Umwege 7- Teil 2

Mar 19, 2012 11:34

Originalgeschichte.
Zusammenfassung: Jo glaubt seinen Traummann gefunden zu haben: gutaussehend, reich und gut im Bett. Und er scheint seine Gefühle zu erwidern. Einziges Problem: Robert ist gut zwanzig Jahre älter als er, hat eine Frau und zwei Kinder...
Warnungen: Yaoi, M/M, 18+



Meine Frustration ließ auf dem Heimweg nicht nach, vor allem nicht, als ich daran dachte, was ich alles neu würde beantragen müssen, Bankkarten, Personalausweis, Krankenkassenkarte, Büchereiausweis… Ich hatte mich noch an der Theke erkundigt, aber niemand hatte meine Tasche abgegeben. Selbst für den Bus hatte ich mir von meinem Projektpartner Geld leihen müssen- dieser hatte mich wenigstens ein wenig bemitleidet und wir hatten den Termin auf einen anderen Tag verschoben.
Zu Hause angekommen sperrte ich erst einmal telefonisch meine Bankkarten und schmiss mich dann aufs Bett, um wieder mit Weinen anzufangen. Ich wusste, wie erbärmlich ich mich verhielt, aber es schien einfach alles zu ungerecht.
Am meisten hasste ich die Tatsache, dass es eigentlich die Nachricht von Roberts Scheidung war, die mich derart aus der Bahn warf. Und dass ich davon nicht von ihm selbst erfahren hatte, sondern von seinem Sohn.
Obwohl ich mich dafür verachtete wünschte ich mir wahrhaft, ich hätte in dieser Geschichte tatsächlich die Bedeutung, die Michi mir zuschrieb- nämlich die, der Auslöser für alles zu sein. Aber es schien vielmehr so zu sein, dass die ganze Sache mit mir nur noch herzlich wenig zu tun hatte. Möglicherweise hatte ich Robert aufgezeigt, was in seinem Leben fehlte, dass er eigentlich nicht glücklich war, dass er einen anderen Weg einschlagen sollte- doch nun ging er diesen Weg ohne mich. Seit unserer Trennung hatte er sich kein einziges Mal mehr gemeldet. Als wir noch zusammen gewesen waren, war seine Frau das größte Hindernis gewesen- nun, da dieses Hindernis sozusagen verschwinden würde, stand uns nichts mehr im Wege. Theoretisch. Dass er es nicht einmal für nötig hielt, mich davon in Kenntnis zu setzen, zeigte mir, dass es für ihn zwischen uns endgültig vorbei war. Was es für mich, verdammt noch mal, auch sein sollte! Sollte.

Ich verbrachte den Rest des Tages lümmelnd auf dem Sofa, schaute einen deprimierenden Film, in dem am Ende alle Hauptpersonen Selbstmord begingen oder ermordet wurden und überlegte gerade, ob ich Paul anrufen und ihm die Neuigkeit erzählen sollte, als es an der Tür klingelte.
Verwundert, denn ich erwartete keinen Besuch, stand ich auf. Es war bereits halb zehn, also auch reichlich spät für zufälliges Vorbeischauen. Langsam schlurfte ich zur Türe und öffnete sie zögernd. Ich musste schrecklich aussehen, meine Haare ein Durcheinander, meine Augen noch geschwollen, wenn auch sicherlich nicht mehr so verheult wie zuvor, nur in Boxershorts und einem ausgeleierten Pulli, auf dem unser altes Abimotto gedruckt war.
Als ich sah, wer vor der Tür stand, hätte ich sie am liebsten wieder zugeknallt- aber was er in der Hand hatte, hielt mich davon ab.
„Michi“ murmelte ich und versuchte erst gar nicht, meine mangelnde Begeisterung zu verbergen, dabei nahm ich ihm meine Tasche aus der Hand, die er mir entgegen streckte. „Vielen Dank“ fügte ich noch hinzu. „Hatte schon Angst, sie ist weg.“
Er lächelte schwach. „Gottseidank hast du mir noch deine Adresse gesagt- meinen Vater hätte ich ja kaum fragen können.“
Ich lächelte ebenso freudlos über den misslungenen Witz. „Wohl kaum.“
Er sah keineswegs besser aus, als ich mich fühlte. Seine Haare waren verwuschelt, als wäre er immer wieder mit den Fingern hindurch gefahren und er schien nicht zu wissen, wohin er seinen Blick richten sollte, denn immer, wenn er den meinen traf, senkte er rasch die Augen. Ich nahm es ihm nicht übel- sicher war es nicht einfach, normal mit einem Typen umzugehen, von dem man wusste, dass er mit dem eigenen Vater geschlafen hatte. Stellte ich mir die gleiche Situation mit mir in Michis Rolle vor, drehte sich mir der Magen um.
