Churchland löste zuerst den Knopf, der sein Hemd in der Hose in Position hielt und arbeitete sich dann die Knopfleiste hinauf. Wo der Anzug täglich seine Haut bedeckte, blieb sie immer noch so kreidebleich wie früher, während Handrücken und Gesicht Redrums Sonne ausgesetzt waren. Das kleine Mädchen trug die Bräune eines Menschen, mit eigentlich empfindlicher Haut, die so lange in der Hitze gebraten worden war, bis sie kapitulierte. Ihre Haare schimmerten in der Morgensonne mit einem weißlichen Blond, das sich kaum von ihrem dreckigen Kleid unterschied. In ihrem Lächeln fehlten zwei Schneidezähne und Churchland hoffte inständig, dass es vom Zahnwechsel kam. Die Chance standen gut. Er schätzte sie nicht älter als 9. Während er in einem vorsichtigen Balanceakt die Hose auszog, ohne sie völlig mit den Staubstraßen New Coves zu bedecken, legte das Mädchen sein Jackett bereits achtsam über einen Kleiderbügel.
“Sei vorsichtig damit, das ist italienische Microfaserbaumwolle. Es ist wichtig sie nicht zu heiß zu waschen”, sagte er und reichte ihr seine Hose, die sie ebenfalls säuberlich über den Bügel warf. Eigentlich hatte er nicht die geringste Ahnung von Anzügen, geschweige denn ihrer Reinigung, aber es fühlte sich sicherer an, wenn er sich ein bisschen aufspielte.
“Keine Sorge, Mister.” Die Kleine nickte in einem hektischen Stakkato. “Mum hat schon da draußen Sachen gewaschen.”
“Beruhigend”, stellte Churchland relativ trocken fest. Auf Redrum schien es eine dieser nebulösen Qualifikationen zu sein, dass man seinen Job schon da draußen gemacht hatte. Er öffnete die Manschettenknöpfe und hielt ihr schließlich das weiße Hemd hin, durch dessen untere Hälfte sich ein rötlich-brauner Fleck äderte. Danach ließ er seinen Aktenkoffer aufschnappen und nahm eine großzügige Handvoll Shells heraus. “Sag’ deiner Mum, dass ich alles so glatt gebügelt wie möglich haben will. Ich lege auch drauf dafür, wenn es nötig ist.”
“Geht klar, Mister”, sagte die Kleine, blickte nur für einen Sekundenbruchteil auf den Fleck und nahm dann die Bezahlung von ihm entgegen. Sie wollte sich schon zum Gehen wenden, doch starrte Churchland noch einmal von oben bis unten an, wie er keine Anstanden machte sich vom Fleck zu bewegen. Ohne Anzug gab er eine leicht breiige Figur ab, in Boxerbriefs mit ein paar Ahnungen von Muskulator hier und da, die minzgrüne Krawatte um den Hals und den Aktenkoffer zu seinen Füßen. Niemals die Krawatte ablegen. Niemals. Die. Krawatte. Ablegen. “Das dauert eine Weile, sie brauchen nicht zu warten?”
“Ach, das geht schon in Ordnung. Ich hatte eh nicht sonderlich viel vor.” Er fuhr sich durch die Haare, da er gerade keinen anderen Platz für seine Hände fand. Wie zur Bekräftigung seiner Antwort nahm einen metallenen Wäschekorb aus dem nahen Gerümpel und setzte sich darauf neben den Aktenkoffer. Er griff nochmal hinein und gab ihr drei weitere Shells. “Kauf dir einen Bagel, Kleine.”
“Was ist ein Bagel?”, fragte sie mit schiefgelegtem Kopf, doch nahm ihm das Geld ohne Umschweife aus der Hand.
“Das ist”, setzte Churchland an, zupfte kurz an der Krawatte und schüttelte dann nur mit dem Kopf. “Nicht so wichtig.”
Das kleine Mädchen beäugte ihn noch einen Moment ohne irgendeinen klaren Gesichtsausdruck, doch lief dann zu einer Hütte, die aus Transportpaletten, Einkaufswägen und dem Heck einer Segelyacht zu bestehen schien. Er saß relativ alleingelassen am Rande der Straße und gerade, als er sich fragte, ob Kleidung zum Wechseln eine gute Idee gewesen wäre, brach die Junisonne wieder mit ihrer ganzen Intensität aus einer Wolkendecke. Es war der Morgen eines heißen Tages.
Churchland hatte in Betracht gezogen sich ein Badehaus ausfindig zu machen und den restlichen Tag im warmen Wasser einzuweichen, während er halbnackte Menschen dafür bezahlte, dass sie ein paar ihrer Körperteile an ein paar seiner Körperteile rieben. Nichts Verwerfliches, nur ein bisschen Entspannung. Oder sich eine lauschige Strandbar zu suchen und die Füße in den Sand zu stecken. Oder eine dieser U-Boot-Hafenrundfahrten mitzumachen, von denen er so viel gehört hatte. Aber ihm wurde unwohl, wenn er sich mehr als 100 Meter Luftlinie von seinem Anzug entfernte.
