Russisches Roulette

Mar 28, 2012 16:36

Fandom: Viewfinder
Pairing: Mikhail/Fei Long
Warnungen: M/M, Yaoi
Fortsetzung zu Taifun



Der Revolver war kalt und schwer in seiner Hand, drückte gegen seine Schläfe, beunruhigend und allgegenwärtig. Er schluckte hart, schloss seine Augen. Seine Mimik, seine Gestik und seine Gedanken konnte er unter Kontrolle halten, nicht jedoch seinen Instinkt, der ihn gerade in diesem Moment verriet.
Er fühlte den kalten Schweiß, der seinen Körper überzog und das übermächtige Schlagen seines rasenden Herzens.
Kein Ausweichen mehr, keine Möglichkeit, zu entfliehen.
Und während er einen möglicherweise letzten Atemzug tat, mit dem sich seine Brust hob, blinzten Gesichter fragmentarisch vor seinem inneren Auge auf.
Nicht die seiner Familie und seiner Freunde, wie es bei anderen Menschen möglicherweise der Fall gewesen wäre.
Er sah zunächst einen schwarzhaarigen Mann, hochgewachsen für einen Asiaten, mit grimmigem, entschlossenem und eiskaltem Gesichtsausdruck, ein Gesicht, das niemals jegliche Emotion kundtat, wenn sein Besitzer dies nicht erwünschte. Ein Gesicht, das einem den Atem stocken ließ und einen ähnlichen Effekt auf Fei Long hatte wie die Kälte des Revolvers an seiner Haut.
Dann das eines jungen Mannes, der das pure Gegenteil ausstrahlte, eine beinahe kindliche Naivität, eine lebhafte Mimik hatte und dessen williger Körper sich so wunderbar unter Fei Longs Hände gefügt hatte, als sei er aus Wachs.
Und nicht zuletzt, ein so gänzlich anderes Gesicht als die beiden davor. Stahlblaue, stechende Augen, die nicht minder entschlossen und eindringlich waren als die Asami Ryuichis, jedoch eine sanfte, beinahe weiche Herzlichkeit anzunehmen vermochten, die dem Japaner gänzlich fehlte. Deren Ausdruck so viele Facetten aufwies, dass es für Fei Long unmöglich erschien, diesen in seiner Ganzheit zu erfassen. Dieses Gesicht umrahmt von blonden Locken, die, so wusste er nun, sich wunderbar weich in einer zärtlichen Berührung anfühlten und der imposanten Erscheinung eine jugendliche Vitalität gaben.
Und dieses Gesicht war es auch, das Fei Long vor Augen blieb, als er nun, da sein Atemzug zu Ende war, seine Lungen bis zum Bersten mit Luft gefüllt, seinen Finger anspannte und den Abzug drückte, nicht wissend, ob es noch ein „Danach“ geben würde. Ob er dieses Gesicht, der ihm nun diese schicksalhafte Bewegung erleichterte, jemals wieder sehen würde.

Ein Knall zerriss die Luft.

Und Fei Long erwachte schweißgebadet in seinem riesigen Bett, japste nach Luft während sich sein verwirrtes Bewusstsein langsam in die Realität einfand.
Er hatte nur geträumt.
Der Traum war vergangen, dennoch jagte die Erinnerung daran ihm das kalte Entsetzen durch seinen bebenden Körper. Hatte er doch gedacht, die Geister der Vergangenheit allmählich verjagt zu haben. Doch manchmal, in gewissen Momenten, wie zum Beispiel im Schlaf, wenn er sich nicht unter Kontrolle hatte, kamen sie hervor um ihn zu quälen.
Und damit nicht genug.
Es waren zwei Monate vergangen seit dieser ereignisreichen Nacht, in der der erste Taifun der Saison Hongkong lahmgelegt hatte und Mikhail die Nacht bei ihm- und mit ihm- verbracht hatte.
Er hatte gedacht, stärker zu sein. Er hatte gedacht, die Sache auf sich beruhen und einmal die hohen Mauern fallen lassen zu können, die ihn normalerweise umgaben, nur für eine Nacht, ohne es hinterher zu bereuen.
Doch, so sehr er sich dagegen wehrte, musste er zugeben, dass er öfter an die Nacht dachte als ihm lieb war, mehr noch- sich danach sehnte, nach diesen rauen und fordernden Händen auf seiner feuchten Haut, dem leidenschaftlichen Mund, der ihn eroberte und... und...
Fei Long erschauerte trotz der Kälte, als ihn eine Hitzewelle erfasste in Erinnerung an das heiße und harte Organ, das in ihn gestoßen, ihn gebrandmarkt und fiebrige Schreie der Lust entlockt hatte.
Verdammt.
Er hatte gedacht, es als Ausrutscher, als einmaligen Fehler abtun zu können, denn so, das hatte er schon im Moment der großen Leidenschaft geahnt, würde er die ganze Sache hinterher betiteln.
Doch er kannte sich schlecht, zu schlecht.
Arbatov war nicht einmal mehr zum Frühstück geblieben. Als sie am nächsten Morgen aufgewacht waren, war es schon spät gewesen und der Taifun hatte so sehr an Stärke verloren, dass er keine Ausrede mehr gehabt hatte, zu bleiben.
Außer, Fei Long hätte ihn gebeten, zu bleiben. Als sie sich etwas formell verabschiedet hatten, war etwas in Mikhails Augen aufgeblitzt, das Fei Long hatte glauben machen, er warte auf etwas dieser Art. Doch er hatte nichts dergleichen über seine Lippen gebracht.

Nun war er hier, in seiner riesigen Wohnung, wie zuvor- ein Workaholic, der sich keine ruhige Sekunde gönnte, um das Nachdenken zu vermeiden. Derselbe Zustand wie zuvor- die Unmöglichkeit, zuzugeben, dass ihm etwas fehlte. Und das dieses Etwas ihm möglicherweise gerade durch die Finger geglitten war.
Nur nachts, in seinen Träumen, konnte er sich dem nicht verwehren. Wenn er hilflos seinem Unterbewusstsein ausgeliefert war kam alles wieder zum Vorschein was tief in seinen Gedanken schlummerte.
So wie gerade eben, als er vom russischen Roulette geträumt hatte.
Vor vielen Jahren, als er noch jünger gewesen war und das Leben noch nicht zu schätzen gewusst hatte, hatte er dieses Spiel einmal gespielt. Er rief sich diese Nacht immer wieder in Erinnerung und musste öfter feststellen, dass sein heutiges Leben mehr und mehr diesem Spiel glich- immer ging es um alles, Tod oder Leben, nichts dazwischen. Abdrücken und sehen, worauf es hinauslief.
Immer noch leicht zitternd erhob er sich. Es war eine schwüle und heiße Nacht, aber nicht nur deshalb war er schweißgebadet. Klimaanlagen mochte er nicht, deshalb stellte er seine nur dann an, wenn es unvermeidbar war. Auch jetzt entschied er sich dagegen, ließ sich stattdessen nur in einer Unterhose bekleidet im Sofa vor seinem Fernseher nieder. Mit einem Blatt Papier, dass auf dem Couchtisch lag, fächerte er sich Luft zu und versuchte, die Schrecken des eben noch so realen Traums zu vertreiben.
Warum war es Mikhail Arbatovs Gesicht gewesen, das er im Moment vor seinem vermeintlichen Tod gesehen hatte?
Er unterließ es, eine Antwort darauf zu suchen.
Seit ihrer gemeinsamen Nacht hatte er den Russen nicht mehr gesehen und es vermieden, an ihn zu denken. Doch nun überschwappten ihn die Wellen der Erinnerung mit aller Heftigkeit.
Verdammt, das kann so nicht weitergehen.
Er starrte durch die breite Fensterfassade hinaus auf Kowloons Skyline, die von einem leichten Nebel verschleiert wurde. Der Morgen dämmerte bereits und er wusste, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde.
...
Macao
Mikhail Arbatov genehmigte sich jeden Tag nach dem Aufstehen eine halbe Stunde, um einige Bahnen durch seinen privaten Swimmingpool zu ziehen. Er tat das nicht nur für seine körperliche Fitness, sondern vor allem, um seinen Kopf frei zu bekommen.