„Also…“ ich war nicht ganz sicher, was er von mir erwartete, er stand einfach nur da und starrte auf den Boden. Sollte ich ihn etwa hereinbitten? Die Vorstellung, wie wir beide dasaßen und schweigend eine Tasse Tee umklammert hielten, erschien mir nicht sehr einladend.
„Vielen Dank für die Tasche. Echt nett, dass du sie vorbeigebracht hast.“
Er sah auf einmal auf und schaute mir direkt in die Augen. Nun war sein Blick auf einmal ganz anders, fest auf mich gerichtet und keinesfalls unsicher. Irgendwie schien er im Bruchteil einer Sekunde einen Entschluss gefasst zu haben.
„Du hast gesagt, wenn ich reden will, soll ich vorbeikommen… und das tue ich hiermit. Hast du gerade Zeit? Wenn nicht, komme ich ein anderes Mal wieder.“
Erstaunt konnte ich nur den Kopf schütteln und ein wenig zur Seite treten. „Komm rein“ sagte ich. Er folgte meiner Einladung und trat an mir vorbei ins Wohnzimmer, wobei mir wieder auffiel, wie groß er war. In diesem Moment ging mir auch auf, was für eine Überwindung es ihn kosten musste, sich mit mir zu treffen und ich konnte nicht umhin, ihn dafür zu bewundern, dass er so viel Standhaftigkeit besaß, mich zu konfrontieren und die Dinge mit mir zu klären. Ich an seiner Stelle hätte dies wahrscheinlich nicht hinbekommen.
„Setz dich“ meinte ich und wies auf das Sofa, auf dem ich eben noch in Selbstmitleid zerflossen gelegen hatte. „Möchtest du was trinken?“
„Wenn du zufällig Bier da hast…“ entgegnete er, während er sich auf meiner Couch niederließ. „Sonst ist schon ok. Muss nicht unbedingt was trinken.“
„Habe ich sogar. Warte kurz.“
Ich ging in die Küche und holte zwei Bierflaschen sowie einen Flaschenöffner. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, ließ Michi gerade seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Ihn so zu sehen weckte schmerzliche Erinnerungen an seinen Vater, der schon so viele Male an der genau gleichen Stelle gesessen hatte. Und das erste Mal, so erinnerte ich mich, hatte er meine Einrichtung ebenso neugierig betrachtet. Obwohl sie auf mich so gänzlich verschieden wirkten, war da doch sicherlich eine Menge Robert in Michi.
Ich stellte eine der Bierflaschen vor ihm auf den Tisch, was ihn dazu veranlasste, seinen optischen Streifzug zu beenden und seine Aufmerksamkeit wieder mir zukommen zu lassen, der sich neben ihm niederließ und die beiden Flaschen öffnete.
„Hier“ sagte ich, als ich ihm eine der beiden reichte.
„Danke.“
„Also, worüber willst du reden?“
Ich hatte beschlossen, nicht lange um den heißen Brei herumzureden, das würde die Sache für uns beide nur unangenehmer machen und sie unnötig in die Länge ziehen. Fast bereute ich, ihm überhaupt dieses Angebot gemacht zu haben- aber er hatte so verzweifelt gewirkt und eigentlich hatte ich nicht im Ernst erwartet, er würde es annehmen.
Michi zögerte nicht lange, die Gegenfrage zu stellen, offenbar war er der gleichen Meinung.
„Hast du das… zwischen euch beendet… oder er?“
Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet und entsprechend perplex schaute ich wohl auch aus der Wäsche. Was spielte das denn für eine Rolle?
„Ich“ antwortete ich dann aber wahrheitsgemäß und ohne dass ich es verhindern konnte, zogen wieder die Bilder vor meinem inneren Auge vorbei- wie wir im Auto gesessen hatten, meine Tränen, die seinen… verdammt, das würde extrem schmerzhaft werden. Ich konnte nur hoffen, Michi würde nicht weiter bohren oder besonders explizite Fragen stellen. Denn ich spürte, egal, was er mich fragen würde, ich würde es beantworten. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich sei es ihm schuldig.
„Und warum?“
Meine Hoffnungen schienen sich nicht zu erfüllen. Ich seufzte.