Er fühlte sich so oder so eher produktiv heute. Vor einigen Tagen war er zu dem Entschluss gekommen, dass es Zeit war von Koks runterzukommen und zum Ausgleich auf Amphetamine umzusteigen. Gleich war er ein ganz neuer Mensch und jeder Morgen fühlte sich an, als wartete die Welt nur darauf von ihm erkundet zu werden; um danach seine Entdeckungen gewinnbringend anzulegen. Der Kram macht das mit ihm. Kehrte seine euphorisch geschäftige Seite nach Außen.
Während ihm diese Selbstbeobachtungen durch den Hinterkopf - oder vielleicht eher durchs Rückenmark - gingen, däumelte er auf seinem Smartphone herum. Das Panasonic stellte in der Gang so ziemlich das unterste Ende der Hackordnung dar und war deswegen Churchland zuteil geworden. Das dünne Ding taugte nicht für Redrum. Zu schmal, zu fragil, zu schnell in der Mitte durchgebrochen. Aber er beschwerte sich nicht. Digitale Kommunikation war früher eigentlich sein Ding gewesen und es tat gut alte Gewohnheiten aufrecht zu erhalten.
Er beantwortete ein paar E-Mails, schickte ein paar Anfragen raus ins Nichts, geisterte durch ein paar soziale Medien und kam sich währenddessen sehr sinnvoll in seiner Haut vor. Das schwarze Leder des Aktenkoffers war heiß von der Sonne und wärmte ihm die Fußsohlen, während der blecherne Waschtrog unter seinem Hintern kühl blieb. Gar nicht mal so schlecht. Ein echter Geschäftsmann arbeitet immer, überall und vor allem, wie er will. Das Business ruht nicht. Die Vormittagssonne brezelte ihm mit ihrer scharfkantigen Hitze auf den Rücken und auf der Straße wanderten die Karrenzieher und Botengänger vorbei. Ansonsten war es empfindlich ruhig für einen Vormittag in New Cove. Er glaubte fast die Dieselmotoren der Boote in der Bucht knattern zu hören.
Jemand auf der Straße fiel ihm ins Auge - oder eher etwas. Am Handgelenk eines vorbeigehenden Typen sah er Shagbands in Grün und Weiß träge herumbaumeln. Normalerweise sollte er eine Brille tragen, da er drei Meter von sich entfernt nichts mehr erkannte, doch Churchland hegte und pflegte seine kleinen Eitelkeiten. Jackpot. Nicht einmal dafür musste er sich die Füße ablaufen heute. Es war so eine Sache mit ihm und seiner selektiven Wahrnehmung: für gewisse Lebensbereiche funktionierte sie auf unmenschlicher Höchstleistung.
"Hey Nachomann!" Churchland wendelte euphorisch mit dem Smartphone in der Hand in der Luft herum und lächelte vergnügt. Die Gestalt im Batikhemd mit Regenbogenoptik und der Aviatorsonnenbrille blieb stehen und zeigte mit übertriebener Verwunderung auf sich selbst. Churchland war nicht einmal sicher, ob es Show war, oder daran lag, dass er in Boxerbriefs und Krawatte auf einer Waschwanne saß, doch er nickte und winkte Batikhemd zu sich.
"Herrlicher Tag, Mann. Bleichmittel? Wasabi?" Batikhemd gehörte nicht zu dem Anteil seiner Profession, die lang und breit in Codes und Allegorien um den Punkt kreisten, und Churchland wusste das sehr zu schätzen. Das Licht reflektierte sich im Lack seines Messengerbags wie in einem pechschwarzen Schwimmbad und Churchland hob seinen Aktenkoffer auf die Knie, während er den Klettverschluss aufriss. Im Inneren türmten sich Unmengen kleiner Kästchen und Dosen mit Pillen, Pulvern und Papierchen auf. "Swag? Schleifpapier? Rohrzucker?"
"Fast Forward?", fragte Churchland zurück und ließ das befriedigende Klacken des Koffers erklingen. Batikhemd glubschte kurz in seinem Redeschwall rüber und sicherlich sah er den großen Haufen Shells neben den Aktenmappen, Kugelschreibern und Ladekabeln. Sein Blick schweifte kurz abwesend über Churchlands Schulter, dann kramte er in seiner eigenen Tasche.
"Mhhh, Doublejump?" Er kratzte sich etwas verlegen den kurzen, ungepflegten Afro. "Shifting Baseline?"