Es gab nichts Meditativeres und Reinigenderes, als durch das frische Wasser zu gleiten, dabei die Kraft seiner Muskeln zu spüren, die sich bei jeder Bewegung anspannten. Nach ein paar Bahnen kam er normalerweise frisch und gestärkt aus dem Wasser, bereit für alles, was der Tag zu bieten hatte.
In den letzten Wochen hatte er jedoch selbst dabei keinen Frieden mehr gefunden. Es war sogar so, dass ihm die Gedanken, die ihm dabei durch den Kopf gingen, gänzlich die Kraft raubten.
Dieses ewige Hin und Her, dieses Für und Wieder.
Und das ständige Bewusstsein, dass er dem Objekt seiner Begierde so nah gekommen war- nur um es wieder durch seine Finger gleiten zu sehen. Und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr kam er zu der Schlussfolgerung dass es nicht mehr war als leeres und sinnloses Hoffen.
Ein One-Night-Stand, heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr. So sehr er es sich versuchte einzureden, so sehr er nach Zeichen und Hinweisen darauf suchte, dass es Fei Long mehr bedeutet hatte und nicht lediglich eine Linderung seiner seelischen Schmerzen gewesen war, musste er dennoch zugeben, dass das nicht sehr wahrscheinlich erschien.
Unglücklicherweise war er nicht wie Fei Long, den derlei Gedankengänge anspornten und zu fast wahnhaftem Arbeitseifer trieben. Sie lähmten ihn und beraubten ihn jeglicher Kraft. Die ersten Tage nach ihrer gemeinsamen Nacht war er fast gar nicht zum Arbeiten gekommen und hatte viele wichtige Projekte viel zu lange vernachlässigt. Nun war er endlich wieder soweit, sich einigermaßen auf die wichtigsten Dinge konzentrieren zu können.
Aber es fiel ihm gewiss nicht leicht.
Auch jetzt stießen seine muskulösen Arme wieder durchs Wasser, trieben ihn hindurch und ließen ihn seine Kraft spüren. Das Wasser tat gut nach der drückenden Schwüle der Nacht, in der er nur schlecht geschlafen hatte. Es weckte die wenigen Lebensgeister, die noch in ihm schlummerten und reinigte ihn zumindest äußerlich.
Er ließ sich kurz einfach ihm Wasser treiben, als er am Beckenrand ankam und schloss die Augen. Fühlte, wie die von ihm verursachten, kleinen Wellen seine nassen Haare um sein Gesicht spülten und ihm ab und zu eine Strähne ins Gesicht trieben.
Dieser Tag würde gut werden, redete er sich ein, dieser Tag würde anders werden als die davor, die von endlosem und sinnlosem Grübeln beherrscht worden waren. Heute würde er alles anpacken, was er vernachlässigt hatte und die Dinge wieder in die vorgesehenen Bahnen leiten.
In diesem Moment sah er etwas in seinem Augenwinkel, als sich seine Lider leicht hoben, und er nahm eine vage Bewegung am Beckenrand wahr. Als er den Kopf wandte, sah er einen seiner Bediensteten, der offenbar versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er drehte sich zu dem ziemlich jungen Mann hin und fragte ihn auf Kantonesisch:
„Was ist los? Du weißt doch, dass ich beim Schwimmen nicht gestört werden will.“
„Ja, ich weiß aber...“
Der junge Mann schluckte nervös, man sah ihm an, dass er sich einem beinahe unlösbaren Konflikt gegenübersah. „Ich habe einen Anruf für Sie, Herr Arbatov.“
„Du weißt doch, dass das für alles gilt, selbst für Anrufe.“
„Es ist aber wichtig, Sir.“
Mikhail seufzte leicht genervt. Was war so schwer daran zu verstehen?
„Wer sagt, dass es wichtig ist?“
„Es ist Herr Liu, er meint es ist furchtbar wichtig und er müsse so schnell wie möglich mit Ihnen sprechen. Er sagt es duldet keine Verzögerung. Daher dachte ich...“
„Herr Liu? Liu Fei Long?“
„Ja, eben der, Sir.“
„Schon gut. Ich komme.“
Stirnrunzelt sah er dem Bediensteten nach, der sich wieder ins Haus zurückzog und hievte sich aus dem Wasser. Was konnte Fei Long so dringend von ihm wollen? Sie hatten im Moment keine Geschäfte miteinander, Fei Long hatte alles, was am Laufen gewesen war, nach der Sache mit Asami abgebrochen. Als Grund hatte er angegeben, Mikhail habe sein Vertrauen enttäuscht. Womit er vielleicht nicht ganz unrecht hatte.
Er trocknete sich notdürftig mit einem Handtuch ab und schlang es danach um die Hüften. Schnellen Schrittes begab er sich ins Haus und bekam vom gleichen Bediensteten, der ihn gerade beim Pool aufgesucht hatte, ein Handy in die Hand gedrückt.
„Ja?“
„Mikhail, ich bin’s. Fei Long.“
„Das habe ich bereits vernommen. Was ist so wichtig, dass ich meine morgendliche Schwimmstunde unterbrechen musste? Du hast besser einen guten Grund dafür.“
„Ich mag es nicht, zu warten.“
Mikhail spürte, wie ihn ein leichtes Gefühl des Zornes überkam. Natürlich, wenn Fei Long ein Begehren hatte, musste es sofort und ohne Verzögerung erledigt werden, ohne Rücksicht auf Verluste. Ebenso wie in jener Nacht. Fei Long war alleine und verzweifelt gewesen, er hatte Rückhalt und Zuneigung gesucht und Mikhail war so dumm gewesen, sie ihm zu geben, ohne die Konsequenzen zu beachten.
„Worum geht es?“ fragte er kühl und fröstelte nun unter der eingeschalteten Klimaanlage, die den Raum erheblich abgekühlt hatte.
„Ich möchte das nicht am Telefon besprechen sonder gerne persönlich. Wie wäre es, wenn wir uns zum Mittagessen treffen?“
„In Ordnung.“
Am liebsten hätte er sich die Zunge abgebissen. Er hatte einen Termin, der sogar äußerst wichtig war. Verschieben konnte man ihn natürlich, aber für was? Für eine neue Gemütsregung Fei Longs, für eine fixe Idee, für einen kleinen Zeitvertreib? Um etwas wirklich Wichtiges konnte es sich auf keinen Fall handeln, da sie im Moment keinerlei geschäftlichen Kontakt miteinander hatten. Es musste also etwas Persönliches sein. Mikhail war nur allzu bewusst, wie widerstandslos er nach Fei Longs Pfeife tanzte.
„Treffen wir uns vor den Ruinen der Sao Paolo-Kirche“ schlug der Chinese vor. „Ich habe keine Lust auf ein schickes, formelles Restaurant und einen großen Auftritt. Liebes etwas Kleines…“
„Du weißt, dass ich die kantonesische Küche nicht sehr schätze“ unterbrach Mikhail ihn.
„Keine Sorge, das ist mir bewusst“ entgegnete Fei Long mit einem deutlich amüsierten Unterton. „Deshalb dachte ich, dass wir uns in Anlehnung an Macaos ehemalige Besatzer einen kleinen Ausflug in die mediterrane europäische Küche gönnen.“
Mikhail seufzte. „Also schön. Wann treffen wir uns?“
„Ein Uhr. Punkt.“
Und bevor der Russe etwas entgegnen konnte, hörte er am leisen Tuten, das aus dem Hörer drang, dass sein Gesprächspartner gerade aufgelegt hatte.

Es war ein wunderschöner Tag, blauer Himmel und eine frische Brise vom Meer her. Der schwüle und heiße Sommer war zwar im Anmarsch, verschonte sie aber bisher mit allzu gnadenlosen Temperaturen. Mikhail trug ein leichtes Leinenhemd und eine Sonnenbrille, hinter der versteckt seine Augen unruhig durch die Menge huschten. Er genoss die Luft, die sanft mit dem Stoff spielte, der seine erhitzte Haut umgab, die von der Erwartung, Liu Feilong in wenigen Minuten gegenüber zu stehen, nicht gerade gekühlt wurde.