„Ich hatte keine Kraft mehr für die ganze Heimlichtuerei. Wir konnten nie ein Paar sein, alles was wir hatten, waren ein paar wenige Stunden, die er sich aus seinem Leben abzwacken konnte… und ich habe die ganze Zeit auf ihn gewartet. Anders hätte es auch nicht funktioniert. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, ich gehe daran kaputt.“
Michi sah mich nachdenklich an, er schien meine Worte ernsthaft zu überdenken, während ich sprach.
„Ich habe es lange rausgezögert, aber irgendwann konnte ich nicht mehr. Und dann habe ich es ihm gesagt“ fuhr ich fort. „Ich weiß nicht, wie die Sache für dich aussieht, aber es ist ganz bestimmt nicht so, dass es für mich nur eine belanglose… Affäre war oder ein netter Spaß… oder der Kick, dass ich mir nen alten Sugardaddy angele oder so. Es war alles echt. Alles, was ich für ihn gefühlt habe, war echt. Ich weiß nicht, ob du das verstehst.“
Das alles verließ meinen Mund, ohne dass ich mir wirklich überlegte, was ich sagte. Als ich die Worte aussprach, schienen sie auf einmal gar keinen Sinn mehr zu machen, unzusammenhängend zu sein und nicht im Ansatz das auszudrücken, was ich eigentlich sagen wollte. Ich hoffte lediglich, ein wenig von dem, was mir wichtig war, würde bei Michi ankommen.
Als ich geendet hatte, nickte er langsam.
„Ich verstehe“ entgegnete er vorsichtig. „Ich will es verstehen. Deswegen bin ich überhaupt hier.“
Er atmete tief durch, dann fuhr er zögerlich fort: „Weißt du, als ich es rausgefunden habe, das mit euch… da war ich erst mal total durch den Wind, natürlich. Ich habe mich geschämt und geekelt und fand es widerwärtig, aber dann habe ich lange nachgedacht. Und dann, als wir uns damals in dem Club getroffen haben…“ er räusperte sich, offenbar war ihm die Erinnerung daran so unangenehm wie mir, „da habe ich bei mir gedacht, dass sicher mehr dahinter steckt als ich verstehen kann. Und dass ich es nicht einfach so abstempeln kann als belanglose niederträchtige Aktion von meinem Alten.“
Er grinste sarkastisch. Ich konnte nicht umhin, ihn immer mehr zu bewundern. Jeder andere Junge hätte nie diese Reife besessen, die er gerade an den Tag legte. Er wollte es verstehen- wer würde sich schon bemühen, so etwas zu verstehen? Wenn man die- eindeutig leichtere- Alternative hätte, es einfach zu verurteilen und seinen Vater sein Leben lang zu verachten?
Vielleicht war diese Alternative auch gar nicht so leicht.
Auf einmal ging mir auf, dass es womöglich Verzweiflung war, dieselbe, die ihn schon die ganze Zeit umtrieb. Der Wunsch, seinen Vater weiterhin lieben und verstehen zu können.
In diesem Moment hätte ich ihn gerne in den Arm genommen. Das schlechte Gewissen wallte wieder in mir auf- wie hatte ich mir jemals wünschen können, Robert für mich zu haben? Wie hatte ich jemals so anmaßend sein können, mir zu wünschen, er könne sich von seiner Familie trennen- mir zuliebe? Wenn er einen solchen Sohn hatte, der ihn so sehr brauchte?
„Ich kann dir leider nur sagen, wie es bei mir ausgesehen hat. Dabei, deinen Vater zu verstehen, kann ich dir leider nicht helfen- ich habe ihn selbst nie verstanden. Ich weiß bis heute nicht, warum er das mit mir zugelassen hat- aber ich weiß, dass ihr im sehr wichtig seid. Er wollte euch nicht verlassen und er hat mir von Anfang an gesagt, dass er das nie tun würde und dass ich immer nur an zweiter Stelle sein würde. Ich war ihm nie so wichtig wie ihr.“
Es tat nach wie vor weh, das zu sagen, aber es hatte etwas Selbstreinigendes. Obwohl ich mich nicht von dem befreien konnte, was mit Robert geschehen war, so konnte ich mich doch immerhin einer Art Läuterung unterziehen.
„Aber er hat dich auch nicht verlassen- sondern du ihn“ entgegnete Michi daraufhin nur kalt. Dieser schneidende Ton ließ mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen- dass er versuchte, es zu verstehen, bedeutete offenbar nicht zwangsläufig, dass er auch vergeben würde.
