Originalgeschichte.
Zusammenfassung: Jo glaubt seinen Traummann gefunden zu haben: gutaussehend, reich und gut im Bett. Und er scheint seine Gefühle zu erwidern. Einziges Problem: Robert ist gut zwanzig Jahre älter als er, hat eine Frau und zwei Kinder...
Warnungen: Yaoi, M/M, 18+
Obwohl ich so müde gewesen war, schlief ich nicht gut. Ich hatte wirre Träume, in denen Michi immer wieder auftauchte und die mich aus dem Schlaf rissen, um dann festzustellen, dass er tatsächlich neben mir lag. Auch er schien unruhig zu schlafen, er drehte sich öfter hin und her und stand einmal auf, um aufs Klo zu gehen.
Es war gerade mal acht, als ich aufwachte und ich spürte sofort, dass ich keinen anständigen Schlaf mehr bekommen würde. Michi lag noch leise schnarchend da, und ich stellte fest, dass er in diesem Zustand seinem Vater überhaupt nicht ähnelte. Robert hatte ich morgens beim Aufwachen das Alter immer angesehen, Michi sah aus wie die Unschuld selbst, sein entspanntes, faltenloses Gesicht umrahmt von seinen wirren Locken, die Decke fest um sich gewickelt. Er hatte sie mehrere Male in der Nacht geklaut und es war schwierig gewesen, sie wieder zurückzuerobern, ohne dabei unsere Körper allzu nahe zusammen zu bringen.
Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, kroch ich aus dem Bett und zog mir einen Wollpulli über, da es, wie ich Michi angekündigt hatte, ziemlich kühl war.
In der Küche wollte ich gerade Kaffee machen, meine allmorgendliche Routine bisher, als mein Blick auf die Kakaopackung fiel, die noch auf der Ablage neben dem Herd stand. Warum eigentlich nicht?
Ich fischte Brot, Marmelade und Nutella aus dem Schrank, während ich Milch erhitzte. Wenn ich schon einmal Gelegenheit dazu hatte, dieses Zeug aufzubrauchen, dann sollte ich dies auch nutzen. Noch während ich das Frühstück zubereitete, hörte ich an der Klospülung, dass Michi aufgestanden war. Kurze Zeit später stand er in der Küche.
Er bot einen herzerwärmenden Anblick. Seine Augen wanderten etwas verwirrt und vom Schlaf noch etwas geschwollen durch den Raum, als müsste er sich erst orientieren, die ungekämmten Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab.
„Morgen“ brummte er und rieb sich ein wenig die Schläfen.
„Hey“ begrüßte ich ihn lächelnd. „Ich hoffe, du hast nichts gegen eine weitere Runde Kakao?“
Er lächelte zurück. „Überhaupt nicht. Ich bin sowieso nicht so der Fan von Tee und Kaffee.“
„Ok. Ich hab leider nur langweiliges Brot da, ich war nicht wirklich vorbereitet auf Übernachtungsgäste. Könnte höchstens noch ein paar Eier braten, wenn du magst.“
„Nee, keine Umstände“ erwiderte er und ließ sich auf einem Küchenstuhl nieder. „Sorry, dass ich dich gestern so überfallen habe. Ich bin auch bald wieder weg.“
„Kein Stress“ winkte ich ab. „Lass uns erst mal in Ruhe frühstücken. Ich mag keine Hektik morgens und du, wie’s aussieht, auch nicht.“
Er schien die Anspielung zu verstehen und grinste. „Sorry, ich hab irgendwie nicht so gut geschlafen.“
Ich musste lachen. „Keine Sorge, versteh ich voll und ganz. Lass uns einfach frühstücken.“
Wir aßen Brötchen und unterhielten uns übers Wetter. Ich fragte mich, warum mir Kakao mit Michi so gut schmeckte. Irgendwie hatte es mit dem Gefühl zu tun, das er in mir auslöste, das gut zu Kakao passte. Auch, wenn ich es nicht wirklich zugeben wollte- ich fühlte mich wohl mit ihm. Trotz dem, was geschehen war. Irgendwie schien es nicht zwischen uns zu stehen und ich konnte es fast gänzlich verdrängen. Nur manchmal blitzten Bilder in mir hoch, Bilder und Gefühle. Aber ich unterdrückte sie, sobald sie die Überhand zu bekommen drohten.
„Und was hast du heute so vor?“ fragte Michi mich schließlich.
Ich zuckte mit den Achseln und trank den letzten Schluck Kakao.
„Ich weiß nicht wirklich. Nichts Wesentliches. Ich sollte natürlich lernen und allerlei Zeug für die Uni machen, was ich im Endeffekt bis heute Abend herauszögern werde, im besten Fall bis morgen.“
Michi lachte. „Prokrastination vom Feinsten, wie?“
„Das kannst du laut sagen. Ich bin der Meister. Und was hast du Schönes vor?“
Michi seufzte leise und schluckte das Brot herunter, auf dem er gerade gekaut hatte.