In der Menge war er schwer auszumachen, ab und an sah Mikhail dichtes, langes, schwarzes Haar irgendwo aufblitzen, um dann beim Näherkommen festzustellen, dass es einer jungen Frau gehörte und nicht annähernd dieselbe dichte Festigkeit besaß wie die des Chinesen. Oh, wie er sich danach sehnte, es wieder unter seinen Fingern zu fühlen! Doch dieses Glück war ihm wohl kaum vergönnt. So wenig er Feilong kannte, so überzeugt war er doch davon, dass ihr Treffen nicht dazu diente, ihren „Ausrutscher“, wie dieser es sicherlich empfand, zu wiederholen. Was genau dahinter steckte- das herauszufinden würde er sich wohl oder übel gedulden müssen.
„Buh!“ ertönte es plötzlich laut hinter ihm und er wäre beinahe über eine der Stufen gestolpert, die er gerade hinaufging. Er konnte sich nicht daran erinnern, das letzte Mal so erschrocken zu sein. Um seine Fassung ringend drehte er sich um und erblickte einen ganz anderen Feilong, als den, den er kannte. Er hatte bereits viele Versionen erfahren: stolz, erhaben, verzweifelt, geschäftig, lustvoll, in Ekstase, doch diese war ihm neu: Feilong lachte schallend wie ein kleines Kind, dem gerade ein Scherz gelungen ist und warf seinen Kopf zurück, so dass der lange Zopf, in den er sein berauschendes Haar geflochten hatte, sanft hin- und her schwang.
„Dass du so schreckhaft bist, Mikhail Arbatov… das hätte ich gar nicht gedacht.“
Mikhails Herz klopfte noch von dem Schreck, aber beruhigte sich keineswegs, als er den Mann, der vor ihm stand, musterte. Feilong hatte in der vergangenen Zeit nichts von seiner Schönheit oder seiner umwerfenden Ausstrahlung eingebüßt. Er trug ebenfalls helle Leinenhosen und ein hellblaues Hemd, an dessen Kragen er einige Knöpfe wie zufällig offen gelassen hatte, so dass seine goldene Haut herausfordernd hervorblitzte. Mikhail fragte sich, ob der Chinese die leiseste Ahnung hatte, wie sehr dies seine wildesten Begierden zum Auflodern brachte, die sich mit den Erinnerungen an diese eine Nacht mischten, die sie miteinander verbracht hatten. Verdammt, dieser Mann war eine Qual auf zwei Beinen und er fragte sich, was er falsch gemacht hatte um diese ewige Tortur auf sich nehmen zu müssen.
Obgleich er natürlich selbst schuld war, dass er auf dieses Treffen überhaupt eingegangen war.
Zum Glück hatte er noch genug Selbstbeherrschung, um sich seinen inneren Tumult nicht anmerken zu lassen und sich zu einer Antwort zu zwingen.
„Es gibt noch so einige Seiten an mir, die du noch nicht kennst, Feilong. Und ich verspreche dir, es lohnt sich, jede einzelne davon kennenzulernen.“
Dabei schenkte er seinem Gegenüber einen eindringlichen und verheißungsvollen Blick, der ihm eine leise Ahnung geben sollte, was sie alles miteinander teilen könnten. Feilong, das entging ihm nicht, schlug die Augen nieder.
„Bevor ich die Abgründe deiner Seele erkunde, würde ich zuerst gerne essen gehen. Ich habe den ganzen Morgen ein lästiges Meeting gehabt und sterbe vor Hunger.“
Natürlich war er etwas enttäuscht, dass Feilong nicht auf sein Spiel einging, aber gleichzeitig hatte er es auch nicht wirklich erwartet. Er ließ sich nicht beirren und setzte seine heitere Miene auf.
„Nun gut, du gibst an, wo es hingeht.“
Feilong nickte und setzte sich in Bewegung, Mikhail folgte ihm.
„Und, wie ist es dir ergangen?“ fragte Feilong, während sie die Stufen vor der Ruine wieder hinabgingen.
Mikhail zuckte mit den Schultern. „So la la. Viel zu tun.“
Bildete er es sich ein oder wanderte der Blick des Chinesen prüfend über ihn, als er die Antwort gab? Eine Sekunde später war dessen Gesicht jedoch wieder die gewohnte Maske, das ewige Pokerface. Hatte dieser Mann überhaupt irgendwelche Gefühle? War es ein Anderer gewesen, der in dieser Nacht verzweifelt und verletzt in seinen Armen gelegen hatte und sich ihm offenbart hatte? Verdammt, dieser Mensch war so schwer zu lesen wie eine Kalligraphie in Grasschrift. Dabei aber ebenso schön anzusehen.
Den Rest des Weges zum Restaurant, das nicht sehr weit entfernt war, redeten sie über einen Geschäftskollegen, der vor wenigen Wochen geheiratet hatte und zu dessen Hochzeit es Mikhail nicht geschafft hatte. Feilong berichtete in jeder Einzelheit, wie die Zeremonie abgelaufen war, als ob es Mikhail wirklich interessierte, als ob er damit nicht nur die wichtigen und unausgesprochenen Themen zu vermeiden, die wie ein Damoklesschwert über ihnen hingen.
Es war ein kleines Restaurant, versteckt irgendwo in den kleinen verwinkelten Gassen Macaos und Mikhail fragte sich, wie Feilong es gefunden hatte, entsprach es doch keinesfalls der Preisklasse, in der sie normalerweise verkehrten. Als er die Frage stellte, stahl sich ein kleines Lächeln in Feilongs Züge.
„Es gibt noch so einige Seiten an mir, die du noch nicht kennst, Mikhail“ gab er zurück.
„Aber im Gegensatz zu dir zweifle ich keine Sekunde daran, dass es sich lohnt, sie kennenzulernen“ antwortete der Russe sofort.
Ihre Blicke verhakten sich einen kurzen Moment. Dann schüttelte Feilong leicht den Kopf und unterbrach damit ihren Blickkontakt.
„Woher weißt du so genau, was ich denke, Mikhail? Was lässt dich glauben, dass ich der Meinung bin, es würde sich nicht lohnen, dich kennenzulernen?“
Einen Moment lang blitzte die altbekannte Verzweiflung in seinen Augen auf, dann öffnete er die Tür. „Lass uns essen gehen, Mikhail. Wir reden später.“
Also würde es doch ein Gespräch geben. Mit dieser Erwartung ließ sich Mikhail dazu hinreißen, dem Duft Feilongs zu folgen und in das kleine Restaurant einzutreten.
„Liu Feilong! Ich habe schon gedacht, du tauchst hier gar nicht mehr auf!“
Sobald sich Mikhails Augen an die reduzierte Helligkeit gewöhnt hatten, sah er einen untersetzten Mann mit Schnauzbart und einem kugelrunden Bauch auf sie zueilen.
„João Paolo“ gab der Angesprochene lächelnd und ebenfalls auf Englisch zurück. „dein Essen wird mich immer wieder hierher treiben, also bilde dir nicht ein, du würdest mich jemals los!“
Mikhail war fast ein wenig eifersüchtig, als er die beiden Männer beobachtete, wie sie miteinander scherzten und sich gegenseitig freundschaftlich auf die Schulter klopften. Warum konnte er mit anderen Leuten so ungezwungen sein? Er sehnte sich danach, diesen heiteren, ungezwungenen Mann kennenzulernen, der sich nicht von Sorgen oder falscher Vorsicht niederdrücken ließ.
Der kleine Portugiese wies ihnen einen Tisch zu. Sie waren reichlich spät dran, für die meisten Chinesen war das Mittagessen längst vorüber, und so befanden sie sich beinahe alleine in dem kleinen Restaurant, außer ihnen saß nur noch ein Paar in einer anderen Ecke, das aber gänzlich mit sich selbst beschäftigt war. Der Mann, der sie begrüßt hatte, drückte ihnen die Speisekarte in die Hand und ließ sie dann einen Moment alleine, damit sie wählen konnten.
„Was empfiehlst du denn?“ fragte Mikhail, der seinen Blick über die vielen verschiedenen Speisen wandern ließ.
„Der Fisch ist unübertroffen“ antwortete Feilong lächelnd. „Wenn die Portugiesen etwas zubereiten können, dann Fisch.“
„Então. Was darf es sein?“
Als João Paolo wieder an ihrem Tisch stand, hatte Mikhail brav ein Fischgericht ausgewählt, Feilong bestellte zu ihrem Essen noch Wein und obwohl er noch vorgehabt hatte, an diesem Tag einiges zu arbeiten, protestierte Mikhail nicht.
