Umwege 7- Teil 1

Mar 19, 2012 11:32

Originalgeschichte.
Zusammenfassung: Jo glaubt seinen Traummann gefunden zu haben: gutaussehend, reich und gut im Bett. Und er scheint seine Gefühle zu erwidern. Einziges Problem: Robert ist gut zwanzig Jahre älter als er, hat eine Frau und zwei Kinder...
Warnungen: Yaoi, M/M, 18+



Endlich hatte die Uni wieder angefangen. Noch nie waren mir die Semesterferien so lange vorgekommen wie dieses Mal, und als mein letztes Semester begann, war ich mehr als erleichtert. Ich sehnte mich nach Abwechslung von meinem sinnlosen Kellnerjob und meinem ereignislosen Privatleben und so konnte ich den ersten Vorlesungstag kaum erwarten.
Da es mein letztes Semester war und ich noch eine Bachelorarbeit schreiben musste, waren die Lehrveranstaltung jedoch nicht sehr zahlreich und ich wurde meiner Hoffnung, besonders viel zu tun zu haben, schnell beraubt.
Und dann, Ende Oktober, passierte, was ich immer gefürchtet, aber nicht in Wirklichkeit erwartet hatte.
Ich hatte mich immer unbewusst umgesehen, in Erwartung, irgendwo einmal zufällig Robert zu erblicken. Ab und zu hatte ich erschrocken den Kopf verdreht, um einem Mann mittleren Alters in Anzug nachzublicken, nur um dann festzustellen, dass ich ihn verwechselt hatte. Die Stadt war schließlich nicht besonders groß und die Wahrscheinlichkeit, ihm einmal über den Weg zu laufen, nicht allzu gering. Dennoch war es mir bis zu diesem Tag nie passiert und als es dann geschah, war es natürlich, als ich absolut nicht auf der Hut war.
Und zu allem Überfluss war er nicht alleine.

Es war einer der ersten richtig kalten Tage und ich war nach der Uni mit Corinna, einer Bekannten aus dem Studium, noch in die Stadt gegangen, um einige Besorgungen zu machen. Ich war trotz des leichten Nieselregens, der Corinna mehrere geekelte Äußerungen entlockte, erstaunlich gut gelaunt. Wir beschlossen, uns in ein kleines Café zu setzen, das gerade neu aufgemacht hatte und in dem ich bisher noch nie gewesen war, doch Corinna war so begeistert davon, dass ich keine andere Wahl hatte als sie zu begleiten.
Wir setzten uns an einen Tisch ganz hinten in eine Ecke und bestellten, während Corinna mir von ihrem kleinen Bruder erzählte, der gerade in der nervigsten Phase der Pubertät war.
„Ehrlich, man kann kein vernünftiges Wort mit ihm reden… ich finde es immer furchtbar schade, wenn ich nach Wochen mal wieder nach Hause komme, um sie zu besuchen, dann richtet er ein paar wenige nette Worte an mich und fängt dann wieder an, mit meiner Mutter zu streiten.“
Ich lächelte, sagte dann aber etwas ernster zu ihr: „Das geht wieder vorbei. Sei froh, dass du noch einen Bruder hast, auf den sich die Sorgen deiner Eltern gerade konzentrieren.“
„Pf, nicht dass das sie davon abhalten würde, auch noch an mir rumzumäkeln“ seufzte sie und nahm einen Schluck von ihrem Latte Macchiato.
„Und wie sieht’s bei dir aus?“ fügte sie hinzu. „Du hast keine Geschwister, oder?“
Ich schüttelte den Kopf. „Früher war ich immer ganz froh drüber, aber mittlerweile… manchmal frage ich, ob alles für meine Ma genauso schlimm wäre, wenn ich nicht ihr einziges Kind wäre.“
Corinna sah mich prüfend an. „Du meinst, dass du schwul bist? Ist das ein Problem für sie?“
„Problem?“ Ich lachte freudlos auf. „Sie denkt, ich komme in die Hölle.“
Ich berichtete ihr von den speziellen Ansichten meiner Mutter und ihren wiederholten Versuchen, mich zu einer Therapie zu bewegen.
„ ‚Du willst doch sicher auch mal Kinder und eine normale Familie haben’“ äffte ich sie nach. Corinna verdrehte die Augen. „Mein Vater ist da genauso“ sagte sie ein wenig nachdenklich. „Meine Eltern sind ja geschieden… auch wenn ich mir dabei fies vorkomme, denke ich manchmal, zum Glück. Stell dir mal vor, er hätte mich erzogen. Dann würde ich heute vielleicht nicht einmal mit dir reden.“ Sie grinste.