„Ich wollte meine Oma besuchen.“
„Deine Oma? Wow.“
Ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern, als ich bei meiner Oma gewesen war. Die eine war ohnehin tot, die andere ächtete mich, seit sie von meiner sexuellen Orientierung erfahren hatte. Gottseidank hatte meine Mutter noch einen Bruder, dessen Sohn sie als nicht missratenen Enkel nun voller Hingabe betütteln konnte.
„Sie hatte gestern Geburtstag. Eigentlich wollte ich hin aber… ich hatte keinen Bock auf das scheinheilige Getue. Meine Mutter und mein Vater haben ihr noch nichts von der Trennung gesagt und ich finde das absolut blödsinnig. Und dazusitzen und so zu tun, als wäre nichts…“
„Nun ja“ unterbrach ich ihn. „Wenn du heute hingehst musst du ihr erklären warum du gestern nicht da warst und trotzdem alles totschweigen und sie anlügen.“
„Immerhin muss ich nicht dabei zusehen, wie sie nebeneinander Kuchen essen und so tun, als ob sie in Harmonie und Frieden leben.“
Michi seufzte noch einmal. „Glaub mir, ich freue mich nicht auf den Besuch, aber ich muss hin. Meine Oma ist der einzige Mensch in meiner Familie, zu dem ich noch eine gesunde Beziehung habe.“
Ich nickte anerkennend. „Das solltest du tun, ja.“
Michi schwieg einen Moment und sah auf seinen mittlerweile leeren Teller.
„Sag mal, Jo…“ er sah auf. „Wie wäre es denn, wenn du mitkommst?“
„Was?“ Ich sah ihn stirnrunzelnd an. „Wieso denn das?“
„Ach keine Ahnung. Wie du gesagt hast, ich müsste ihr sonst alles erklären und so… ich glaube, wenn du dabei wärst, würde sie mich nicht so sehr über die Familie ausfragen. Sie ist eine intelligente und sehr feinfühlige Frau, weißt du… irgendwie habe ich Angst, dass sie etwas gemerkt hat und mich danach fragt. Ich meine, was sage ich dann? Ich kann ihr nicht ins Gesicht lügen.“
„Und deswegen willst du mich mitschleppen als Ablenkungsmanöver? Intelligenter Schachzug, Michi. Ich bin die ideale Person dafür. Vielleicht hat deine Oma als einfühlsame Frau ja auch so ein Gefühl was mich angeht…“
„Ach Jo, so etwas Absurdes würde selbst meine Oma nicht vermuten.“ Michi lächelte ein wenig spitzbübisch. „Und keine Sorge, es ist die Mutter meiner Mutter und nicht die meines Vaters. Falls du moralische Bedenken hast.“
Ich funkelte ihn wütend an. „Deine Überzeugungskünste lassen zu wünschen übrig.“
„Bitte.“ Michi wurde auf einmal ernst und sah mich eindringlich an. „Es würde mich freuen. Aber wenn du absolut nicht willst… es liegt bei dir.“
Ich dachte einen Augenblick darüber nach. Und ich hatte geglaubt, das Ganze könne nicht noch absurder werden. Michi und ich bei seiner Oma. Ich mit Roberts Sohn bei seiner Schwiegermutter. Aber schließlich hatte ich schon mit seinem Sohn geschlafen und ihn bei mir übernachten lassen.
Zudem hatte ich einen freien Tag und keine Lust, alleine zu sein und damit Zeit zum Nachdenken zu haben.
„Wann willst du gehen?“
Michis Gesicht begann zu strahlen und die kleinen Grübchen erschienen wieder in seinen Wangen.
„Heute am frühen Nachmittag… aber ich wollte vorher noch in die Stadt und ihr ein Geschenk kaufen.“
„Also gut. Wenn du mir vorher noch Zeit für eine schöne, lange Dusche lässt, bin ich dabei.“
Michi war wirklich ein guter Enkel, stellte ich fest, als wir zusammen durch die Stadt schlenderten. Liebevoll stellte er ein Geschenk für seine Großmutter zusammen, suchte mit großer Sorgfalt ihre Lieblingsblumen aus, über die er genau Bescheid wusste. Dann fand er im Buchladen einen Bildband über Asien, den er ohne zu Zögern zur Kasse trug.
„Sie ist früher viel gereist“ erklärte er. „Irgendwie hat sie überall Freunde und sie kann vier Sprachen. Nun wird sie aber langsam alt und macht nichts mehr außer Europa. Dafür kaufe ich ihr jetzt eben Bildbände. Die liebt sie.“
Wir reihten uns in die Schlange an der Kasse ein, in der noch zwei Leute vor uns standen.