„So, und nun möchtest du wissen, wie ich dieses Lokal gefunden habe, nicht wahr?“ fragte Feilong schmunzelnd, als João Paolo sich entfernt hatte und sie sich einen kurzen Moment lang angeschwiegen hatten. War er so offensichtlich? Mikhail hatte tatsächlich, seit sie hereingekommen waren, immer und wieder darüber nachgedacht.
„Offen gestanden ja.“
„Als ich noch ein ganz kleiner Junge war habe ich mich einmal auf Macao verirrt. Mein Aufpasser war einen kleinen Moment lang abgelenkt… und schwupp! war ich schon davon gewuselt.“
Mikhail schmunzelte beim Gedanken an den kleinen und unartigen Feilong. Sicher war er ein unglaublich süßes Kind gewesen.
„Am Anfang dachte ich, ich könnte den Weg zurück leicht finden“ fuhr er fort. „Aber dann sah auf einmal alles gleich aus. Ich begann, umso verzweifelter zu werden, je weiter ich lief. Und als ich nicht mehr weiter wusste, habe ich einfach angefangen, zu weinen. Zufälligerweise war es genau hier- vor diesem Lokal. João Paolo, der damals noch um einiges schlanker war, hat mich aufgelesen. Er hat mich getröstet und mit Pasteis de nata gefüttert, während er versuchte, ausfindig zu machen, wohin ich gehöre. Gottseidank kann er ein wenig Kantonesisch, denn damals sprach ich noch nicht einmal Englisch. Er lebt schon sein Leben lang auf Macao, sein Vater war damals in der Verwaltung tätig, als die Insel noch Portugal gehörte. Er ging jedoch auf eine portugiesische Schule und musste sich daher nie wirklich die ‚Eingeborenensprache’ aneignen. Nun ja, auf jeden Fall hat er genug aus mir herausgequetscht, um meine Adresse ausfindig zu machen und mit meinem Vater in Kontakt zu treten. Als sie mich fanden, waren sie furchtbar wütend und zu Hause bekam ich erst einmal eine ordentliche Tracht Prügel. Danach bin ich nie wieder weggelaufen. Joao Paolo wollten sie eine Menge Geld geben dafür, dass er mich gefunden und zurückgebracht hatte- doch er wollte nichts davon hören und nahm nichts davon an.
Als ich sechzehn war, war ich zufällig einmal wieder hier, als mir die Geschichte wieder einfiel. Wie durch ein Wunder führte mich meine frühkindliche Erinnerung wieder hierher und ich klopfte an der Tür, nicht wissend, ob der frühere Besitzer überhaupt noch hier war, ja nicht einmal, ob es ihn überhaupt gegeben hatte, war ich mir gänzlich sicher. Aber als er die Tür öffnete, war ich sofort überzeugt, dass er es war. Und er erkannte mich innerhalb von Sekunden. ‚Du bist doch der kleine Junge, der sich damals verirrt hat!’ rief er. Wirklich. Obwohl ich seitdem um einiges gewachsen war, das kannst du mir glauben. Seitdem besuche ich ihn in regelmäßigen Abständen. Und immer muss ich darum kämpfen, für das Essen zu bezahlen.“
Mikhail hatte seinen Blick keine Sekunde von seinem Gegenüber abgewandt, während dieser erzählte. Stattdessen folgte er gebannt den Worten, die ihm eine Geschichte erzählten, die, so spürte er, bisher nur sehr wenige Leute gehört hatten- wenn überhaupt irgendjemand. Und gleichzeitig fühlte er, dass es von Vertrauen und einer gewissen Intimität zeugte, dass er ihn an diesen Ort mitgenommen hatte, der ihm offenbar viel bedeutete.
Als Feilong geendet hatte, nickte er langsam.
„Manchmal gibt es Begebenheiten, die einen beinahe doch an Schicksal glauben lassen, nicht wahr?“
Der Chinese lächelte. „Oh, ich glaube ganz fest an das Schicksal. Du etwa nicht?“
Mikhail hob eine Augenbraue. „Nein, denn sonst hätte das Schicksal einen unglaublich schrägen Sinn für Humor. Und himmelschreiende Ungerechtigkeit. Ich glaube lieber daran, dass alles zufällig passiert und dass man sein sogenanntes ‚Schicksal’ selbst lenken und in die Hand nehmen kann. Das passt besser zu meinem Lebenskonzept.“
„Du glaubst also, dass alles nur zufällig passiert und absolut keinen höheren Sinn hat? Wie traurig.“
„Und du glaubst, wir seien alle nur Spielbälle einer höheren Macht, die über uns verfügen kann, wie es ihr beliebt? Noch trauriger.“
Feilong lächelte nun nicht mehr, das Thema schien ihm todernst zu sein.
„Dass wir uns begegnet sind ist für dich also auch nur bloßer Zufall?“
Mikhail blickte in die dunklen Augen, überrascht über diese Frage. Bedeutete es Feilong womöglich doch etwas, was zwischen ihnen passiert war? Wenn er daran zurückdachte- und er wagte es kaum, denn der bloße Gedanke machte ihn beinahe wahnsinnig- dann fiel es auch ihm, trotz seiner Überzeugungen, schwer zu glauben, dass es ohne höheren Sinn passiert war.
„Wie gesagt“ flüsterte er, ohne den Blick von diesem Paar faszinierender, mandelförmiger Augen zu nehmen, „es gibt Begebenheiten- oder Begegnungen- die einen beinahe doch an Schicksal glauben lassen.“
„Beinahe?“
Feilongs Frage kam leise, fast gehaucht, und Mikhail vernahm in ihr wieder diesen Hauch von Verzweiflung, die ihn in dieser Nacht umgeben hatte wie ein schwarzer Mantel.
„Ich will dir noch etwas erzählen“ fuhr Feilong fort, als Mikhail sich unfähig sah, zu antworten. „Als ich jung war- sehr jung, dazu noch waghalsig und dumm, da habe ich mich öfter in der Walled City in Kowloon herumgetrieben. Irgendwann habe ich mich auf eine dumme Mutprobe eingelassen und mit ein paar dämlichen Wichtigtuern russisches Roulette gespielt. Dass ihr hier sitze, zeigt dir, wie es ausgegangen ist. Deiner Auffassung nach ist es reiner Zufall, dass ich heute am Leben bin. Ich habe, ehrlich gesagt, oft darüber nachgedacht- und gemerkt, dass ich diesen Gedanken nicht ertrage. Ich will viel lieber glauben, dass es das Schicksal war, das mir das Leben geschenkt hat. Dass es einen Sinn hat. Dass irgendwer- oder irgendetwas, will, dass ich lebe.“
Mikhail schaute ihn immer noch eindringlich an- und er begann zu begreifen, worum es ging. Feilong hatte Angst vor der Leere, die der Vorstellung des Zufalls zugrunde lag. Er brauchte diesen Gedanken, dass alles einen Sinn hatte, dass alles so gewollt war. Es gab ihm Kraft, es half seinem Leiden.
„Ich verstehe“ sagte er also nur. Und in dem Blick, den sein Gegenüber ihm daraufhin schenkte, lag etwas, was er bisher noch nie in diesem gesehen hatte- tiefe Dankbarkeit.
Ihr Gespräch wurde von João Paolo unterbrochen, der ihnen in diesem Moment ihre beiden Teller vor die Nase stellte, dann einen Aushilfskellner herbeiwinkte, der Weingläser brachte, dann eine Flasche Wein entkorkte und Feilong einen winzigen Schluck zum Probieren einschenkte. Als dieser das Getränk mit einem Nicken für gut befand, schenkte er auch Mikhail ein und entfernte sich dann.
„Guten Appetit“ frohlockte João Paolo und verschwand dann ebenfalls wieder.
Während der ganzen Prozedur hatten sie zum Glück aufs Reden verzichten können, doch nun entstand eine angespannte Stille, die Mikhail gekonnt unterbrach, indem er Feilong für seinen Tipp mit dem Fisch lobte, den er ausgezeichnet fand. Dieser lächelte und schien ein wenig entspannter als bei ihrer Ankunft.