Ich lachte mit ihr und stellte dabei fest, dass mir dies in letzter Zeit wieder häufiger gelang. Doch wenige Sekunden, nachdem ich das gedacht hatte, gefror das Lachen in meinem Gesicht, als sich auf einmal die Glastüre des Cafés öffnete und ich erkannte, wer da eintrat- und mit wem.
Einen kurzen Moment hielt ich ihn für eine der üblichen Verwechslungen die mir ja schon einige Male passiert waren. Ich sah ihn zunächst nur im Halbprofil, als er die Türe aufhielt und da hätte er noch jemand sein können, der ihm einfach zum verwechseln ähnlich sah. Doch als die Person hinter ihm eingetreten war, er sich umdrehte und nach einem freien Tisch Ausschau hielt, da bestand kein Zweifel mehr.
Es war Robert.
Und das hinter ihm konnte nur seine Frau sein.
Ich erkannte sie von den Fotos, die ich vor- so erschien es mir beinahe- Lichtjahren in seiner Wohnung angeschaut hatte. Sie war natürlich auch um einiges gealtert, obwohl sie den Spuren scheinbar mit allen Mitteln entgegenwirkte.
Ihre aschblonde Grundhaarfarbe hatte sie mit einigen Highlights versehen und an Make-up hatte sie nicht gespart, obwohl ich zugeben musste, dass es in keine Weise billig wirkte, sondern ihr einen etwas hochmütigen, perfektionistischen Anstrich gab. Sie trug einen beigen Trenchcoat und dazu Stiefel mit hohen Hacken. Ich merkte, dass sie recht klein war und selbst mit den Schuhen Robert nur bis zur Brust reichte. Erstaunlicherweise erkannte ich Michis Züge in ihrem Gesicht, viel mehr als in Roberts. Missbilligend musste ich zugeben, dass sie eine sehr schöne Frau war, das Alter schien sie attraktiver gemacht zu haben als auf den alten Familienbildern, auf denen sie so jung und naiv gewirkt hatte.
Roberts Anblick nahm mir wieder einmal den Atem. Er sah aus wie immer, aber da ich ihn so lange nicht mehr gesehen hatte, übermannte mich dieser Anblick wieder von Neuem. Sein Jackett hatte er locker über den Arm gelegt, offenbar machte ihm die klamme Kälte draußen nichts aus, denn er war schon so hereingekommen. Seine breite Brust zeichnete sich unter dem weißen Hemd ab, und ich erinnerte mich genau daran, wie sich die festen Muskeln unter meinen Händen angefühlt hatten. Sofort schien seine Präsenz den ganzen Raum zu dominieren und ich sah nicht wenige Blicke in die Richtung des Paars huschen. Allerdings schien er auch- und ich fragte, ob ich mir das nicht nur einbildete- um einiges gealtert aus seit unserer letzten Begegnung. Ich überschlug kurz und stellte fest, dass seit damals schon beinahe 4 Monate vergangen waren- sie kamen mir vor wie Jahre. Seine Haare schienen eine Spur mehr Grau aufzuweisen und- so erkannte ich selbst aus der Entfernung- seine Augen waren von dunklen Schatten untermalt, die seinem sonst so jugendlichen Erscheinungsbild im Wege standen.
Und dann passierte etwas, was ich seit seinem Eintreten erwartet und gefürchtet hatte. Bei der Suche nach einem Tisch blieben seine eindringlichen Augen schließlich an mir hängen, er sah mich, er erkannte mich. Ich erstarrte beinahe, als er mich einige Sekunden lang ansah und sich dann seiner Frau zuwandte und etwas sagte.
„Wer ist denn das?“ hörte ich wie durch einen riesigen Wattebausch, der mich scheinbar zu umhüllen schien, Corinnas Stimme. „Kennst du ihn? Du schaust ihn schon an wie ein Auto, seit er reingekommen ist.“
Ich hatte keine Zeit zu antworten, denn Herr und Frau Nowak setzten sich in unsere Richtung in Bewegung und mich durchlief es heiß und kalt. Die Situation überforderte mich jetzt schon und wir hatten noch kein Wort geredet. Schließlich war das seine Frau. Die Frau, die wir monatelang hintergangen hatten, mit deren Mann ich geschlafen hatte ohne auch nur einen Moment an sie zu denken oder sie zu bemitleiden.