„Das ist schade“ sagte ich aufrichtig.
„Ja“ meinte Michi nickend. „Aber sie hadert nicht damit oder so. Sie ist froh, dass sie überhaupt noch kleine Reisen machen kann.“
„Ist deine Mutter auch so?“
„Wie? Dass sie gerne reist?“ Michi schüttelte den Kopf. „In dem Sinne kommt sie gar nicht nach ihr. Ich vielleicht noch eher… ich mag reisen, aber mir fehlt ihr Mut. Sie hat so Zeug gemacht… 1960 ist sie alleine nach Indien gereist um irgendeinen Inder zu besuchen, den sie mal im Zug kennengelernt hat. Sie haben sich angefreundet und der Inder hat sie dann zu seiner Hochzeit eingeladen.“
Ich musste lachen. „Wow. Langsam freue ich mich wirklich, deine Oma kennenzulernen. Zumindest werden wir nicht dasitzen und uns die Urlaubsfotos von ihrer letzten Rheinschifffahrt anschauen.“
Michi grinste. „Keine Sorge, sie zwingt niemand, Bilder anzugucken.“
Wir waren an der Reihe und zahlten.
„Weiß deine Oma eigentlich, dass du heute kommst?“ fragte ich, als wir in die kühle Luft hinaustraten.
„Nein… aber das sollte kein Problem sein. Sie ist ziemlich flexibel und ich erwarte keinen Kuchen.“
Ich sah auf die Uhr. Es war beinahe halb eins und die unruhige Nacht machte sich bemerkbar- ich wurde zunehmend erschöpfter.
„Lass uns mal was essen- und dann machen wir uns auf den Weg, was hältst du davon?“
Ich nickte zustimmend.
Es war ausnahmsweise mal gutes Wetter, die Sonne stand am Himmel und wärmte meine Haut trotz der kalten Luft angenehm. Man merkte, dass der Winter im Anmarsch war, aber noch war es einigermaßen mild draußen. Irgendwie flatterte etwas in meinem Bauch als ich mir die Situation bewusst machte. Michi und ich waren zusammen einkaufen gewesen, nun würden wir zusammen essen und dann einen Verwandtenbesuch machen. Auf eine komische Weise fühlte es sich gut an, fast wie… ein Paar.
Mir wurde bewusst, dass ich so etwas als noch nie gemacht hatte- mich wie ein Paar zu verhalten. Mit Robert war dies natürlich nie möglich gewesen und davor hatte ich nur wenig ernsthafte Geschichten gehabt. Natürlich war ich mit Paul und anderen Freunden unterwegs gewesen- aber irgendwie schien dies bei Michi einen anderen Beigeschmack zu haben. Ich konnte es mir kaum eingestehen, aber irgendwie gefiel es mir. Es hatte etwas Leichtes, Unbeschwertes und einen Augenblick lang stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn wir wirklich zusammen wären. Wir hätten die Nacht zusammen verbracht und nun würden wir- als Paar- zusammen durch die Stadt schlendern.
„Wo willst du denn hin?“ riss Michi mich aus meinen Gedanken und auf einmal erschrak ich über das, was mir eben durch den Kopf gehuscht war.
„Ähm… keine Ahnung. Hast du ne Idee?“ murmelte ich etwas verwirrt.
„Ich habe irgendwie Lust auf Pizza.“
„Pizza… italienische?“
„Hm, ne Pizza im Dönerladen tut’s auch. Außer du legst Wert auf Prestige.“ Michi grinste schelmisch.
„Ich bin zwar schwul aber deswegen mag ich trotzdem Dönerläden-Pizza.“
„He, so hab ich das nicht gemeint.“
„Ich weiß.“
Ich stupste Michi scherzhaft in die Seite. „Lass uns essen gehen.“
Nach der Pizza machten wir uns endlich auf den Weg zu Michis Oma. Sie wohnte ein wenig fernab vom Zentrum, aber noch alleine, das hieß kein Altenheim, kein betreutes Wohnen oder Rentnersiedlungen. Michi erklärte mir, dass sie das Haus von ihren Eltern geerbt hatte und sie es trotz mehrerer Angebote nie verkaufen würde, da es ihr Ein und Alles war.
„Sie will es meiner Mutter vererben aber ich kann dir flüstern dass die es sofort raushaut sobald sie die Gelegenheit dazu hat“ seufzte Michi, als wir im Bus dorthin saßen, der langsam den Berg hinauf kroch. „Was will sie denn mit so einem Haus… das ist ihr doch zu viel Stress. Vor allem mit dem Garten.“
Der Garten war in der Tat riesig und auch das Erste, was mir auffiel. Sobald wir von der Straße durch ein eisernes Tor getreten waren, erstreckte er sich wie ein Urwald vor uns.