Sie verfielen in unverbindlichen Smalltalk, den sie während dem ganzen Essen aufrecht erhielten. Zunächst unterhielten sie sich über Pflanzen und Gärten, über die Notwendigkeit von Natur fürs Wohlbefinden, über die Umweltverschmutzung in China, über die bedenklichen Zustände auf dem Hongkonger Aktienmarkt, über Familie (von diesem Thema lenkte Feilong nach einigen wenigen allgemeinen Kommentaren ziemlich schnell ab), über ihre liebsten Reiseziele, über Musik, Filme, über Gott und die Welt. Mikhail ließ sich von der Konversation treiben, die immer leichter und ungezwungener von statten ging, bis die zufrieden und mit vollen Bäuchen das Besteck niederlegten und noch an den Resten des Weins hingen. Mikhail hatte die ganze Zeit über versucht, sich nicht ungeduldig zu zeigen- Feilong würde früher oder später schon noch auf den Grund ihres Treffens zu sprechen kommen. Genaugenommen genoss er diese Gespräche, in denen Feilong ab und an doch ziemlich private Dinge über sich verriet, die der Russe in seinem Kopf sammelte wie Bernsteine und zu dem riesigen, ungelösten Puzzle, das Feilong für ihn darstelle, hinzufügte.

Fei Long tätschelte sich den Bauch, der, wie Mikhail nur zu deutlich in Erinnerung hatte, flach und fest war, und seufzte angetan.
„Es tut gut, mal wieder zu in Ruhe zu essen. Meistens schaufle ich nur irgendwelches Zeug herunter, weil ich keine Zeit habe und schnell zum nächsten Meeting renne.“
„Und heute Nachmittag hast du keine weiteren Termine, die deine Anwesenheit erfordern?“
Der Chinese schüttelte nur den Kopf.
„Nein, ich habe mir für den Rest des Tages freigenommen.“
Mikhail hob überrascht die Augenbrauen.
„Das ist ungewöhnlich.“
„Das ist es in der Tat.“
Der Gedanke war ihm am Morgen gekommen. Nach seinem Albtraum und vor allem nach den letzten paar unruhigen Wochen hatte er den Entschluss gefasst, dass er sich dies einmal gönnen sollte. Am Vormittag hatte er leider einen Termin gehabt, der sich nicht hatte verschieben lassen. Für den Rest hatte er einen Sekretär beauftragt, alternative Zeiten zu finden und alles zu verschieben.
Warum er dann beschlossen hatte, den freien Nachmittag mit Mikhail Arbatov zu verbringen- nun, dies war ihm ebenso schleierhaft wie die seltsamen Gefühle, die ihn immer wieder in Zusammenhang mit diesem Mann überkamen. Aber so sehr er verwirrt war, so gut fühlte es sich an, mit dem Russen dazusitzen, Wein zu trinken und zu plaudern. So gut, dass er sich nicht wirklich Gedanken darüber machen wollte. Und dass er ihm Dinge verriet, die er noch nicht einmal einem Psychologen erzählt hätte.
„Nun, was machen wir mit dem angefangenen Nachmittag, Arbatov? Bitte erzähl mir nicht, dass du nun bald wieder etwas vorhast und verschwinden musst.“
Mikhail biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich hatte er sehr dringende Dinge zu erledigen und konnte sich absolut nicht leisten, den Tag mit seinem ehemaligen Gegenspieler zu verbummeln. Es würde ihn teuer zu stehen kommen, wenn er seine Geschäfte verschob. Aber wie konnte er ein solches Angebot abschlagen- ein ganzer Nachmittag mit Liu Fei Long, nachdem er es monatelang nicht einmal geschafft hatte, in dessen Nähe zu kommen?
Er schüttelte leicht widerstrebend den Kopf.
„Nein, heute bin ich ausnahmsweise mal frei.“
Fei Long lächelte ihm kurz herausfordernd zu, und Mikhail war sofort klar, dass er eine Ahnung hatte, wie es um seinen vermeintlich freien Nachmittag stand. Dennoch begnügte er sich damit und ließ keinen weiteren Kommentar dazu ab.
„Wie wäre es mit Kaffee?“ fragte er dagegen.
Mikhail nickte und wollte gerade João Paolo heranwinken, als sich Fei Longs Hand auf die seine legte, eine unerwartete Berührung, die dennoch so verheißungsvoll war, dass ihm ein Schauer den Rücken herunter lief.
„Wollen wir den Kaffee nicht vielleicht nach Hongkong verlagern- ich habe mir gerade eine neue Kaffeemaschine gekauft, die ich gerne ausprobieren möchte.“
Obwohl sich Mikhail nicht sicher war, was er sich davon erhoffen durfte, so schlug sein Herz dennoch sofort schneller. Er hatte Fei Long noch nie so erlebt- gelöst, herausfordernd, spielerisch. Er schien sie beide in eine Art subtiles Schauspiel zu verwickeln, bei dem sich Mikhail nicht sicher war, welche Rolle er spielte. Was führte der chinesische Mafiaboss im Schilde, dass er ihn, nachdem er ihm zuvor nur mit ausgefahren Krallen und nach ewigem Hin und Her schließlich gewährt hatte, sein Bett zu wärmen, nun auf einmal scheinbar vorbehaltlos an sich heranließ?
Er traute dem Frieden nicht. Aber ihm war klar, wenn er mehr von Fei Long haben wollte, so musste er sein Spiel mitspielen.
„Kaffee in Hongkong klingt gut. Und wie kommen wir dorthin? Hast du deinen Hubschrauber dabei?“
Fei Long lachte leise. „Nein, heute einmal nicht. Ab und zu genieße ich es, wie ein ganz normaler Zivilist unterwegs zu sein. Was hältst du von der Fähre?“
„Fähre?“ Mikhail schaute ihn irritiert an. Fei Long sah an seinem Gesichtsausdruck, dass er sicherlich noch nie mit der Fähre von Macao nach Hongkong gefahren war, geschweige denn dies jemals in Betracht gezogen hatte. Fei Long konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen.
„Nun gut“ entgegnete der Russe dann aber und stand resolut auf. „Dann nehmen wir die Fähre.“
Wie Fei Long ihn schon vorgewarnt hatte, weigerte sich João Paolo zunächst, die Rechnung anzunehmen. Als er endlich akzeptierte, dass sie ihr Essen bezahlen würden, brach ein kleiner Streit zwischen den beiden Männern aus, wer sie übernehmen würde. Mikhail war nun schon lange genug in China um sich gewisse Gewohnheiten ebenfalls angeeignet zu haben, und immer den größtmöglichen Aufwand zu betreiben, um ein Essen zahlen zu können, gehörte dazu.
Fei Long gewann dennoch. Nachdem sie sich von ihrem Gastgeber verabschiedet hatten, traten sie wieder in die sonnendurchfluteten Gassen und machten sich auf den Weg zum Fährhafen. Laut Fei Long war dieser nicht sehr weit entfernt.
Mikhail genoss es, ohne großen Aufhebens durch die Straßen zu schlendern und sie Sonne auf seine Haut scheinen zu lassen. Meistens, wenn er unterwegs war, war er von allerlei Handlangern und oder Bodyguards umgeben, selten nahm er sich die Freiheit, für sich alleine oder in Begleitung einen Spaziergang zu machen- schon gar nicht nur zum Spaß. Fei Long durfte es ähnlich gehen.
Sie redeten nicht viel, aber, so fühlte Mikhail, es musste im Moment auch nichts zwischen ihnen gesagt werden. Jeder von ihnen war in Gedanken versunken und ließ sich durch die Menschenmasse treiben, die es aufgrund des schönen Wetters auf die Straßen getrieben hatte. Bis zum Hafen dauerte es doch eine gute halbe Stunde. Fei Long löste ihnen zwei Tickets und drückte ihm eines davon in die Hand.
„Lass mich wenigstens das selbst zahlen.“
„Also bitte, Arbatov. Du solltest wissen, dass Geld nichts ist, was mir fehlt.“
„Es geht ums Prinzip.“
„Es geht um deinen Stolz, der dir verbietet, dich wie eine Frau auf ihrem ersten Date einladen zu lassen, das ist es doch.“
Mikhail musste zugeben, dass dies stimmte. Normalerweise war er stets der, der die Lage kontrollierte, der Entscheidungen traf, das Geschehen lenkte. Doch seit er sich mit Fei Long getroffen hatte, hatte er die Dinge in die Hand genommen und das war irritierend. Gewöhnungsbedürftig. Aber er beschloss, sich darauf einzulassen.