Meine Mutter hat Depressionen, aber richtig. Sie schluckt Tabletten dagegen, und wenn sie sie schluckt, dann geht es ihr wieder besser. Aber nur dann. Ohne die Pillen liegt sie manchmal tagelang im Bett und heult und keiner weiß, warum.

Michis Worte schienen in meinen Ohren wiederzuhallen während ich sie beim Näherkommen anstarrte.
„Johannes“ hörte ich Roberts tiefe Stimme meinen Namen sagen. Ich schaffte es, meinen Blick von seiner Frau abzuwenden und ihn anzusehen. So neutral sein Tonfall geklungen hatte, so weich und traurig wirkte sein Blick.
„Herr Nowak“ presste ich hervor, gerade noch hatte ich gemerkt, dass ich ihn ja nicht beim Vornamen nennen durfte. „Wie geht es Ihnen?“
Bei der Frage meinte ich wahrzunehmen, wie der Blick seiner Frau kurz zu ihm schnellte, aber es konnte auch genauso gut meine Einbildung gewesen sein. Er beantwortete meine Frage nicht, sondern ging gleich zur Vorstellung über.
Robert riss seinen Blick nun von mir los und er schien wieder distanziert und professionell zu werden, ganz der Firmenchef, als den ich ihn kennengelernt hatte.
„Das ist meine Frau. Maria, das ist Johannes, er hat vor einer Weile bei uns in der Firma Praktikum gemacht. Einer unserer besten Praktikanten bisher- keine dummen Fragen, eine echte Hilfe. Er hat bei uns allen einen bleibenden Eindruck hinterlassen.“
Wäre nichts von dem passiert, was zwischen uns gewesen war, hätten mich seine Worte ziemlich geehrt und ich wäre womöglich rot geworden. So konnte ich nichts anderes tun, als meinen aufkommenden Schwindel zu unterdrücken.
Ich verstand die versteckte Botschaft hinter seinen Worten, vor allem seinem letzten Satz, aber mir wurde die Geschmacklosigkeit der Situation in diesem Moment schmerzhaft bewusst, vor allem, als mir Frau Nowak mit einem herzlichen Lächeln die Hand reichte und sagte: „Es freut mich, Sie kennenzulernen.“ Ihr Händedruck war warm und fest.
„Ganz meinerseits“ antwortete ich höflich, konnte jedoch nicht verhindern, dass meine Stimme ein wenig heiser klang. Das alles was so absurd, Robert, wie er dastand, selbstsicher und Herr der Lage, seine Frau mit dem perfekten Kameralächeln und dazwischen ich, ein kleiner, unerfahrener Student, der mit der Situation überhaupt nicht klarkam und in dem das schlechte Gewissen und der Schmerz wie ein Tornado tobte.
„Das ist Corinna, eine Freundin“ fiel mir Gott sei dank in diesem Moment ein. Corinna gab beiden die Hand und lächelte.
Noch ehe ich mir überlegen konnte, wie ich das Gespräch weiterführen würde, übernahm dies schon Frau Nowak, wofür ich ihr dankbar war.
„Und was studieren Sie?“ fragte sie freundlich. Sie schien wirklich keinerlei Verdacht zu schöpfen- wieso auch, ermahnte ich mich, ich war lediglich ein ehemaliger Praktikant, den sie zufällig in der Stadt getroffen hatten. Sie müsste wirklich ganz schön paranoid sein, um darin etwas Verfängliches zu sehen.
„Mediendesign“ antwortete ich knapp und hoffte, dass meine Stimme nicht wirklich so krächzend klang, wie ich sie gerade wahrgenommen hatte.
„Oh“, Frau Nowaks Augen weiteten sich in ehrlicher Überraschung. „Das Gleiche wie unser Sohn. Er hat dieses Semester damit angefangen. Hier an der Uni?“
Ich nickte und meine Augen huschte dabei zu Robert, der seinen Blick abgewendet hatte. Er hatte nie erwähnt, dass Michi ebenfalls in diese Richtung gehen wolle. Natürlich hatten wir selten über seine Familie gesprochen, eigentlich nie, wenn es sich vermeiden ließ. Dennoch fühlte ich mich auf seltsame Weise betrogen davon, dass er mir diese Information vorenthalten hatte.