„Sie lässt ihn mehr oder weniger frei wachsen, schneidet nur hier und da ein bisschen rum und pflanzt ein paar Büsche oder Blumen“ erläuterte Michi, während wir über den Kiesweg auf die Haustür zuliefen. „Mama regt sich jedes Mal furchtbar darüber auf, sie meint, Oma sollte doch was mit ihrem Rentnerleben anfangen und ein bisschen gärtnern, wenn sie doch schon ,so einen schönen Garten hat‘… Irgendwie scheint es ihre vollkommene Phantasie zu sein, dass Oma ein paar Zucchini und Mangold anpflanzt und uns jeden Monat mit selbstgemachter Marmelade überschüttet.“
Ich musste lachen. „Meine Oma ist genauso. Und meine Mutter stöhnt ständig über die Erdbeermarmelade, die keiner mehr isst, seit ich nicht mehr daheim wohne.“
Michi grinste. Wir waren mittlerweile an der Eingangstür angelangt und er drückte den Klingelknopf.
Es folgte eine ein wenig angespannte Stille, bis wir Schritte im Gang hörten und kurz darauf die Haustüre aufflog.
Michis Oma war klein, winzig wäre wohl eher das passende Wort gewesen. Neben Michi, der ja beinahe zwei Meter maß, sah dies nahezu grotesk aus, vor allem, als sie sich ihm in die Arme warf und er sich fast hinknien musste, um halbwegs auf ihrer Höhe zu sein. Dennoch schien in ihrem alten Körper noch einiges an Kraft zu stecken, sie erinnerte mich kein bisschen an meine eigene Großmutter, die tattrig und fragil durch die Gegend schlurfte und einem Kaffee und Kuchen auftischte. Michis Oma stand voll aufgerichtet da und schüttelte mir kräftig die Hand.
„Schneider mein Name“ stellte sie sich vor, noch ehe Michi Gelegenheit dazu hatte.
„Freut mich“ sagte ich lächelnd. „Ich bin Johannes.“
„Johannes ist ein guter Freund von mir“ ergänzte Michi breit grinsend.
„Schön, dass du mal jemand mitbringst“ meinte Frau Schneider, während sie uns ins Haus wies. Ihr freundliches Gesicht, das von etwas wirren Locken umrahmt wurde, strahlte vor aufrichtiger Freude. Mir fiel auf, dass sie gar nicht wirkte, als kämen wir unerwartet- sie nahm uns mit Selbstverständlichkeit auf, obwohl Michi ihr ja nicht Bescheid gesagt hatte. Sie nahm mit größter Begeisterung die Blumen entgegen, die wir ihr mitgebracht hatten und stellte sie in die Vase. Ich sah mich im Haus um, während Michi munter mit seiner Großmutter plauschte, die gerade den Bildband aus dem Geschenkpapier wickelte. Es war ziemlich hübsch und auf eine interessante Art altmodisch eingerichtet- überall hingen Bilder und standen Blumen und Gewächse. Die Möbel wirkten allesamt wie aus einem Antiquitätengeschäft, auch das mit blauem Samt bezogene Sofa, auf dem wir uns niederließen. Gegenüber von uns stand ein weißes Klavier, darüber hingen unendlich viele Fotografien, die eine ganze Ahnengalerie zu bilden schienen.
Auch der Bildband begeisterte Frau Schneider und fand seinen Platz auf dem Couchtisch vor dem Sofa.
„Ich mache gleich Kaffee“ kündigte sie an. „Und Kuchen hab ich auch noch jede Menge da.“
„Ich helfe dir“ meinte Michi sofort und wollte aufspringen, doch seine Großmutter hielt ihn mit festem Griff am Arm davon ab.
„Nichts da! Ihr seid meine Gäste und so alt bin ich auch wieder nicht. Bleibt schön sitzen, das ist schon in Ordnung. Auch, wenn ich mich freue, dass deine Mutter dir Manieren beigebracht hat.“ Sie grinste schelmisch, während sie sich entfernte.
Ich lächelte Michi an, als wir alleine waren.
„Sie ist sehr nett“ sagte ich aufrichtig.
Er nickte. „Sie mag dich.“
„Woher willst du das denn wissen?“ scherzte ich. „Wir sind gerade mal fünf Minuten hier.“
Er zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht, aber es ist ein Gefühl. Ich kenne meine Oma, glaub mir.“
Ich stand langsam auf und ging zu den vielen Fotos, die über dem Klavier hingen. Einige von ihnen kamen mir bekannt vor und es versetzte mir einen Stich, als mir klar wurde, woher- es kam mir fast eine Ewigkeit vor seit dem Tag, an dem ich Roberts Fotoalbum durchgesehen hatte. An diesem Tag hatte ich Michi noch kaum gekannt und ihn erst zum zweiten Mal gesehen- nun war ich hier mit ihm im Wohnzimmer seiner Oma. Roberts Schwiegermutter.