„Er hätte es wahrscheinlich getan, früher oder später. Lange hätte er es sicher auch nicht ausgehalten.“
„Er ist so eine feige Sau!“ heulte Michi auf und schenkte dabei meinen Worten keinerlei Beachtung. „Immer vertröstet er alle, immer sucht er den Mittelweg! Er kann nie einfach mal Nägel mit Köpfen machen! Weißt du, meine Ma… sie liebt ihn noch, er ist ihr wichtig, das weiß ich… aber sie verlässt ihn, weil er es einfach nicht hinkriegt, ihr mal zu sagen, dass es für ihn vorbei ist… weil sie es nicht mehr aushält, genau wie du. Weil er nicht die Eier hat, sein Leben mal aufzuräumen.“
Meine Kehle schnürte sich zusammen bei seinen Worten. Obwohl ich mir noch nicht bewusst Gedanken darüber gemacht hatte, wurde mir nun bewusst, wie es aussah- nicht Robert verließ seine Frau, sondern sie ihn. Und mir wurde auch klar, dass es nach wie vor für uns keine Zukunft gab- Robert würde sich nie zu mir bekennen, niemals würde er- wie Michi es ausdrückte- die Eier haben, zu einer Beziehung mit einem mehr als zwanzig Jahre jüngeren Mann zu stehen.
„Als ich dich kennengelernt habe“ fuhr Michi fort. „Da hatte ich nicht den Eindruck, dass du so etwas zum Spaß an der Freude machen würdest. Irgendwie habe ich ziemlich bald gemerkt, dass du mehr für ihn empfindest, irgendwie… hatte ich so ein Gefühl. Ich würde dich ja gerne hassen, aber irgendwie… ach“ seufzte er auf einmal auf und vergrub sein Gesicht in beiden Händen. „Irgendwie ist das alles so kompliziert.“
Er sprach nicht weiter nach dem und hob seinen Kopf auch nicht. Eine unangenehme Stille entstand und ich sah mich nervös im Zimmer um. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis, ihm irgendetwas Tröstendes zu sagen- doch was konnte ich schon sagen?- oder ihm die Hand auf den Rücken zu legen, ihn zu beschwichtigen- aber würde ihn das nicht anwidern?
Ich tat es dennoch, irgendwie schienen sich meine Bewegungen zu verselbstständigen.
„Es tut mir leid, dass mit ihm…“ flüsterte ich. „Ich wusste von euch, aber ich habe es ignoriert… ich habe gedacht, dass es keine Rolle spielt… und natürlich habe ich davon geträumt, dass er euch irgendwann verlässt. Das war ziemlich egoistisch und dumm… Aber ihr wart so weit weg und dass ich mich schlecht deswegen gefühlt habe… das hat an dem Tag angefangen, als du uns in der Wohnung überrascht hast. Als du ein Gesicht hattest für mich. Weißt du, was ich meine?“
Michi hob nun langsam den Kopf, sah auf meine Hand, dann in mein Gesicht. Ich nahm die Hand von seiner Schulter und sah beinahe verlegen weg.
„Ist schon ok“ kam es von ihm, seine Stimme wirkte nun beinahe gleichgültig. „Dir gebe ich ja gar keine Schuld. Er ist es, der Mist gebaut hat… klar haben wir alle auch Schuld dran, meine Ma ist sicher nicht einfach und ich mache auch viel Müll und du… ach, keine Ahnung. Aber er ist der, der die Fäden hält, verstehst du, er macht, dass alles so beschissen läuft und bringt uns in unangenehme Situationen und am Ende fühlen wir uns alle schlecht. Du und ich und der Rest meiner Familie. Aber eigentlich hat er es in die Wege geleitet.“
Ich schwieg. Am liebsten hätte ich ihm zugestimmt, es wäre so praktisch, wenn alles so einfach wäre. Aber es war zu simpel, einfach nur Robert an allem die Schuld zu geben, denn er hatte, so spürte ich, auch keine größere Schuld zu tragen als wir Anderen. Wir waren alle in eine Mühle hineingekommen, die sich ohne Unterlass drehte und bevor wir es realisiert hatten, waren wir schon ohne Rettung darin stecken geblieben.