„Interessant“ sagte seine Frau nickend. „Na ja, bei uns läuft es ja sozusagen in der Familie.“ In diesem Moment sah ihr Blick irgendwie traurig aus.
„Nun müsst ihr uns leider entschuldigen“ unterbrach sie Robert an dieser Stelle ein wenig barsch. „Wir haben noch viel zu erledigen. Wie wäre es, wenn wir in ein anderes Café gehen? Die Plätze hier scheinen alle belegt zu sein.“
Zu seinem Glück hatte er recht und seine Frau nickte einsichtig.
„In Ordnung. War nett, Sie kennenzulernen, Johannes.“
Sie siezte mich immer noch höflich, wobei Robert ja schon, womöglich aus Gewohnheit, zum „Du“ übergegangen war. Ich nickte ihr zu und rang mir ein Lächeln an, dann drehten sich beide um und verließen das Café. Robert hatte mich kein einziges Mal mehr direkt angesehen.
„Wow, so ein junger Chef“ murmelte Corinna als die Beiden außer Sichtweite waren.
„Er ist sechsundvierzig“ entgegnete ich matt, da ich den Schock noch nicht wirklich verarbeitet hatte.
„Was?“ entfuhr es ihr genauso, wie mir damals in Roberts Auto. „Im Ernst?“
Ich nickte benommen. Robert war hier gewesen, noch vor wenigen Sekunden war er leibhaftig vor mir gestanden. Es erschien mir seltsam surreal.
„Sag mal“ kam es von Corinna und als ich mich zu ihr umwandte fiel mir auf, dass sie mich kritisch musterte. „Was ist eigentlich los mit ihm und dir? Seit er da war siehst du aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
Ich schüttelte den Kopf, als müsste ich eine Mücke verjagen. „Nichts, ich war nur überrascht, ihn zu sehen.“
Sie sah mich ungläubig an. „Er hat dich auch so komisch angeschaut, so als… täte es ihm weh.“
Ihre Stimme war mit dem Ende des Satzes ein wenig leiser geworden. Ich überlegte. Corinna war ein sehr nettes Mädchen und machte einen vertrauenswürdigen Eindruck, doch ich kannte sie nicht wirklich. Wir waren seit Jahren Kommilitonen im gleichen Semester und verstanden und sehr gut, doch waren wir kaum über den üblichen Smalltalk herausgekommen. Dennoch, ich hatte stets den Grundsatz gehabt, nichts zu verheimlichen. Wenn man mich direkt fragte, bekam man ehrliche Antworten.
„Wir hatten eine Affäre“ sagte ich also schließlich trocken.

Corinna fasste diese Tatsache weitaus lockerer auf, als ich erwartet hatte, dennoch musste ich mir ununterbrochen anhören, wie idiotisch das doch alles gewesen sei. Ich erzählte ihr mehr oder weniger die ganze Geschichte, während ich das ein oder andere pikante Detail ausließ.
„Ach Jo“ war ihr geseufzter Kommentar nach alledem. „Ich hab mir ja schon immer gedacht, dass du spinnst.“
Ich konnte nicht viel dazu sagen und auch nichts erwidern, denn im Grunde hatte sie ja recht, außerdem saß mir der Schock, Robert begegnet zu sein, immer noch tief in den Knochen. Das Schlimme war, dass er, abgesehen von den vermeintlichen Alterserscheinungen, wirklich gut ausgesehen hatte- ganz und gar nicht so, als hätte er die letzten Wochen den selben geistigen Wirrwarr wie ich durchgestanden. Vielleicht versteckte er es auch nur?
Ich fragte mich, wie ich selbst auf ihn gewirkt hatte. Möglicherweise hatte er von mir denselben Eindruck gehabt. Vielleicht sah man es mir ebenfalls nicht an, wie sehr ich unter unserer Trennung gelitten hatte.
Einerseits war ich enttäuscht, wie schnell er gegangen war- wie wenig er meine Anwesenheit zu ertragen schien. Aber anderseits auch dankbar. Schließlich wäre es unglaublich unangenehm gewesen, mit ihm und seiner Frau in einem Raum zu sitzen, und wenn dieser auch ein öffentliches Café war.
Ich fühlte eine unglaubliche Trauer und Melancholie in mir, doch als ich abends im Bett lag konnte ich mich nicht dazu durchringen, zu weinen, so sehr ich das Bedürfnis danach hatte. Es schien, als seien meine Tränen für immer versiegt.