Robert lächelte mir von mehreren Familienbildern entgegen, auf einem sah, noch viele Jahre jünger, seiner frischgebackenen Braut verliebt in die Augen, auf einem hielt er den kleinen Michi- oder seine Schwester?- in den Armen, auf einem stand er auf dem Gipfel irgendeines Berges, seine beiden Kinder an den Händen, während seine Frau etwas erschöpft aussehend auf einem Stein daneben saß.
Ich spürte wieder den alten Tumult aus Unruhe und Schuldgefühlen in mir und wandte mich den älteren Bildern zu. Gestellte Familienbilder in Sepia waren darunter, vergilbte Aufnahmen aus den 70ern mit Menschen, die mir allesamt gänzlich unbekannt waren.
„Das ist mein Onkel“ hörte ich auf einmal Michis Stimme neben mir und fuhr vor Schreck zusammen. Er stand dicht neben mir, aber ich hatte ihn gar nicht näherkommen hören. Unsere Oberarme berührten sich beinahe und ich sein Atem streifte mein Ohr. Sein Finger zeigte auf eine der alten Farbaufnahmen, auf dem drei kleine Kinder zu sehen waren, die aus Blauklötzen irgendein abenteuerliches Gebilde zusammensetzten.
„Er ist vor zwei Jahren gestorben in einem Autounfall. Das andere ist meine Tante, sie lebt mit ihrer Familie in München.“
Ich wandte mich ihm zu. „Das ist ja schrecklich.“
Michi sah betreten zur Seite. „Ich weiß, das klingt jetzt furchtbar, aber ich kannte ihn kaum. Er war ziemlich karrieregeil, hatte keine Familie, war ständig am arbeiten und nie zu Hause. Es ist aber schon tragisch, meine Ma hat es ziemlich mitgenommen.“
Ich nahm trotz aller Vorbehalte seine Hand in meine und drückte sie kurz. „Es ist trotzdem schrecklich. Tut mir leid.“
Seine Hand blieb wie selbstverständlich in meiner liegen, während wir schweigend weiter die Fotos ansahen, er, der sie sicherlich schon zum hundertsten Mal betrachtete, und ich, für den die Menschen auf ihnen alles Fremde waren. Beinahe alle.
„So, es ist angerichtet“ erklang auf einmal hinter uns eine Stimme und wir stoben etwas erschrocken auseinander.
Michis Oma stand mit einem Tablett hinter uns, das sie gerade auf dem Couchtisch abstellte. Ich wusste nicht, wie viel sie gesehen hatte und obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass es nicht besonders viel gewesen war, fühlte ich dennoch, wie mir das Blut ins Gesicht schoss.
Michi schien ebenfalls etwas verlegen, als er sich neben mir auf dem Sofa niederließ und die Tasse mit Kaffee entgegennahm, den seine Großmutter ihm eben eingeschenkt hatte. Ich nahm ihr ebenfalls lächelnd die Tasse ab.
„Sucht euch am besten selber Kuchen aus“ wies sie uns an, als sie sich selbst Kaffee eingoss.
Wir wählten uns beide ein Stück und nachdem wir beide den Geschmack gelobt hatten, saßen wir einen Moment in Stille da.
„Es tut mir leid, dass ich gestern nicht dabei war“ wurde sie schließlich von Michi gebrochen. „Ich…“
„Ist schon gut, du bist auch langsam zu alt für Familienbesuche. Ist mir auch lieber, du kommst so mal vorbei, dann kann ich mich dir besser widmen. Mit deinen Eltern muss ich ständig aufpassen, dass ich nichts Falsches sage.“
Ich musste unwillkürlich grinsen und auch Michi lachte kurz auf, aber ziemlich freudlos.
„Außerdem freue ich mich, deinen Freund kennenzulernen. Wart ihr zusammen in der Schule?“
Natürlich hatte ich diese unangenehme Frage erwartet und mir schon eine Antwort zurechtgelegt.
„Wir kennen uns über Freunde“ schoss es sofort aus mir heraus, noch bevor Michi etwas anderes sagen konnte. Das war ja noch nicht einmal gelogen.
„Und jetzt studieren wir das Gleiche“ fügte Michi noch hinzu. An der Schnelle seiner Antwort merkte ich, dass auch er schon eine Weile überlegt hatte, wie er seiner Oma unsere „Freundschaft“ erklären sollte. In diesem Moment wurde mir bewusst, was wir für ein Bild abgeben mussten; wie zwei kleine Jungs, die man beim Klauen aus der Keksdose erwischt hatte. Bildete ich es mir ein oder kräuselten sich Frau Schneiders Lippen in einem kaum merklichen Lächeln?
