Flug

Apr 01, 2011 05:06

 Ich war schon halb aus dem Hinterhoffenster heraus, als ich sie bei einem der Schrotthaufen bemerkte. Weggeworfene Elektronikteile und eingedellte Metallkästen. Kaum jemand hatte noch Ahnung davon wie die Technik in der Stadt funktionierte. Austausch war billiger als Reparatur. Die Sohlen meiner Schuhe quietschten gegen die Hauswand und ich landete mit weniger als einem Tappen neben ihr.
«Hey, was machst du?» Es war laut im Hinterhof durch den Lärm der Generatoren, doch sie trug wie die meisten Straßenbewohner Geräuschfilter tief im Gehörgang. Mein plötzliches Erscheinen überraschte sie dementsprechend wenig. Sie drehte sich nicht einmal um.
«Ich arbeite.» Ihre Straßenkleidung war ein Kapuzenumhang, dessen projizierte Erscheinung sie einem Müllsack gleichkommen ließ. Für meine Augen war er grasgrün und mit kryptischen Zeichnungen übersät. Ich hatte nicht die Zeit nachzusehen, ob sie mich noch auf ihrer Whitelist oder mein Wahrnehmungsprogramm ihre Tarnfunktion geknackt hatte; aber ich würde es später tun.
«Hat er dich rausgeschmissen und du suchst eine Kiste zum Wohnen?», fragte ich, wie stets meinem Taktgefühl einen Schritt voraus. Ihre Bewegungsabläufe unter dem Stoff hielten nicht den Bruchteil einer Sekunde inne, also lag ich wohl falsch.
«Ach Quatsch», schnaubte sie und schenkte mir einen Blick über die Schulter. Ich sah nur ihr schäbiges Grinsen und darüber das spiegelnde Blau ihrer Sichtbrille. Kabel schlängelten sich vom Brillenrand in den Halsausschnitt des Umhangs hinab wie bunte Zöpfe. «Meine Reparaturen zahlen momentan mehr von der Miete als seine dämliche Werkstatt.»
Sie murmelte irgendetwas von Jungs und ihren Spielzeugen weiter, während ihre Aufmerksamkeit wieder dem Müll gehörte. Ich überlegte einen Moment, ob ich sagen sollte, dass ich sie vermisste. Aber einerseits war ich mir nicht einmal sicher inwieweit das stimmte, und andererseits war es Emotionsgestachel so etwas in den Anfang eines Gesprächs zu werfen. Dagegen war ich mir ziemlich sicher, dass sie versucht hatte aus unsrer kaputten Mikrowelle und einem Paar meiner Winterhandschuhe einen Taser zu basteln, kurz bevor ich sie vor die Tür gesetzt hatte. Das war unmittelbar nachdem ich realisiert hatte, dass sie mein Erspartes für eine Kiste Werkzeug geplündert hatte. Ich wollte es trotzdem nicht darauf ankommen lassen, dass sie noch fertig geworden war.
Vorsichtig trat ich hinter sie und beugte mich nach vorne, um zu erkennen, was sie tat. Die Flügel, die an dem kleinen Metallkästchen hingen, wirkten wie aus der Sorte feinen Drahts gebaut, den man in jedem Müllhaufen finden konnte, wenn man wusste, welche Blechkisten zu knacken waren. Für Anfänger war es mühselig und reine Glücksache, aber für uns war es wie das Wissen, welche Früchte essbar waren und welche nicht. Nicht, dass ich davon eine Ahnung gehabt hätte, aber ich hatte es in alten Videodateien mit lausiger Qualität gesehen, wenn ich nicht einschlafen konnte oder der Regen mich in meiner Wohnung hielt.
Dieser Draht war für viele von uns Straßenmenschen eine geheime Währung, denn es ließ sich damit so ziemlich alles bauen, flicken, öffnen, lösen oder aufbessern.
Sie drehte etwas in die Konstruktion hinein, dass mich an einen Korkenzieher erinnerte. Nur deutlich kleiner. Das Kästchen raschelte und zappelte einige Male auf der Stelle, dann richtete es sich schräg nach oben aus. Einzelne Teile klappten um, bis es wie ein zum senfgelben Himmel ausgerichter Pfeil aussah. Mit einem Klicken stieß es sich in die Luft, glänzte durch eine Lichtreflexion auf der Oberfläche. Dann schlugen die Drahtflügel und verschwamm mit einem Surren.
Mein Geräuschfilter tat sich schwerer die Töne des fliegenden Kästchens zu verstärken, je weiter es sich von uns entfernte und in einer Aufwärtsspirale nach oben stieg. Sie war aufgesprungen und legte den Kopf so weit in den Nacken, dass ich fürchtete, er würde abfallen. Ich sah sie lächeln, aber nur vage.
Als es kaum noch zu sehen war, in der Abgaswolke beim zehnten oder elften Stock, die sich nie ganz auflöste, blieb es stehen und fiel nach unten. Ich bemerkte es vor ihr, denn meine Hände fingen es auf, noch bevor sie sich rührte. Modifizierte Augen verzögerten die Reaktion deutlich weniger als eine Sichtbrille mit Informationsschnittstelle. Ich drückte ihr das Ding in die Hand.
«Immer noch die alten Ideen im Kopf?»
«Irgendwann wird es klappen», erklärte sie mit einer Gewissheit, die mir zu bekannt war, und stopfte sich das Ding mit den Flügeln unter den Umhang.

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