Pauls neue Wohnung war ein Traum, viel besser als die alte, obwohl er Dennis natürlich vermisste. Kein Altbau mehr, dafür riesige Zimmer, ein gemütlicher Balkon mit Sicht auf die Stadt, da sie ein wenig außerhalb lag. Das Bad mit riesiger Badewanne und eine ebenfalls ziemlich große Küche. Die zwei Mädchen mit denen er nun zusammen wohnte, waren allerdings beide schwer beschäftigt und daher kaum zuhause, obwohl er sich mit beiden sehr gut verstand. Es gab jedoch kein gemeinsames Wohnzimmer mehr, wie früher, und so saßen wir nun meistens bei Paul im Zimmer, wenn ich ihn besuchte.
„Es hat sich viel verändert, hm“ sagte er an diesem Abend, als wir beide in Gedanken versunken auf seinem riesigen Bett saßen, das gottseidank gerade noch so in dem etwas kleineren Zimmer Platz gefunden hatte.
Ich nickte. Abgesehen von Robert und meinem damit zusammenhängenden Rückzug fühlte ich, dass sich auch zwischen Paul und mir viel verändert hatte. Früher hatten wir eine naive, sorglose Freundschaft geführt, die daraus bestand, dass wir miteinander ausgingen und uns von unseren gegenseitigen Eroberungen erzählten. Nach der Sache mit Robert schien sie irgendwie gefestigter und ruhiger. Ich wusste, dass Paul in jeder Lebenslage zu mir stehen würde, das hatte er bewiesen. Und ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich das Gleiche für ihn tun würde, sollte es nötig sein.
Dennoch schien er in den letzten Wochen ein wenig distanzierter und ich war mir nicht sicher, ob es daran lag, dass er ein wenig seine Ruhe vor mir brauchte, nachdem ich mit dem leichten Abflauen meines Liebeskummers in letzter Zeit wieder öfter seine Gesellschaft gesucht hatte. Mehrmals hatte er Verabredungen abgesagt, was zuvor wenn überhaupt von meiner Seite geschehen war und manchmal, wenn ich anrief, hörte ich am anderen Ende der Leitung: „Kann ich dich später zurückrufen? Ist grade schlecht.“
„Ja, es ist schon anders“ gab ich also zu, als er dieses Thema ansprach, denn es schien mir, als habe er mir irgendetwas zu sagen, auf das er langsam hinsteuern wollte.
„Vermisst du ihn noch?“
Ich lachte kurz. „Was ist denn das für ne Frage? Klar doch. Ich glaube auch nicht, dass ich ihn irgendwann nicht mehr vermissen werde. Aber ich sehe ein, dass… es besser so ist. Und das kommt langsam von meinem Verstand in meinem Herz an.“
Paul lächelte zögerlich. „Ach ja, das Herz… verrücktes Ding, was?“
Ich nickte und sah ihn erwartungsvoll an.
„Ich…“ begann er zögerlich. „Ich muss dir was sagen.“
Also doch. Ich hielt kaum merklich die Luft an. Obwohl ich keine Ahnung hatte, worum es ging, so spürte ich doch, dass es etwas Wichtiges war.
„Ja?“
„Ich habe da jemanden kennengelernt.“
Mir fiel wortwörtlich die Kinnlade herunter. Das hätte ich nicht erwartet. Paul, der wie ich immer den nächsten One-Night-Stand gejagt hatte und dem es nur um schnelles Vergnügen gegangen war- jemanden kennengelernt? Das war kaum zu glauben. Ich begann zu grinsen.
„Aha?“
Das war wohl auch die Erklärung dafür, dass er sich so rar gemacht hatte in der letzten Zeit. Paul holte tief Luft- offenbar hatte er sich lange innerlich auf dieses Gespräch vorbereitet.
„Er heißt Daniel- ich habe ihn zufällig beim Bäcker kennengelernt. Doofe Geschichte, ich habe meinen Geldbeutel vergessen, da hat er mir die Brötchen gezahlt.“
Ich grinste noch breiter. „Wie romantisch.“
Er schlug mir spielerisch empört auf die Schulter. „Ja, war es.“
„Wann war das denn?“ erkundigte ich mich unauffällig.
