand. Notre Dame ächzt vor Schmerz und windet sich und röchelt und spuckt Blut und obwohl Saïd weiß, daß es ein Traum ist, weil Vinz nie geschossen hätte - verdammt, er hatte nicht einmal auf den Fascho schießen können - empfindet er warme, weiche Genugtuung bei dem Anblick.
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Zuerst ist er wie betäubt vor Schmerz, dann kommt der Zorn. Er geht nicht zur Beerdigung und nicht auf den Friedhof, er begräbt Vinz unter weißkalter Wut. Bei einer Befragung spuckt er dem Polizisten ins Gesicht, er prügelt sich und wirft Steine gegen die Fenster des Kommissariates. Samir haut ihn raus, so oft es geht, und hält ihn einmal gerade rechtzeitig davon ab, einen Streifenwagen anzuzünden.
»Er braucht Hilfe«, hört Saïd ihn abends kurz vor dem Einschlafen auf dem Flur zu Nordine sagen, »Er gerät völlig außer Kontrolle.« - »Er hat gesehen, wie man seinen Freund erschossen hat«, erwidert Nordine ungewohnt laut und wütend, »Scheiße, der war keine zwanzig. Weil die hier jedem Wichser 'ne Marke und 'ne Waffe in die Hand drücken. Es ist ein Wunder, daß Saïd - «, er gerät ins Stammeln. Samir murmelt eine Entschuldigung und durch den Türspalt sieht Saïd, wie er kurz Nordines Gesicht berührt. Eine Weile sprechen sie mit gesenkten Stimmen und Saïd zieht sich die Decke bis zum Kinn und nickt ein.
Als er aufwacht - er hat nicht einmal eine Stunde geschlafen - sitzt Nordine auf seiner Bettkante. Er hat dunkle Ringe unter den Augen und sieht so unendlich erschöpft aus wie Saïd sich fühlt. »Ich hör' auf damit«, seine Stimme ist heiser, »Ich versprech's.« Nordine legt ihm die Hand auf den Arm und lächelt dünn. Sein Kinn zittert.
Die Wut hört nie ganz auf, aber sie wird stiller und fügsamer, danach.
iii.
Notre Dame schießt, Vinz geht zu Boden. Wie eine Marionette, der man die Schnüre durchtrennt hat, fällt er in sich zusammen und ist einfach tot. Notre Dame hält die Waffe in der Hand. Er lächelt ungläubig, als wolle er sagen: »Das ist ein Witz, oder?«, und dann steht Hubert vor ihm. Saïd will ihn aufhalten, in seinem Kopf schreit er: »Verschwinde, hau' ab!«, aber er steht bloß da, stumm vor Angst, und Hubert richtet die Waffe auf Notre Dame und Notre Dame schießt und über ihnen starrt Charles Baudelaire verzweifelt ins Nichts.
Es ist ein Traum, der nur haarscharf an der Wirklichkeit vorbeischrappt.
Saïd geht zur Beerdigung. Farah steht neben Vinz' Großmutter und heult und Saïd will sie anbrüllen, weil Vinz und Hubert seine Freunde gewesen sind. Weil das hier sein Schmerz ist, und seine Trauer. Huberts großer Bruder steht neben einem Vollzugsbeamten ganz nah bei den Gräbern. Samir hält sich ein wenig abseits und vergräbt die Hände wie zum Schutz in den Taschen seiner Lederjacke. Ein Pfarrer hält die Grabrede.
Bescheuert, denkt Saïd, Vinz ist jüdisch. Da hält doch kein Pfarrer die Grabrede.
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Es ist bloß ein Traum, denkt er, wenn er morgens um kurz vor sechs wach in seinem Bett in London liegt, Meilen und Jahre von Notre Dame entfernt. Wenn ich jetzt die Augen aufmache, bin ich wieder im RER und es ist gleich sechs und vor mir sitzt Hubert und da drüben Vinz und -
Und er schließt die Augen und hält die Luft an.
iv.
Der RER fährt in Chanteloup-les-Vignes ein. Sie steigen aus, leichtsinnig vor Müdigkeit. Von den grauweißen Häuserwänden sieht Arthur Rimbaud in eine unbestimmte Ferne.
»Warum ausgerechnet diese alten Säcke?«, fragt Saïd und gestikuliert vage zu Valéry. Hubert zuckt mit den Achseln, »Die waren halt Genies.« - »Tupac ist 'n Genie«, wirft Saïd ein. Vinz spuckt auf den Boden, »Tupac ist kein Franzose«, sagt er und lacht, »Die haben Angst, daß wir vergessen, daß das hier Frankreich ist.« Hinter ihnen fährt ein Auto vor. Saïd weiß, daß Notre Dame darin sitzt, »He, Hubert, hast du noch Dope?«, er geht ein paar Schritte, »Mein Alter gibt mir Hausarrest bis Silvester. Das ertrag' ich nüchtern nicht.« - »Klar«, Hubert schiebt die Hände in die Jackentaschen. Vinz zögert kurz, dann folgt er ihnen, »Scheiße, auf eine Stunde mehr kommt's auch nicht an.«
»Na dann, Beeilung. Der Letzte bekommt 'n Kuss von Vinz' Schwester«, ruft Saïd und beginnt zu laufen. Vinz schimpft, Hubert lacht. Das Auto fährt die Straße runter.
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Sie stehen zu dritt auf dem Balkon und teilen sich einen Joint. Es ist halb sieben und allmählich kommt Leben ins Haus. Der Himmel ist wolkenleer und die Luft warm. Aus der Küche hören sie das Radio, irgendwas von France Gall. Vinz setzt sich breitbeinig auf einem der weißen Plastikstühle und legt den Kopf in den Nacken.
»Du weißt, daß das ein Traum ist«, sagt er und sieht Saïd durch halbgeschlossene Lider an, »Ich bin tot. Ich bin nicht einfach lebendig, bloß weil du nicht zur Beerdigung kommen wolltest. Die Welt hört nicht auf sich zu drehen, weil du die Augen zumachst. Übrigens -«, er reicht den Joint an Hubert weiter, »Guter Schuss. Ausbaufähig, aber nicht übel. Danke. Sorry, daß du ausgerechnet meinetwegen doch noch einsitzt.« Hubert grinst, »Bastard.« - »Du liebst mich doch«, meint Vinz, »Sag's ihm, Saïd. Sag' ihm, daß er mich liebt.«
»Nur noch ein bißchen«, sagt Saïd, »Nur ein paar Minuten.«
v.
Notre Dame schießt zuerst. Vinz ist sofort tot. Hubert schießt. Notre Dame überlebt. Hubert bekommt fünf Jahre. Er kehrt nie zurück, nicht vollständig. Er ist ein Fremder, als sie ihn entlassen.
Das ist kein Traum.
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Er stellt es sich so vor:
Sie stehen am Fluß, schmecken die graue Luft.
»Er konnte einem schon tierisch auf den Sack gehen«, sagt er, und Hubert gluckst, als unterdrücke er ein Schluchzen.
Vinz ist tot, sie brauchen kein Grab, um es zu verstehen. Sie stehen Schulter an Schulter am Ufer - beinahe berühren sich ihre Hände - und erwarten den Schmerz.