Mikhail genoss die Fahrt, die kühle Brise, das Spritzen des Wassers, das gegen das Boot prallte. Und vor allem Fei Long neben ihm, und dass er einmal sein Gleichgewicht verlor und auf der schwankenden Oberfläche in seine Arme fiel. Mikhail richtete ihn wieder auf, widerstrebend nur, während er sich fragte, ob es möglicherweise beabsichtigt gewesen war.
Er war fast ein wenig enttäuscht, als sie in Hongkong anlegten.
„Und jetzt, nehme ich an, stellen wir uns bei der Passkontrolle an, wie ganz normale Leute?“ fragte er, als sie die schwankende Rampe hinauf schritten.
„Ganz genau. Du dort in der Ausländerreihe. Anwohner dürfte etwas schneller gehen.“ Er winkte mit seinem Ausweis. „Wir sehen uns nachher.“
Schon war er verschwunden und Mikhail verdrehte die Augen, als er sich hinter mittelalten englischen Touristen einreihte. Fei Long schien direkt Spaß daran zu haben, sich wie ein gewöhnlicher Zivilist aufzuführen, aber ihm ging das Ganze auf die Nerven. Wozu all das Geld, wenn man es nicht zum Fenster rausschmeißen konnte? Die Fahrt mit der Fähre hatte ihm jedoch, zugegebenermaßen, Spaß gemacht. Vielleicht musste er seine Meinung doch revidieren.
Sein Pass wurde abgestempelt und er traf auf einen immer noch grinsenden Fei Long, der schon seit eine Weile auf ihn zu warten schien.
„Ich wollte eigentlich mit der U-Bahn fahren, aber da du schon genug zu haben scheinst, habe ich meinen Chauffeur herbestellt. Keine Sorge, unser kleiner Ausflug in die Welt der Sterblichen ist vorbei.“
Mikhail musste grinsen. „Für einen Kaffee mit dir würde ich noch viel mehr auf mich nehmen.“
„Oh bitte, du klingst als wären wir noch in der Mittelschule“ entgegnete Fei Long ungehalten, während sie auf den Ausgang des Fährenterminals zugingen.
Wie versprochen wartete Fei Longs Limousine mitsamt Fahrer auf sie und Mikhail fühlte sich wieder um einiges wohler, nachdem sie eingestiegen waren und durch den wirren Verkehr Hongkongs glitten. Er konnte seine Augen nicht von Fei Long nehmen, dem neuen Fei Long, nicht die verwundete, wütende Raubkatze, sondern ein sanfter Stubenkater, der sich in der Sonne auszustrecken schien und nur darauf wartete, dass man ihn kraulte. Der Vergleich ließ ihn unwillkürlich schmunzeln.
Aufgrund des dichten Verkehrs dauerte es eine ganze Weile, bis sie am Baishe-Hauptquartier ankamen. Mikhail betrachtete das prachtvolle Gebäude mit gemischten Gefühlen. Als er es das letzte Mal betreten hatte, war er drauf und dran gewesen, Fei Long so nahe zu kommen wie nie zuvor. Was würde ihn nun erwarten?
Feis Gesicht schien wie das einer Porzellanpuppe, es offenbarte nicht die geringste Gefühlsregung. In der Eingangshalle warteten einige Bedienstete auf sie, denen Fei Long auf Kantonesisch einige Befehle entgegen bellte, woraufhin sich die meisten entfernten und nur einer der Diener ihnen in den oberen Stock folgte.
Fei Longs private Gemächer. Sicher hatten bisher nur wenige Menschen das Privileg gehabt, sie aufzusuchen und Mikhail hoffte inständig, dass Asami Ryuuichi nicht zu diesen gehörte. Der Gedanke, wenigstens dies dem Japaner voraus zu haben, der Fei Longs Herz gestohlen hatte, beruhigte ihn ein bisschen.
Fei Long ließ sich in einem Sessel nieder und wies den Diener an, ihnen Kaffee zu bringen. Dann bedeutete er Mikhail, sich zu setzen, was dieser sofort tat.
„Ich hätte nicht gedacht, jemals wieder herzukommen“ gestand er.
„Das Leben ist voller Überraschungen“ entgegnete Fei Long schlicht. „Oder sollte ich sagen Zufälle?“
„Herrje, das macht dir schwer zu schaffen, was?“ seufzte Mikhail. „Nur weil es keine höhere Macht gibt, die alles lenkt, haben wir immer noch unsere Entscheidungskraft. Wir haben ein Bewusstsein und können uns für oder gegen etwas entscheiden. Und du hast dich dafür entschieden, dass du mich hierhaben willst, Fei.“
Ein süffisantes Lächeln erschien auf dem Gesicht des schwarzhaarigen Chinesen.
„Aber ob ich deinem Werben nachgebe oder nicht ist völlig gleichgültig, denn es dient keinem höheren Zweck. Ob sich unsere Wege wieder trennen oder nicht ist völlig dem Zufall überlassen.“
„Nein, es ist unserem Willen überlassen.“
Er sah Fei Long bei diesen Worten direkt ins Gesicht und trat den Blick aus den dunklen, mandelförmigen Augen. Wie so oft wurde er beinahe geblendet von seiner Schönheit in diesem Moment. Einige Strähnen, die sich aus seinem Zopf gestohlen hatte, umrahmten sein hoheitsvolles Gesicht und die goldgelbe Haut schimmerte in der Spätnachmittagssonne, die durch die breite Fensterfront drang. Und sein Blick- er war warm und intensiv, so dass Mikhails Herz sofort zu rasen begann. Dieser Mann konnte nicht von dieser Welt sein. Und auf einmal war er versucht, an das Schicksal zu glauben, weil er hier bei ihm sein durfte.
Bevor er etwas entgegnen konnte, öffnete sich die Tür und der Butler kam mit einem Tablett herein, das er auf dem Couchtisch abstellte.
Fei Long nahm dies mit einem Nicken zur Kenntnis. „Danke. Ab jetzt möchte ich nicht mehr gestört werden.“
Der Butler verbeugte sich kurz und verließ den Raum.
„Milch und Zucker?“ wandte sich Fei Long an Mikhail, sobald sie alleine waren.
„Ich nehme selber, danke.“
Er trank Kaffee meistens schwarz, im besten Fall mit etwas Milch. Obwohl er sich sehr gesund ernährte, regelmäßig Sport trieb und auf allerlei Suchtmittel wie Zigaretten, Alkohol oder auch nur Schmerztabletten verzichtete, war Kaffee etwas, was er beim besten Willen nicht sein lassen konnte. Der Geruch des frischen Getränks stieg ihm angenehm in die Nase, als er die Tasse zum Mund hob und den ersten Schluck nahm.
„Hm, nicht schlecht, deine neue Maschine“ murmelte er anerkennend, während er genießend die Augen schloss. Fei Long bedachte ihn mit einem zufriedenen Blick.
„Also lag ich mit meiner Einschätzung richtig.“
„Die da wäre?“
Mikhail hob seinen Blick und seine Augen trafen abermals die seines wunderschönen Gegenübers. Sofort war die Spannung wieder da, die zuvor die Luft zwischen ihnen zum Zerreißen angespannt hatte, als sie sich in die Augen gesehen hatten.
„Dass du ein Mann bist, der gehobene Qualität zu schätzen weiß“ entgegnete der Chinese leise und seine Augen senkten sich nicht, sondern durchbohrten die Mikhails mit einer Intensität, die ihn ein wenig schneller atmen ließ.
„Oh ja, das weiß ich durchaus“ entgegnete er mit dunkler Stimme.
Er wusste nicht, warum er daraufhin tat, was er tat. Vielleicht war er das lange Warten, die zugleich qual- und lustvolle Gegenwart Fei Longs, die er bereits den ganzen Nachmittag lang ertragen hatte, seine eigene, unkontrollierbare Libido, die Magie des Moments, Fei Longs unübliche Gelöstheit… Er erhob sich mit einem Ruck und stellte dabei die Kaffeetasse zurück auf den Tisch. Mit wenigen Schritten war er bei Fei Longs Sessel angelangt, ließ sich auf der Armlehne nieder und zog den unwirklich schönen Chinesen in einen tiefen Kuss.