Ich wandte mich wieder meinem Kuchen zu.
„Ach, sehr schön! Das wollte ich gleich als nächstes fragen, Michi- wie gefällt es dir denn? Dein Studium?“
Zum Glück führte sie die Konversation nahtlos fort. Erleichtert, dass das Thema nun etwas war, zu dem ich zunächst nicht sehr viel beitragen konnte, hörte ich Michis Ausführungen über Freud und Leid des Unilebens zu und musste lächeln als ich mich an die Startschwierigkeiten im ersten Semester erinnerte. Ich fand es rührend, wie Frau Schneider sich für ihren Enkel interessierte- es war ehrliches Interesse, nicht die oberflächliche Anteilnahme, die Großeltern oft ihren Enkeln zukommen lassen, bevor sie ihnen einen Geldschein zwischen die Finger schoben.
„Soso“ meinte sie nachdenklich, als er geendet hatte. „Haben Sie die gleichen Schwierigkeiten?“ fragte sie dann an mich gewandt.
Ich räusperte mich. „Ich bin nicht mehr im ersten Semester, sondern schon im fünften… daher hat sich vieles schon gelöst.“
„Oh, schon im fünften? Dann müssten Sie ja bald fertig sein.“
Ich nickte. „Eigentlich schon… aber ich bin gerade am überlegen, noch ein Semester dranzuhängen. Eigentlich müsste ich nächstes Semester mit meiner Bachelorarbeit anfangen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, nicht dazu zu kommen. Deswegen glaube ich, es wäre besser, ich gehe das langsam an.“
Es war das erste Mal, dass ich diesen Gedanken, mit dem ich schon eine Weile spielte, vor einem anderen Menschen aussprach. Eigentlich hatte ich vorgehabt, meinen Bachelor so schnell wie möglich abzuschließen und dann meinen Master im Ausland zu machen. Doch seit der Sache mit Robert schien irgendetwas in mir ins Schleudern gekommen zu sein, dass mich zwang, einen Gang zurückzuschalten. Vielleicht hatte es etwas mit der albernen Selbstfindung zu tun, die viele Menschen für so wichtig hielten und die ich immer für Blödsinn gehalten hatte. Bisher war ich immer mit dem Strom geschwommen, hatte genommen, was das Leben mir gegeben hatte und hatte mich treiben lassen. Doch irgendwie hatte ich langsam das Gefühl, selbst etwas lenken zu müssen.
Ich fing Michis Blick auf, in dem irgendetwas vorging. In seinen Augen spiegelten sich Überraschung und noch etwas anderes, er schien die Information langsam zu verdauen.
Frau Schneider schien für all diese Vorgänge blind zu sein, wofür ich ihr dankbar war, und redete weiter.
„Lassen Sie sich besser Zeit- es bringt schließlich nichts, die Dinge zu überstürzen. Arbeiten müssen Sie noch früh genug.“
Ich verzichtete darauf, sie in meine finanzielle Situation einzuweihen und dass es durchaus günstig für mich sein würde, so schnell wie möglich zu arbeiten, beließ es aber bei einem kurzen Nicken.
„Ja, so sehe ich das auch.“
Sie nickte andächtig, als ließe sie sich das ganze Thema noch einmal durch den Kopf gehen, dann sagte sie auf einmal völlig beiläufig: „Und was hältst du davon, dass deine Eltern beschlossen haben, sich zu trennen?“
Michi hob abrupt den Kopf und seine Kuchengabel fiel klirrend zu Boden.
„Sie haben es dir erzählt?“ entfuhr es ihm und seine Stimme klang rau. Er bückte sich nicht einmal nach der Gabel, sondern starrte nur entgeistert seine Großmutter an, die ihren Teller senkte.
„Wieso sollten sie es mir nicht sagen?“
„Weil sie noch niemandem davon erzählt haben!“
„Na ja, mir schon“ meinte Frau Schneider und zuckte mit den Achseln. „Ich habe auch etwas nachbohren müssen, aber ihr Verhalten war so offensichtlich…“
Michi seufzte tief und barg den Kopf in seinen Händen.
„Na, immerhin sind sie einmal ehrlich…“ murmelte er.
Die Situation war mir unangenehm, ihm offenbar ebenso. Sein Plan, Frau Schneider würde es nicht wagen, die Scheidung vor mir anzusprechen, war offenbar nicht aufgegangen.