„Er hat ziemlichen Scheiß gebaut, mit mir, das stimmt, aber glaub mir, er hat sehr darunter gelitten. Bestimmt so viel wie ich. Er…“
„Verdammt, warum verteidigst du ihn eigentlich die ganze Zeit? Er hat dir doch auch weh getan.“
Michi sah mich nun direkt an, fast trotzig. Und in diesem Moment begriff ich, was er hier suchte, warum er hergekommen war, ob es ihm bewusst war oder nicht- er wollte einen Komplizen, einen Leidensgenossen. Jemanden, der ebenso von seinem Vater verletzt worden war wie er, mit dem er sich gemeinsam die Wunden lecken konnte, die ihm zugefügt worden waren. Mir wurde klar, wie wenig ich über diese Familie wusste und was dort geschehen war. Ich war nur eine Randfigur, immer gewesen. Mit der Scheidung hatte ich nichts zu tun, womöglich noch nicht einmal mit Roberts Fremdgehen- vielleicht war unsere Affäre nur ein Symptom ihrer kaputten Ehe gewesen, eine Möglichkeit für ihn, seinem Drang nach Veränderung eine Form zu geben. Diese Erkenntnis schnitt mir wie ein Messer ins Herz.
„Er hat mir wehgetan“ bestätigte ich. „Aber trotzdem glaube ich nicht, dass er alles mit Absicht und aus Böswilligkeit getan hat…“
„Das behaupte ich doch auch gar nicht!“ rief Michi, nun wieder aufgebracht. „Er hat es getan weil er ein dämlicher Egoist ist, der nur an sich selbst denkt! Passt ihm seine Familie nicht- schwupps sucht er sich einen jüngeren Lover und taucht ein wenig ab aus dem ganzen stressigen Alltag. So lief das ab. Und dann ist er zu feige, irgendwas davon zu beenden.“
„Aber nun hat er doch seine Strafe, deiner Meinung nach“ sagte ich leise und hielt seinen Blick dabei fest. „Er hat jetzt uns alle verloren.“
Michi öffnete kurz den Mund, als wolle er etwas sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen. Er schwieg, sah mich nur an und schien zu überlegen. Seine Stirn runzelte sich angespannt und er biss ein wenig auf seiner Lippe herum.
„Es geht mir doch nicht um Strafe“ sagte er schließlich. „Das nützt niemandem etwas. Es geht um das, was wir nun alle durchmachen. Dass er jetzt ebenso leidet, das… das ist völlig belanglos. Es geht um das, was geschehen ist.“
„Aber das kannst du ohnehin nicht mehr rückgängig machen“ unterbrach ich ihn, nun ein wenig ungehalten. Sein Selbstmitleid fing mir nun doch an, mir etwas auf die Nerven zu gehen, schlechtes Gewissen hin oder her. „Du kannst dich jetzt unendlich darüber aufregen oder einfach akzeptieren, was passiert ist. Und vielleicht sogar versuchen, es zu verstehen, wie du es vorhin so wunderschön angekündigt hast.“
„Einfach akzeptieren“ lachte er. „Das lässt sich wunderbar einfach akzeptieren. Dass dein Vater auf einmal schwul ist und einen Typen fickt, der sein Sohn sein könnte. Und verstehen auch- ist doch sonnenklar alles!“
Er stellte sein Bier mit einem Knall auf den Tisch, so dass ich vor Schreck zusammenzuckte. Das Alte, das Aggressive, das er bei unserem Treffen in dem Club damals an sich gehabt hatte, schien zurückgekehrt.
Ich wollte etwas erwidern, ihn beschwichtigen, als er auf einmal etwas sagte, was mich komplett aus der Bahn warf.
„Ok, dann hilf mir, es zu verstehen. Schlaf mit mir. Wie mit ihm. Zeig mir, was er an dir gefunden hat. Vielleicht verstehe ich es dann.“
Mein erster Impuls war, zu lachen- das konnte doch wohl nur ein Scherz sein, oder?- doch dann traf mein Blick den seinen, der todernst war. Das Lachen blieb mir im Halse stecken und verwandelte sich in einen Kloß.
„Was?“ krächzte ich. „Spinnst du?“
„Wieso denn“ entgegneter er trügerisch ruhig und sah mich immer noch fest an. „Wäre ja nicht das erste Mal, dass du eine absurde Liaison eingehst. Oder bin ich dir zu jung?“
Ich fühlte Wut in mir aufwallen und ich sprang aufgebracht auf, um mich davon abzuhalten, ihm geradewegs eine zu scheuern.
„Ich lasse mich nicht von dir beleidigen“ zischte ich zurück. „Du wolltest reden, aber ich lasse mich nicht noch einmal von dir als Hure beschimpfen- nicht direkt und auch nicht indirekt!“
Er stand auf und kam mir gefährlich nahe, was aufgrund seiner Körpergröße sehr bedrohlich wirkte. Ich trat erschrocken einen Schritt zurück.