„Vor ein paar Wochen. Irgendwie kamen wir dann ins Gespräch und haben uns so lange vor meiner Haustüre unterhalten, dass ich ihn irgendwann zum Frühstück eingeladen habe und dann… na ja, dann gingen die Dinge so ihren Gang.“
„Gute neue Nachbarschaft, hm?“
„Kann man wohl sagen.“
Er strahlte übers ganze Gesicht und mein Herz wurde regelrecht weit. Es freute mich, dass er offenbar bis über beide Ohren verliebt war- anders konnte es gar nicht sein bei diesem Lächeln. Gleichzeitig schien es in meine noch nicht wirklich verheilte Wunde zu bohren- machte es mir doch bewusst, was mir im Moment fehlte. Trotzdem ermahnte ich mich, ihm sein Glück zu gönnen und nicht meine eigenen verqueren Probleme darauf Einfluss nehmen zu lassen.
„Und nun… seid ihr zusammen oder wie?“
Paul zuckte mit den Achseln. „Na ja, irgendwie… haben wir noch nicht wirklich darüber geredet. Wohl schon. Wir schlafen miteinander, er ist offen schwul, was er mir schon bei unserer ersten Begegnung gesagt hat und er hat mich neulich am Telefon als seinen Freund betitelt.“
„Also ja.“
Pauls Strahlen sagte alles.
„Ich möchte, dass du ihn kennenlernst“ meinte er schließlich.
„Nichts lieber als das.“ Ich könnte nicht leugnen, dass ich neugierig war auf den Mann, der schlussendlich doch Pauls Herz gestohlen hatte. Gleichzeitig wollte ich natürlich den Beweis sehen, dass das Eingehen einer Beziehung möglicherweise doch ein gutes Ende nehmen konnte.
Pauls Lächeln in diesem Moment war ehrlich glücklich und er drückte mir dankbar die Schulter.
„Cool. Dann frag ich ihn, ob er mal vorbeikommt und dann kochen wir was oder so.“
Er machte eine Pause, dann fügte er noch hinzu: „Und dir finden wir auch noch Mr. Right.“
Ich grinste ein freudloses Lächeln. „Mal sehen.“
Seltsamerweise hatte ich es nicht hinbekommen, ihm von meiner Begegnung mit Robert zu erzählen.

Die Zeit verging und es wurde November, ohne dass Paul mir seinen Daniel vorstellte. Obwohl mich die Neugier fast zerriss, drängte ich ihn nicht dazu und vertraute darauf, dass er das Treffen schon arrangieren würde.
Ansonsten verging mein Leben in einem ereignislosen Strom, ohne Richtung und Ziel. So sehr war mein Leben von Robert und dann seiner Abwesenheit dominiert worden, dass ich nun, da sich die Wogen glätteten, keine Ahnung mehr hatte, wohin ich meinen Blick richten sollte. Mich umfing eine gänzliche, lähmende Leere und ich hatte keine Ahnung, was ich mit mir anfangen sollte. Natürlich ging ich meinem Studium nach, ging auch wieder öfter klettern, was ich vor meiner Bekanntschaft mit Robert gerne gemacht hatte. Doch alldem schien der generelle Sinn zu fehlen.
Eines Tages jedoch machte ich eine Begegnung, die wieder alles ins Chaos stürzte, was ich mir so mühsam wieder aufgerichtet hatte.
Es war ein ganz normaler Tag und ich holte mir nach einem Seminar noch einen Kaffee in der Cafeteria, da ich eine Stunde überbrücken musste, bis ich mich mit einem Projektpartner treffen würde. Ich setzte mich an einen der Tische und hielt die heiße Tasse zwischen meinen klammen Händen, dankbar über etwas Wärme. Der Herbst war furchtbar trüb und nasskalt, genau das Wetter, das ich am meisten hasste und das am meisten zu meiner andauernden Trübsal beitrug.
Während ich ein wenig auf das Getränk pustete, um es abzukühlen, hörte ich auf einmal ein kaum merkliches Räuspern neben mir und sah auf. Ich ließ fast meine Tasse fallen, als ich die Person neben mir erkannte.
„Michi?“ fragte ich ungläubig und verschluckte noch ein verwundertes: „Was machst du denn hier?“, als ich mich daran erinnerte, wie seine Mutter mir erzählt hatte, dass er das gleiche Studienfach belegt hatte wie ich.
„Hey“ murmelte er etwas verlegen. „Kann ich mich… vielleicht hinsetzen?“
Verwundert nahm ich meine Tasche von dem zweiten Stuhl. Ich war ziemlich perplex, hätte ich doch erwartet, er würde mir aus dem Weg gehen und ignorieren, sobald wir uns einmal wieder begegnen sollten. Schließlich hatte ich, verdammt noch mal, mit seinem Vater geschlafen. An seiner Stelle hätte ich das wahrscheinlich getan.