„Nun, ich habe es kommen sehen“ brach sie die entstandene Stille. „Schon bei ihrer Hochzeit hatte ich das Gefühl, dass… dass irgendwas nicht passt. Vor allem bei deinem Vater… irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass ein Teil von ihm… nicht ganz dabei war.“
„Können wir bitte das Thema wechseln?“ unterbrach Michi sie und hob seinen Kopf wieder. „Ich hab das zu Hause schon die ganze Zeit um die Ohren.“
„Nun gut“ entgegnete seine Großmutter resignierend. „Es tut mir leid. Es ist nur… ich weiß es auch erst seit gestern und trotz allem hat es mich schockiert. Wahrscheinlich wollte ich einfach auch mal mit jemandem drüber reden.“
„Ist ok“ murmelte Michi betreten. „Aber bitte nicht mit mir.“
Nach dieser Einlage wurde es deutlich entspannter. Frau Schneider war eine gute Gesprächspartnerin, stellte ich fest, und sie bemühte sich auch redlich, die Familienangelegenheiten fortan nicht mehr zu thematisieren. Sie fragte mich unaufdringlich ein wenig aus, erzählte von ihren Reisen und aus ihrem Leben, Dinge, die Michi sicherlich schon öfter gehört hatte. Er schien aber kein einziges Mal genervt oder unterbrach sie in ihren Ausführungen, sondern schien ihr immer aufmerksam zu lauschen.
Um kurz nach sechs bereitete sie uns eine einfache Mahlzeit, bestehend aus Suppe und Knoblauchbaguette, zu, danach verabschiedeten wir uns. Ich hatte die Zeit wahrhaft vergessen und als wir auf die dunkle Straße traten, konnte ich kaum glauben, dass schon wieder ein ganzer Tag vergangen war. Mittlerweile hatte sich das Wetter ein wenig verschlechtert, eine nasskalte Mischung aus Schnee und Regen nieselte vom Himmel.
„Was hast du jetzt vor?“ fragte ich, während wir auf den Bus warteten. „Willst du… nochmal mit zu mir?“
Mir fiel auf, wie verfänglich diese Frage wirkte und wollte sie gerade relativieren, als Michi schon antwortete: „Hm, ich glaube ich sollte wieder mal nach Hause…“
Ich nickte zustimmend. „Das glaube ich auch.“
Er sah ein wenig enttäuscht aus, als er mich im Schein der Straßenlampen musterte und sagte: „Danke, dass du mich gebabysittet hast und dass du mitgekommen bist…“
Ich konnte nicht anders als zu lächeln. Er sah sehr müde aus, aber in seinem Gesicht spiegelte die gleiche Lebhaftigkeit wie damals, als ich ihn kennengelernt hatte. Der Nachmittag schien ihm gutgetan zu haben.
„Ich hatte einen sehr interessanten Tag, ehrlich. Deine Oma ist eine außergewöhnliche Frau… schön, dass ihr so ein gutes Verhältnis habt.“
Michi lächelte einen Moment entrückt. Dann sah er mir wieder direkt in die Augen und trat einen Schritt näher. Mein Herzschlag beschleunigte sich sofort, ohne dass ich es wollte. Ich erinnerte mich an den Abend, an dem er sich mir das letzte Mal so genähert hatte- doch diesmal fühlte ich mich kein bisschen bedroht. Ich wartete mit einem seltsamen Kribbeln im Bauch, bis er dicht vor mir stand.
„Jo, ich…“ Er schien irgendetwas sagen zu wollen, seine Augen huschten über mein Gesicht und verrieten das Chaos, das wohl in ihm tobte. Ich wollte irgendwas entgegnen, doch mir fiel nichts Passendes ein, nichts, was nicht lächerlich geklungen hätte. Dann lag seine, trotz der Kälte, warme Hand auf einmal auf meiner Wange, seine Finger strichen sanft und wohltuend über meine Haut und entfachten ein kleines Feuerwerk in mir.
Himmel, was war nur mit mir passiert?
Sein Kopf näherte sich gefährlich langsam und auf einmal war es wieder da, das Gefühl der Bedrohung. Ich wusste, ich sollte ihn wegstoßen, ich sollte nicht zulassen, dass zwischen uns auch nur irgendetwas passierte, was mit Gefühlen zu tun hatte. Ich glaubte nicht an Liebe, die alle Hindernisse überwand, und das, was zwischen uns vorgefallen war, und vor allem das, was zwischen mir und Robert vorgefallen war, war genug, um uns für den Rest des Leben die Chancen auf irgendeine Art von Glück zu verwehren.