„Ist es bei mir denn so viel anders als bei ihm?“ flüsterte er, doch ich vernahm es überdeutlich. Ich bin doch schließlich sein Sohn.“ Er kam wieder näher und ich hielt die Luft an. „Ich habe mich schon immer gefragt, wie viel von ihm in mir steckt. Zeig es mir.“
Sein Tonfall war nun weniger bedrohlich, es lag wieder diese Verzweiflung und Traurigkeit darin, die mich ebenfalls ganz traurig stimmte. Ich war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihn zu trösten, wie so oft, ihn in den Arm zu nehmen, und einer in mir aufkeimenden Angst, von der ich nicht wusste, wie ernst ich sie nehmen sollte. Körperlich war er mir eindeutig überlegen, er war um einiges größer und auf kräftiger als ich. Wenn er sich nun entschließen würde, sich das, was er wollte, mit Gewalt zu nehmen, dann würde ich nicht viel dagegen tun können. Außer vielleicht, ihn hinterher anzuzeigen.
„Michi“ begann ich und versuchte, so viel Festigkeit wie möglich in meine Stimme zu legen. „Weißt du eigentlich, was du da gerade von dir gibst? Was ist denn mit dir los? Hör mal zu, du bist traurig und gekränkt von dem, was dein Vater getan hat, aber das ist doch völliger Blödsinn. Was soll es helfen, wenn ich jetzt auch noch mit dir schlafe? Glaubst du, das würde irgendetwas lösen? Oder irgendetwas ändern? Es würde alles nur noch komplizierter machen.“
Ich verfluchte mich, noch während ich diese Worte aussprach, dafür, dass es einen Augenblick in meiner Vorstellung aufblitzte, wie es wäre, tatsächlich mit Michi Sex zu haben. Auch, wenn es völlig absurd war. Schließlich sah er nicht schlecht aus- groß, muskulös- offensichtlich ein Sportler- wuscheliges Haar, das sich sicher seidig anfühlte, wenn man mit der Hand durch es hindurch strich. Bestimmte, entschlossene Augen. Sicherlich wäre mir dies unter anderen Umständen auch schon früher aufgefallen. Doch ich war so beschäftigt damit gewesen, ihn als Roberts Sohn zu sehen, dass mir seine, nun offensichtliche, Attraktivität ganz abhanden gekommen war.
Dennoch, selbst so konnte ich dies natürlich unter keinen Umständen in Erwägung ziehen.
Aber es sorgte dafür, dass mein Herz wie wild zu klopfen begann und ich keineswegs so ruhig und vernünftig war, wie ich versuchte zu wirken, als sich seine Hand an meine Wange legte.
„Es würde mir helfen, es zu verstehen“ murmelte er und seine Augen hielten die meinen fest gefangen. Ich schluckte, versuchte irgendetwas klar zu formulieren, aber da war wieder dieser Kloß in meinem Hals. Verdammt, was war denn hier los? Und warum tat Michi das? Die einzige Erklärung für mich war, dass bei ihm vollkommen die Sicherungen durchgebrannt waren. Er konnte nicht mehr klar denken, soviel war sicher. Und nun war es an mir, ihn wieder dazu zu bringen.
Dumm nur, dass ich selbst gerade nicht sonderlich klar denken konnte.
Irgendetwas an seiner fordernden, leicht bedrohlichen Art nahm mich völlig gefangen und brachte mich außer Fassung. Seine Haut war warm an meiner und sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt.
Trotzdem schaffte ich es, meine beiden Hände auf seine Brust zu legen und ihn bestimmt von mir zu schieben- oder es zumindest zu versuchen. Denn sein großer Körper bewegte sich keinen Millimeter.
„Nun komm. Was willst du daran denn verstehen? Es muss ja nicht sein, dass dein Vater und du die gleichen Gefühle teilt. Du bist doch sicher nicht schwul und hast auch sonst kein Ding für Männer, wahrscheinlich würde es dir gar nicht gefallen und es würde überhaupt nicht dazu beitragen, alles zu verstehen. Jeder Mensch ist anders, jeder handelt aus eigenen Beweggründen…“
„Ich finde, du bist attraktiv“ erklärte er schlicht. „Das habe ich schon am Anfang gedacht. Ich wäre zwar nicht auf die Idee gekommen, es mit einem Mann zu tun, aber… nun, da ich darüber nachdenke…“
Es wäre völliger Irrsinn. Es wäre völlig bescheuert, wahnsinnig, abartig, widersinnig. Er war der Sohn des Mannes, den ich geliebt hatte und von dem ich mir nicht sicher war, ob ich ihn noch immer liebte.