„Klar“ antwortete ich.
Er ließ sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder und stellte seine Tasse ab. Seine Haare waren etwas länger als damals, als ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte- als er mir vor dem Club eine gescheuert und mich beschimpft hatte. Das alles schien Lichtjahre her zu sein. Sie lockten sich ein wenig und ließen ihn jünger wirken, als wenn er sie ganz kurz trug. Irgendwie schien sein Gesicht weicher, jungenhafter und weniger kantig. Nun, da ich seine Mutter kannte, erkannte ich ganz klar ihre Züge, vor allem seine Augen und die Gesichtsform ähnelten stark den ihren.
„Hey“ sagte ich, da ich die Begrüßung gewissermaßen übersprungen hatte. „Deine Mutter meinte, du studierst jetzt auch Mediendesign?“
Seine Augen weiteten sich überrascht. „Wo hast du…?“
„Keine Sorge, ich habe sie zufällig in der Stadt getroffen. Mit… deinem Vater.“
Er schien keineswegs weniger verwundert, als er mich das sagen hörte.
„Wirklich? Wann war das denn?“
„Vor ein paar Wochen, weiß nicht mehr genau.“
Er nickte und schien bei sich irgendetwas zu denken, was ich nicht nachvollziehen konnte. Was war so verwunderlich daran, dass ich sie in der Stadt getroffen hatte? Zufälle gab es schließlich immer wieder.
„Und wie gefällt es dir so?“ fragte ich um die unangenehm werdende Stille zu brechen.
„Ganz gut“ meinte er schulterzuckend. „Hab’s mir um einiges anders vorgestellt, aber es ist nicht unbedingt… schlecht anders. Ich werde auf jeden Fall weitermachen.“
„Nun, wenn du irgendwelche Fragen hast…“
„Du weißt, dass sie sich trennen, oder?“
Jedes weitere Wort blieb mir im Hals stecken und ich war einen Moment wie paralysiert. Langsam begann die Nachricht in mein Gehirn zu sickern. Und dann verstand ich auch, warum es Michi so verwirrt hatte, dass ich seine Eltern- zusammen- in der Stadt getroffen hatte.
Als ich zu sprechen begann fühlte meine Zunge sich irgendwie pelzig und schwer an.
„Sie… sie… du meinst sie lassen sich… scheiden?“
Michi hob zum ersten Mal, so fiel mir auf, den Blick und sah mich direkt an. In seinen Augen lag etwas, was mir Angst machte- es war definitiv Wut, ob auf mich, das wusste ich nicht.
„Genau“ meinte er langsam, als würde er einem kleinen Kind etwas erklären. „Toll, was?“
Ich wusste in diesem Moment gar nicht, was ich denken sollte. Noch vor einigen Monaten hätte mich diese Nachricht in Ekstase versetzt. Nun schien etwas in mir taub geworden zu sein und das Wissen löste etwas in mir aus, was mich in unglaubliche Schwermut versetzte. Vor allem nun, da dieser traurige Junge gegenüber saß, dessen Verzweiflung so greifbar war. Obwohl ich versuchte, mir einzureden, dass ich mit der Sache nichts zu tun hatte, dass ihre Ehe sicher vorher schon brüchig gewesen war, so war ich doch sicher nicht unbeteiligt gewesen. Schließlich hatte seine Frau noch während unserer Affäre gemerkt, dass etwas nicht stimmte und eine Paartherapie begonnen. Wäre dies alles ohne meine Mithilfe geschehen? Würde ohne mich Michi nun den gleichen Kummer haben?
Ich biss mir auf die Lippe, das schlechte Gewissen übermannte mich wie damals, als ich noch mit Robert zusammen gewesen war und er den Anruf auf dem Klo erhalten hatte.
„Michi, das… das tut mir leid zu hören…“
Es waren leere Worte, das war mir klar, und sie änderten nichts und machten auch nichts wieder gut.
„Wusstest du es?“ fragte er, immer noch mit der gleichen Wut in den Augen. Ich schüttelte energisch den Kopf.
„Ich hatte keine Ahnung. Dein Vater haben und ich haben keinen Kontakt mehr, ehrlich.“
Er lachte kurz und freudlos und nahm einen Schluck von seinem Getränk.
„Umso besser, oder? Freut dich doch sicher.“
Ich sah ihn überrascht an. Glaubte er das etwa wirklich?