Dennoch tat ich nichts, wartete ab und spürte dann die vollen und weichen Lippen auf meinen, die sich das letzte Mal so grob und rücksichtslos angefühlt hatten, nun aber sanft und zärtlich. Innerlich schmolz ich dahin, schloss die Augen, fühlte keine Kälte mehr. Kleine Tropfen in einer Mischung aus Regen und Schnee nässten unsere Gesichter und Michis Hände, die nun von beiden Seiten mein Gesicht umschlossen. Ich stand regungslos da, fühlte nur. Seine Lippen liebkosten die meinen, dann drang seine Zunge in meinen Mund und auf einmal dachte ich nur noch mehr, mehr davon…
Ohne weiter nachzudenken legten sich meine Arme um seine Hüfte, zogen ihn näher an mich. Sein Körper war warm und kräftig, wie ich ihn in Erinnerung hatte und gab mir Halt. Unser Kuss dauerte an, ich löste mich kurz, um Luft zu holen, drückte mir gleich darauf wieder an ihn, denn ich wusste, danach durfte ich keinen Kuss mehr zulassen, auf gar keinen Fall. Nun war es zu spät, aber danach würde ich mich auf Abstand halten, würde ihn nie wieder in meine Wohnung lassen, mich nicht mehr mit ihm treffen, auf gar keinen Fall so etwas Blödsinniges mit ihm unternehmen wie Familienbesuche…
Auf einmal nahm ich entfernt wahr, wie sich eine Lichtquelle näherte und löste mich widerstrebend von Michi. Der Bus kam von Weitem angefahren und wir ließen keuchend voneinander ab, meine Lippen noch feucht und mit dem Geschmack der seinen.
Wir ließen uns gedankenverloren nebeneinander nieder. Der Bus war fast leer, mit Ausnahme einiger Jugendlicher in einem Vierersitz, von dem wir uns so weit wie möglich entfernten, und ein altes Pärchen, das in ein Gespräch vertieft war. Es war die zweitletzte Haltestelle, deswegen würde er sich sicher noch weiter füllen, je näher wir dem Zentrum kommen würden.
„Was denkst du?“ fragte Michi leise und griff sofort nach meiner Hand. Ich wollte sie eigentlich wegziehen, doch ich konnte nicht, ich war verwirrt. Stattdessen fühlte ich bebend, wie sein Daumen über meinen Handrücken strich.
„Keine Ahnung, ich… ich weiß auch nicht.“
Michi schwieg und ich auch. Ich dachte angestrengt nach, was ich sagen könnte, um die Stille zu brechen, aber immer noch fiel mir nichts ein. Also blieben wir schweigend sitzen und Michi hielt meine Hand, ließ sie nicht los, auch, als immer mehr Leute einstiegen und uns einige neugierige und missbilligende Blicke zugeworfen wurden. Schließlich murmelte Michi:
„Nächste Station muss ich in die Straßenbahn umsteigen. Du kannst sitzenbleiben, oder?“
Ich nickte.
„Danke nochmal… ich… kann ich nochmal vorbeikommen?“
Ich schüttelte den Kopf, auch wenn etwas in mir dabei sehr wehtat. „Ich glaube, wir beide lassen uns besser in Ruhe. Du hast viel um die Ohren und ich… ich bin nicht die Person, mit der du dich abgeben solltest.“
Ich wollte Michis Blick ausweichen, aber ich traf ihn doch und sah auch die Enttäuschung, die darin lag.
„Aber…“
Ich seufzte tief. „Michi, ich weiß nicht, was du überhaupt mit mir willst… ich mag dich, auch wenn ich das nicht sollte, aber… das mit uns hat doch keinen Sinn.“
„Ist doch egal“ murmelte er trotzig. „Du sagst, dass es keinen Sinn hat, obwohl du es gar nicht probiert hast… vielleicht wird ja doch alles, wenn wir es genug wollen…“
„Das Gleiche habe ich bei deinem Vater auch gedacht“ entgegnete ich flüsternd, da ich nicht wollte, dass die vielen Leute um uns unsere Unterhaltung mitbekamen. Dann hob ich meine Stimme. „Wir sollten so eine Unterhaltung hier nicht führen.“
„Dann führen wir sie eben woanders.“
„Nein, Michi. Lassen wir das.“
„Bitte.“
Seine Stimme war nicht weinerlich, nicht flehend, nicht bittend. Aber es lag eine Intensität in seiner Bitte, die dafür sorgte, dass etwas in mir brach.
Michis Blick war schwer zu deuten, als der Bus langsamer wurde und dann quietschend zum Stehen kam. Und ich wusste bereits, als ich ihn aussprach, dass ich diesen Satz später bereuen würde.
„Komm zu meinem Geburtstag. Ich habe am 30. November Geburtstag und feiere am 5. Dezember. Komm vorbei.“
Michi ließ meine Hand los und sprang auf, um die Haltstelle nicht zu verpassen.
„Ich komme ganz bestimmt!“ rief er, als er zum Ausgang eilte. Mehrere Leute starrten uns an und ich sah demonstrativ aus dem Fenster und nicht Michi nach, der in die nasskalte Nacht hinauseilte.