Sie seufzten beide auf, als sich ihre Lippen berührten. Mikhail musste sich mit einer Hand auf dem Sessel abstützen, um nicht dem Schwindel zu erliegen, der ihn bei diesem bekannten und dennoch so außergewöhnlichen Gefühl überkam. Es war wie in dieser Nacht, das gleiche Feuer brannte immer noch zwischen ihnen. Er hatte es sich nicht eingebildet.
Fei Long schlang seine Arme um ihn und Mikhail gab sofort nach, rutschte zu ihm und presste seinen Oberkörper an ihn. Gott, er wollte diesen Mann, wie er noch nie zuvor etwas gewollt hatte, sehnte sich so sehr danach, ihn noch einmal zu besitzen, wie in dieser Nacht.
Seine Hände legten sich in Feis Nacken, er verflocht seine Hände mit dem dichten, schwarzen Haar und sog den Duft ein, den er so vermisst hatte. Seine Zunge drang tief in den Mund ein, der sich ihm bereitwillig öffnete und das Spiel begann, das sie schon zuvor gespielt hatten- der subtile, liebevolle Kampf um die Oberhand, der dennoch einen wilden Tumult in Mikhails Magengegend auslöste.
Ungläubig über das, was gerade geschah, löste er sich kurz darauf, um Luft zu holen und um die tiefen, mandelförmigen Augen zu betrachten, die ihn leicht verschleiert und unlesbar, wie immer, ansahen. Schicksal oder nicht- in diesem Moment dankte er dem Gott, von dem er sich nicht sicher war, ob er an ihn glaubte, dass er dieses wundervolle Geschöpf berühren durfte.
„Fei“ flüsterte er, aber dann wusste er nicht wirklich, was er eigentlich hatte sagen wollen. Er versank in den dunklen Augen, verlor sich in ihnen und alles, was er tun wollte, was er tun konnte, war, seine Lippen erneut auf die seines Gegenübers zu legen, die einladend schimmerten und ihn sofort ihn einer Wiederholung in ihrer noch vor kurzen geteilten Leidenschaft empfingen.
Mikhail stöhnte leise in den zweiten Kuss, der von Fei Long ebenso heftig erwidert wurde. Im Stillen darum bittend, dass dieser Moment niemals enden möge, konnte er nicht anders, als seine Hände langsam nach unten gleiten zu lassen, Fei Longs feste Muskeln unter dem Leinenhemd zu ertasten und sanft darüber zu streichen. Er fühlte, wie dieser unter seinen Berührungen erbebte und dann regelrecht erschauerte, als seine Hände unter den Stoff glitten und die warme und weiche Haut liebkosten, die innerhalb von Sekunden von einer Gänsehaut überzogen wurde. Nun war es Fei Long, der den Kuss abbrach.
„Dafür habe ich dich nicht hergeholt“ protestierte er mit nüchterner Stimme, die so ganz und gar nicht zu den Reaktionen seines Körpers passte. Mikhail sah in seine verschleierten Augen und versuchte, seinen Atem zu beruhigen und seine Enttäuschung zu verbergen. Er wünschte sich nichts sehnlicher als seine Hände dort zu lassen, wo sie waren, oder sie womöglich noch in andere Regionen vordringen zu lassen. Doch er respektierte Fei Longs Wunsch und entfernte sie widerstrebend unter seinem Hemd.
„Warum hast du mich dann hergeholt?“ fragte er, mit immer noch beschleunigtem Atem und offensichtlicher Frustration in der Stimme. „Ich glaube, es wäre an der Zeit, mir dies mitzuteilen.“
Fei Long schien mit sich selbst zu ringen, seine Hände fuhren durch Mikhails blonde Locken und sein Blick huschte unstet hin und her.
„Lass mich dich etwas fragen, Mikhail…“ begann er mit zögerlicher Stimme. „Deine Absichten… sind sie ehrlich oder nicht?“
„Was?“ entgegnete der Russe verwirrt, die Frage kam völlig unerwartet.
„In dieser Nacht, als du… als wir zusammen geschlafen haben. Warum bist du gekommen?“
„Ich weiß es nicht“ gab Mikhail zu und seine Hände strichen trotz seiner ratlosen Worte beruhigend über Fei Longs Rücken. „Ich hatte nichts Spezielles vor. Ich wollte dich sehen, wollte… wollte die Dinge klären. Was zwischen uns so schrecklich schief gelaufen ist.“
Fei Long seufzte und rückte einige Zentimeter von ihm ab, genug, um ihm klarzumachen, dass er seine Hände besser wieder zu sich nahm.
„Nur das?“ fragte Fei und an seinem Ton, auch wenn er nach wie vor nüchtern und ruhig wirkte, ließ sich erkennen, dass Mikhail aufpassen musste, was er sagte- er war kurz davor, alles zu zerstören.
„Ich will nur eines von dir wissen“ fuhr der Chinese fort, dabei starrten seine Augen auf den Boden vor ihm. „Ist es ehrlich oder nicht?“
„Ist was ehrlich oder nicht?“
„Das, was du mir vermittelst. Dass ich dir etwas bedeute. Dass es für dich mehr war als nur ein Abenteuer, ein One-Night-Stand, eine einmalige Sache.“
„Fei“ seufzte Mikhail, „ich…“
„Antworte!“
Da war es wieder, das verletzte Raubtier, das immer noch misstraute, immer noch zum Sprung bereit war. Mikhail erwiderte den Blick, der nun seinen traf, und der auf einmal verletzt wirkte. Er hielt einen Moment inne, während er nach den richtigen Worten suchte.
„Fei, ich… ich kenne mich selbst nicht wirklich. Ich bin sprunghaft und impulsiv. Meist ist mir selbst nicht klar, nach welchen Mustern ich handle und warum ich was tue. Ich kann dir nicht erklären, warum ich in dieser Nacht bei dir gelandet bin. Ich will auch nichts vorgeben, was ich nicht sicher weiß. Ich kann dir nicht sicher sagen, was ich für dich fühle, was ich von dir will. Aber eines versichere ich dir- du bist kein Spielzeug für mich, kein Abenteuer, keine belanglose Trophäe. Es ging mir nicht darum, dich in meine Sammlung aufzunehmen oder auf meiner Liste abzuhaken. Die Nacht mit dir… hat mir viel bedeutet, sie war wunderschön. Und dass ich hier bin zeigt dir ja wohl, dass es keine einmalige Sache für mich war.“
Fei Long musterte ihn einen Augenblick lang mit einem seiner unergründlichen, schneidenden Blicke. Mikhails Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt, hatte nicht gelogen, um seinen Willen zu bekommen, wie er es sonst oft zu tun pflegte. Einmal hatte er beschlossen, ehrlich zu sein, und nun würde er die Quittung dafür bekommen- wie auch immer sie ausfallen würde.
„Die Hälfte von dem, was du eben gesagt hast, hätte gereicht, um mich davon zu überzeugen, meine Zeit nicht weiter mit dir zu verschwenden“ antwortete Fei Long kühl. „Eigentlich gebe ich mich nicht mit Leuten ab, die nicht wissen, was sie wollen. Deine Abenteuerlust und den Hang, alles auf eine Karte zu setzen, ist ein Charakterzug, den wir sicher nicht teilen. Ich will Sicherheit und Verlässlichkeit. Ich bin kein Mensch, der spekuliert und Risiken eingeht.“
Er holte tief Luft und sah Mikhail immer noch eindringlich an. „Dennoch will ich dir- und dem, was zwischen uns ist, was auch immer es ist, denn ich weigere mich, es als Zufall oder Belanglosigkeit abzutun- eine Chance geben. Ich weiß, ich sollte es nicht tun und werde es womöglich bereuen.“
Wieder hielt er inne, diesmal brach er den Blickkontakt hab. Sein Blick schweifte durch den Raum, als sei er auf der Suche nach etwas, an dem er sich festhalten konnte. Einen Augenblick lang schwieg Fei Long und Mikhail wartete, gespannt, was folgen würde, nicht sicher, ob es ihm gefallen würde.
„Ich muss nächste Woche nach Hangzhou, ich habe dort etwas zu erledigen. Es ist ein Wochenende, Freitag, Samstag und Sonntag. Wenn dir etwas an dem zwischen uns liegt, komm mit mir. Begleite mich.“
Es lag nichts Bittendes in seiner Stimme, aber auch nicht der übliche Befehlston, den er schon verinnerlicht zu haben schien. Fei Longs Ton war neutral, verriet keinerlei Gefühlsregung, nur eine leise Traurigkeit schwang in ihm mit. Wie sehr wünschte sich Mikhail einmal wieder, diesen Mann besser zu kennen, besser zu verstehen.