„Jeder Mensch ist anders“ fuhr er fort, seine Stimme nun wieder tiefer, bedrohlicher. „Aber Blut ist dicker als Wasser, das weiß man doch. Vererbungslehre, sagt dir das was? Ich will wissen, wie viel von meinem Vater in mir ist. Lass mich es ausprobieren.“

Himmel.
Ja, ich hätte ihn vehementer wegdrücken können, mich wehren können, eindeutig. Meine Hände, die immer noch auf seiner Brust lagen, in Aktion bringen können, ihn mit mehr Kraftaufwand wegschieben, als er seine Lippen gierig auf die meinen legte.
Es fühlte sich nicht schlecht an, aber es tat weh, tief in meinem Inneren. Und es machte mir Angst. Ich ertrank in einem Strudel aus Angst, Selbstverachtung, Schmerz und schlechtem Gewissen, als ich seine warmen und weichen Lippen spürte, die sich aber unbeherrscht und ohne Rücksicht das nahmen, was sie wollten. Er küsste mich forsch, mit wenig Gefühl, seine Lippen fordernd auf den meinen, dann drang seine Zunge ungestüm in meinen Mund ein. Ich ließ es zu, ließ zu, dass mich der Strudel ertränkte. Und dabei wurde mir bewusst, dass ich eigentlich genau das gewollt hatte. Es war pure Selbstkasteiung, ich wollte, dass er mich benutzte, mich bestrafte, seiner Wut auf mich freien Lauf ließ. Ich wollte bestraft werden, wollte endlich das loswerden, was mich seit Wochen nicht losließ. Ich wollte Läuterung.
Ich küsste kaum zurück, ich war völlig paralysiert. Michi umschlang mich mit seinen Armen und zog mich an sich, aber diese Geste hatte nichts Zärtliches, sie machte mir Angst und ich fühlte mich wie in einem Gefängnis.
Ich ließ alles zu, ließ ihn mich zum Bett ziehen, mir langsam unter verlangenden Küssen die Kleider vom Leib streifen und mich dann aufs Bett stoßen. Er selbst entkleidete sich schnell, beinahe hastig, hielt sich nicht mit unnötigen Belanglosigkeiten auf. Ich musste nichts tun, ich hätte auch gar nicht die Kraft und Entschlossenheit dazu gehabt. Stattdessen ließ ich ihn machen, mich wie einen Spielball hin- und herstoßen.
Dann spürte ich seine Hände grob auf meiner Haut, ungeduldig, seine Lippen, die sich heiß an meinem Hals festsaugten. Das perverse, masochistische Tier in mir spielte verrückt, ich gab mich ihm hin, gab ihm alles und genoss den unbändigen Schmerz, der mich dabei von innen auffraß.
Das hast du verdient, sagte ich mir selbst. Halte es aus, du hast es so gewollt.
Michi drehte mich auf den Bauch und ich seufzte erregt und schmerzerfüllt zugleich, als er unvorbereitet in mich eindrang, langsam, aber ohne innezuhalten. Trotz allem war ich heiß, mein ganzer Körper brannte, meine Haut war von Schweiß ganz feucht und ich krallte meine Hände in die Bettdecke.
Süßer Schmerz, verzweifelter, süßer, maßloser Schmerz.
Ein Stöhnen entkam ihm und wieder fanden seinen Lippen meinen Hals, diesmal von hinten, ich fühlte seine Zähne in meinem Nacken.
„Und jetzt?“ rief ich beinahe verzweifelt. „Ist es das, was du wolltest? Verstehst du es jetzt?“
Er stieß in mich, während sich die Finger seiner einen Hand in meinem Haar vergruben und er meinen Kopf kaum merklich zurückzog, diesmal nicht grob, sondern sanft.
„Sei still“ keuchte er und ich spürte seinen harten Schwanz zustoßen. Ich konnte ein Stöhnen nicht zurückhalten, es überkam mich, mein niederträchtiger Körper genoss es, meine Psyche litt, lag am Boden, wurde zertrampelt. Aber ich wollte es ja so.
Und so stürzten wir in den Strudel, in dem es kein Vorne und Hinten, kein Oben und Unten mehr gab. Alles was es gab, war unser Stöhnen, unsere sich gegeneinander bewegenden Körper, unsere verdorbene Lust, unser Kummer.
Jeder Stoß brachte mich dem Delirium näher, ließ mich taumeln. Michis schwerer Körper war über mir, presste sich immer wieder glühend an mich. Ich hätte ihn gerne gesehen, vor allem sein Gesicht, aber alles was ich von ihm mitbekam war sein Keuchen, seine schwitzigen Finger, die sich irgendwann mit den meinen verflochten.