„Wieso sollte es das?“
Er schüttelte den Kopf, als müsste er irgendetwas daraus verscheuchen. „Tu doch nicht so, als ob dir mein Familienglück am Herzen liegt. Wärst du nicht gewesen, wäre das sicher nicht so passiert.“
Bei seinen Worten konnte ich nicht verhindern, dass ich zusammenzuckte. Er sprach genau das aus, was ich bei mir eben gedacht hatte und es fühlte sich an, als wäre er mir auf einen Fuß getreten, in dem ohnehin schon ein Splitter steckte. Diesen Vorwurf aus seinem Mund zu hören tat unbeschreiblich weh, aber er weckte in mir gleichzeitig den Wunsch, mich zu verteidigen.
„Hör mal, das hat mit mir gar nichts zu tun. Wenn zwischen deinen Eltern alles in Ordnung wäre, dann hätte dein Dad erst gar nicht den Wunsch verspürt, mit mir ins Bett zu steigen.“
Mein Tonfall war aggressiver, als ich beabsichtigt hatte und mir war auch bewusst, dass ich meine Worte alles andere als glücklich gewählt hatte. Dies wurde mir bestätigt, als Michi mit einem Ruck aufstand und dabei seine Tasse umstieß. Das milchige Getränk durchnässte seine Jeans und begann, über den Tisch und dann auf den Boden zu laufen. Die Tasse rollte auf die Kante zu und Michis Versuch, die noch aufzufangen, schlug fehl. Mit einem lauten Klirren fiel sie zu Boden und zerschellte in tausend Teile.
Alle Blicke waren auf einmal auf uns gerichtet. Während Michi noch laut fluchte über sein Malheur stand ich verlegen auf, ging auf ihn zu und schob ihn rasch Richtung Ausgang. Ich wollte auf keinen Fall noch mehr Aufmerksamkeit auf uns lenken und so begann ich erst zu sprechen, als uns die kalte und regenfeuchte Luft draußen umfing.
„Ich würde sagen wir regeln das wann anders. Wenn du… wenn du reden willst über die ganze Sache dann kannst du gerne mal vorbeikommen. Rabenstraße 16. Ich… es tut mir leid, das ist eine Scheißsituation. Ich wünschte, ich könnte irgendwas tun, aber… ach, verdammt.“
Ich raufte mir die Haare, als mir bewusst wurde, dass ich ja schon etwas getan hatte. Michi, der sich von mir erstaunlich widerstandslos nach draußen hatte ziehen lassen, stand nur regungslos da und schien noch irgendwie benommen von der Heftigkeit, mit der er reagiert hatte. Auf seiner Hose prangte ein riesiger Fleck und er sah unglaublich erbarmungswürdig aus.
„Ist schon gut“ murmelte er dann nur. Bildete ich es mir ein oder war sein Blick ein wenig weicher geworden? Ich wollte nur noch eines- aus dieser unangenehmen Situation verschwinden.
„Also ich muss los“ log ich. „Mach’s gut. Bis dann.“
Schnellen Schrittes ging ich davon, die Scham meines überstürzten Abschieds brannte noch in mir. Was sagte man in so einem Moment? Alles Gute? Wir sehen uns? Grüß deine Eltern? Alles, was ich an Abschiedsfloskeln kannte, war mir unglaublich fehl am Platz erschienen.
Ich hatte noch viel Zeit, bis ich mich mit meinem Projektpartner treffen würde und absolut keine Ahnung, was ich bis dahin tun sollte. Zurück in die Cafeteria konnte ich nicht, daher lief ich eine Dreiviertelstunde in der Kälte herum, während meine Gedanken sich im Kreis drehten. Warum nur ließ mich Robert nicht los, egal was ich tat? Weshalb traf ich ihn zufällig in der Stadt, weshalb studierte sein Sohn zufällig mit mir und lief mir dann auch noch zufällig über den Weg? Wieso musste ich ständig damit konfrontiert werden, was geschehen war? Wieso durfte ich nicht einfach vergessen?
Erst nach eine halben Stunde fiel mir auf, dass ich meine Tasche zuvor vergessen hatte, als ich Michi so abrupt aus der Cafeteria bugsiert hatte. Als ich zurückgeeilt kam, war sie nicht mehr da.
Das war zuviel für mich. Obwohl ich wusste, dass ich total überreagierte, rannte ich nach draußen, suchte mir ein ruhiges Eck und ließ zu, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen.

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