Er hatte von Hangzhou gehört, angeblich eine der schönsten Städte Chinas, dem magischen Westsee in ihrer Mitte, um den sich zahlreiche Erzählungen rankten. Warum Fei Long dorthin musste und warum er ihn dorthin begleiten sollte- das alles war ihm ein Rätsel. Aber seine Antwort kam ohne zu zögern.
„Ich werde mitkommen.“
Und schon wieder tanzte er nach Fei Longs Pfeife, nahm restlos dessen Bedingungen an. Er würde seinen Geschäftsplan verschieben, wichtige Verabredungen absagen und wichtige Verhandlungen unterbrechen müssen. Aber er konnte nicht anders, denn er war sich bewusst, dass das, was Fei Long ihm bot, wirklich sein letztes Angebot war. Es war nicht an ihm, Bedingungen zu stellen oder die Dinge zu hinterfragen.
Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Chinesen, ein Lächeln, das noch nicht von Erleichterung, aber einer stillen Beruhigung zeugte. Hatte er etwa Angst gehabt, Mikhail würde nicht annehmen? Warum versuchte er sich nur ständig selbst davon zu überzeugen, dass Mikhail ihn nur als Spielzeug sah?
Der Russe verstand, dass es nun besser sein würde, ein wenig Abstand zu nehmen. Widerwillig erhob er sich von der Lehne des Sessels und ging zu seinem eigenen zurück, setzte sich und griff wieder nach der Kaffeetasse. Einen Augenblick lang schwiegen sie.
„Ich hatte einen sehr schönen Tag, Mikhail“ kam es schließlich von Fei Long. „Ich habe mir lange nicht mehr freigenommen, weil ich nicht mehr weiß, wie ich freie Zeit genießen kann. Egal, was ich tue- ich werde unruhig, denke an meine Geschäfte, an mein nicht vorhandenes Privatleben, an all das, was mir fehlt. Heute habe ich kein einziges Mal nachgedacht. Ich habe nur an uns Beide gedacht.“
Mikhail hätte schwören können, dass sein Herz einige Takte aussetzte, als er diese Worte vernahm. Das überirdisch schöne Wesen, das ihm gegenüber sah, bedachte ihn mit einem weichen Blick, der seine Knie so zittern ließ, dass er froh war, zu sitzen. Er fühlte sich wie ein Sechszehnjähriger auf einem seiner ersten Dates. Der Grund für diesen Blick, für diesen Anflug eines Lächelns zu sein, bedeutete ihm mehr als alles, was ihm je an schmeichelnden Worten gesagt worden war.
Er erwiderte den Blick, legte alles, was er für diesen Mann fühlte hinein, auch wenn er sich selbst noch nicht im Klaren darüber war, was dies genau war. Dann wagte er es, streckte seine Hand aus und griff nach der Feis, strich sanft darüber und flüsterte:
„Ich auch, Fei. Ich auch.“

Er blieb nicht mehr lange, nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, es gab keinen Grund mehr dazu. Alles, was gesagt werden musste, war gesagt wurden, was noch zwischen ihnen gesprochen wurde, war nichts als Smalltalk.
Mikhail ließ seinen Hubschrauber aus Macao anfliegen und überging die verwirrte Frage des Piloten, wie er denn nach Hongkong gekommen sei. Fei Long bot ihm an, ihn mit seiner Limousine zum Landeplatz bringen zu lassen und er nahm an, da ihm klar war, dass ihm die chinesische Höflichkeit dies gebot.
„Ich werde Ihnen die genauen Details unserer Reise demnächst mitteilen“ sagte Fei Long in geschäftlichem Ton, als er ihn in den Hof hinaus zum Wagen begleitete. „Sie werden in den nächsten Tagen von mir hören, Herr Arbatov.“
Mikhail lächelte süffisant ob der formalen Umgangsform, die Fei Long vor seinen Bediensteten beibehielt.
Wenn sie wüssten, wie ich dich unter mir hatte, Fei Long dachte er bei sich, spielte das Spiel aber mit.
„Vielen Dank für die Gastfreundschaft, Herr Liu. Guten Tag.“
Er stieg in den Wagen und drehte sich nicht mehr um, während er aus der Einfahrt glitt. Sein Blick heftete sich auf die Straße und die Gedanken begannen in seinem Kopf zu rasen, als sie sich vom Baishe Hauptquartier entfernten. Der Tag spielte sich noch einmal vor seinem inneren Auge ab, sämtliche Gemütsregungen seines Gegenübers blitzten auf. Seine muntere Gelöstheit, seine plötzliche Anspannung, die unterdrückte Erregung, die Abweisung.
Zwei Schritte vor, einer zurück.
Natürlich bedauerte er, dass Fei Long ihm nicht gestattet hatte, mit ihm zu schlafen, doch das war nicht so wichtig. Er fühlte, dass es der Anfang gewesen war von etwas Neuem zwischen ihnen und er hoffte inständig, dass sie diesen Weg weitergehen konnten.
Wer hätte gedacht, dass diese Nacht des Taifuns etwas auslösen konnte, dass sie tatsächlich der Beginn von etwas sein konnte? Er musste lediglich vorsichtig sein, musste sich vorantasten, durfte Fei Long nicht verschrecken. Die Narben waren noch zu frisch, das Misstrauen noch zu groß.
Während Hongkongs Abendsonne sein Gesicht wärmte, schloss er die Augen und erinnerte sich an das Gefühl der seidigen, pechschwarzen Haare, die zwischen seinen Fingern hindurch glitten.



Fei Long träumte.
Kaltes Metall an seiner Haut ließ einen schreckerfüllten Schauer durch seinen Körper rinnen. Seine Augenlider pressten sich aufeinander, als könnte er damit das abwenden, was ihm möglicherweise bevorstand.
Was erwartete ihn? Würde es wehtun? Würde es lange gehen? Oder würde ihm ein schneller, qualloser Tod vergönnt sein? War es möglicherweise sogar angenehm zu sterben? Würde all das Hin und Her, das Grübeln, das ewige Drehen im Kreis endlich ein Ende haben? Würde er von seinen zermürbenden Gedanken erlöst werden? Oder würde der Tod nur ein Schritt sein, würde alles weitergehen, in einer anderen Form?
Sein Finger begann vor Anspannung zu zittern, der kalte Schweiß verstärkte das Beben noch. Der Moment war da. Wieder holte er Luft. Sog die kalte, klare Luft in seine pulsierenden Lungen, fühlte womöglich zum letzten Mal das Leben.
Die vielen Menschen, die ihm in seinem Leben begegnet waren, fielen ihm ein. Würden sie trauern? Würden sie seinen Tod bedauern? Würde es sie überhaupt kümmern?
Das Gesicht seines Vaters trat vor sein inneres Auge. Sein kritischer, durchdringender Blick. Seine strengen Augen, in denen so viel geschrieben stand.
Verzeih mir, Baba. Ich bin nicht würdig, dir nachzufolgen.
Es gab nun keinen Ausweg mehr. Er musste es tun. Womöglich war es ja gar nicht das Ende. Womöglich würde er noch einen Atemzug tun, und noch einen, und noch viele danach. Er musste nur…
Auf einmal durchdrang ein anderes Gefühl den Traum. Wärme anstatt Kälte. Wärme auf seiner kalten Hand. Eine andere Hand, die nach seiner griff, mit sanfter Gewalt den Revolver aus seiner Umklammerung löste und ihm aus den Fingern nahm.
„Lass los, Fei“ erklang eine warme und weiche Stimme, die ihn sofort ruhig werden ließ, die die Wogen in seinem Inneren glättete, seinen Atem langsamer werden und das Zittern verschwinden ließ. „Lass los“ erklang sie erneut und fuhr fort. „denn ich will nicht, dass du dein Leben aufs Spiel setzt. Verlass dich nicht darauf, dass es eine höhere Macht gibt, die dich rettet.“
Dann erklang ein ohrenbetäubender Knall, ein Krachen, ein Donnern, der Schuss, der ihn getötet hätte, hätte der Abzug noch an seiner Schläfe gelegen.
Er öffnete die Augen und sah in ein zweites Paar, wasserblau, und dennoch voller Feuer.

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