Und dann brach ich, ich stürzte. Meinen Mund verließ ein atemloser Schrei, ich verkrampfte mich, alles in mir schien sich aufzulösen. Ich presste meine Augen zusammen, als ich erbebte und glaubte, zu vergehen.
Und während ich noch nach Luft schnappte, spürte ich den großen, warmen Körper über mir ebenfalls erschauern und dann das schwere Gewicht auf meinem, der bereits zusammengebrochen war.
Ich war gekommen wie selten zuvor, aber es fühlte sich nicht wie eine Erlösung an.

„Ich glaube, du gehst jetzt besser.“
Meine Worte hörten sich dumpf an, als hätte sie jemand von weit weg her gesprochen. Mein Körper schmerzte und nun, da ich einen Moment gehabt hatte, mich zu fassen, begannen unerbittlich die Gedanken durch meinen Kopf zu rasen.
Was war nur in mich gefahren? Wie hatte ich das je zulassen können?
Michi sank neben mir aufs Bett, immer noch schwer atmend, und glitt dabei aus mir heraus. Ich hatte mich noch nie so dreckig und benutzt gefühlt wie in diesem Moment- ich ekelte mich vor mir selbst. Ich hasste mich.
Eine dreckige, kleine Hure, Michi hatte schon recht gehabt, als er mich damals beschimpft hatte. Ich hatte mit einem zwanzig Jahre älteren Mann geschlafen und nun auch noch mit seinem Sohn- was, verdammt noch mal, war da los?
Entgegen meiner Aufforderung machte Michi aber keinerlei Anstalten, dieser nachzukommen. Er sah mich nur eindringlich an, seine Brust hob und senkte sich schnell. In seinen Augen spiegelte sich die gleiche Verwirrung wieder, die ich verspürte.
„Scheiße“ flüsterte er nach scheinbar endlosen Sekunden, in denen wir uns nur angesehen hatten. „Ich kann doch jetzt nicht gehen. Wenn ich jetzt gehe, dann… dann komme ich gar nicht mehr klar.“
Ich wusste sofort, was er meinte- auch in mir kam das Gefühl auf, dass ich, wenn er nun einfach verschwinden würde, in heillose Verwirrung stürzen würde. Ob es helfen würde, wenn er blieb, das wusste ich allerdings auch nicht.
„Und wenn du bleibst“ entgegnete ich und schlug die Augen nieder, ich konnte ihn nicht mehr ansehen. „Was machen wir dann? Trinken gemütlich Tee und schauen Soaps? Michi, wir haben gerade etwas unglaublich Dummes getan-“
„Genau!“ rief er. „Wir können doch jetzt nicht so tun, als sei nichts passiert! Lass und wenigstens drüber reden…“
„Ich glaube, wir haben schon genug geredet“ unterbrach ich ihn unwirsch und stand vom Bett auf, um seine Sachen zusammenzusuchen. „Und jetzt zupf dieses Ding da von deinem Pimmel und verschwinde!“ Dabei deutete ich auf das benutzte Kondom, das er immer noch trug. Ich fühlte mich auf einmal wütend, ob auf ihn, auf mich, oder auf uns beide, das wusste ich nicht. Michi sah mich ausdruckslos an, als ich ihm seine Klamotten zuwarf, mich in mein durch den Vorhang abgetrenntes Wohnzimmer begab und mich aufs Sofa warf. Es gab Situationen, in denen ich mir wünschte, Raucher zu sein, denn es kam mir albern vor, untätig dazusitzen und zu warten, bis mein ungebetener Gast sich angezogen hatte und neben mir in den Raum getreten war.
„Also dann…“ murmelte er und sah seltsam verloren aus, wie er dastand, dieser riesige Kerl, der mich eben noch um den Verstand gevögelt hatte.
Ich wusste, ich hätte ihn am besten ohne weitere Kommentare einfach nur ziehen lassen, aber eine Frage lag mich doch noch drängend auf der Zunge.
„Und jetzt? Hattest du deine Erleuchtung? Verstehst du jetzt alles?“
Meine Worte klangen spöttischer als beabsichtigt, aber er antwortete mir völlig ernst.
„Ich verstehe ganz und gar nichts alles- vielleicht noch weniger als vorher. Aber ich verstehe, warum mein Vater so fasziniert von dir war.“
Damit war er auch schon verschwunden, die Wohnungstür knallte dumpf hinter ihm zu und er ließ mich sprachlos zurück.

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