"Darf ich die Doublejumps mal sehen?", fragte Churchland zurück und drückte die Lippen zu einer schmalen Geschäftsmäßigkeit zusammen. Paranoia vor schlechtem Stoff zog sich spätestens dann zu realistischen Bedenken zusammen, wenn man selbst schon einmal die entsprechende Produktionskette in die Wege geleitet hatte.
“Sicher doch, Mann”, sagte Batikhemd und als er die kleine Box aus der Tasche fischte war da wieder dieser kurze, zuckende Blick. In der Reflektion des Lacks sah Churchland die menschlichen Umrisse mit dem erhobenen Arm hinter sich, als er die Umhängetasche schloss.
“Sieh es nicht als Misstrauen gegenüber den Menschen an, sondern als Lebensversicherung”, hatte Deniros damals gesagt, als sie ihm ihren Aktenkoffer zeigte. Der Weinflaschenhalter im oberen Fach war eigentlich einer dieser Marketinggags, die Churchland nur aus schlechter deutscher Comedy kannte. Deniros hatte einen Taser eingebaut, doch Churchland hegte tiefes Misstrauen gegen Dinge, die Batterien brauchten. “Für ein paar Shells baut es dir jemand mit geschicktem Händchen zum Waffenlager um, Großer. Kann dir meinen Typen empfehlen, wenn du magst.”
Die Spaltaxt schlüpfte mit einer fließenden Bewegung aus dem verschlossenen Fach und in Churchlands rechte Hand. Qualitätsarbeit. Ihr Schaft war leuchtend orange, das Blatt schmucklos schwarz und sie grub sich tief ins Schlüsselbein des Menschen hinter ihm. Der Teleskopschlagstock in seiner ausholenden Hand sackte mit dem restlichen Arm nach unten. Das Gesicht verbarg sich hinter einer Gasmaske, die den Aufschrei ein bisschen dämpfte.
Im Umdrehen hatte Churchland sich an der Waschwanne irgendwie den Fuß aufgerissen, doch er spürte durch das Adrenalin nicht den Schmerz. Ungeschickt stolperte er auf die Beine. Maskenmann wankte ein paar Schritte zurück und ließ dabei den Schlagstock fallen. Aus seiner Schulter sprudelte das Blut den nackten Oberkörper hinab und Churchland wandte sich von ihm ab zu Batikhemd. Dieser war ein bisschen starr vor Schreck und krallte ein bisschen die Hände in seine Tasche und biss sich ein bisschen nervös auf der Unterlippe herum.
“Es sah wohl wie eine gute Idee aus dem Anzugwichser eins über die Rübe zu ziehen und seine Shells einzusammeln”, sagte Churchland mehr gestaffelt als souverän.
Er fühlte sich außer Atem und spürte erst jetzt, wie fest sich seine Hand in den Griff der Axt krallte. Langsam kroch der Schmerz im Fuß das Bein hoch. Er machte einen plumpen Schritt auf ihn zu und erhob dabei seine Waffe, doch es fühlte sich bereits halbherzig an.
Für Batikhemd reichte es trotzdem und er fiel über seine eigenen Füße, ließ im Sturz seine Tasche fallen und wuselte dann zwischen zwei Wellblechhütten davon. Über den Boden vor Churchlands Füßen ergoß sich eine kleine Sandbank an bunten und weißen Pillen, Pülverchen und jeder Menge Plastikdosen. Der ganze Kram vermischte sich mit dem Blut, das seinen Fuß herunterließ und ihm wollte trotzdem gerade keine gute Metapher dazu einfallen.
“Scheiße”, sagte er zu und über nichts im Speziellen. Er drehte sich um und tappte die zwei Schritte zu seiner Waschwanne, um sich zu setzen. Maskenmann war nirgendwo zu sehen - nur seine Blutspur führte weg von der Straße. Der kantige Griff der Wanne hingegen hatte es irgendwie geschafft Churchland den Fuß von der Sohle den Knöchel hinauf ein gutes Stück aufzureißen und es blutete und blutete und blutete. Wahrscheinlich nichts Schlimmes, aber er schob den Aktenkoffer trotzdem in einen gewissen Sicherheitsabstand und legte die Axt darauf.
Er war sich nicht ganz sicher, wie lange die Kleine schon wieder da war. Als er von seinem Fuß aufblickte, stand sie dort in der Landschaft, seinen Anzug in einen Schutzbeutel gepackt. Ihr Mund war ein gerader Strich und das restliche Gesicht für Churchland ähnlich informativ.
“Alles in Ordnung, Mister?” Sie kam zwei Schritte auf ihn zu und ihr Mund machte eine automatische Neigung zum Lächeln. Er starrte sie eine Weile an, bevor er Anstalten machte sich eine Antwort zu überlegen. Sie war definitiv in der Gegend aufgewachsen, denn es war Churchland vollkommen unmöglich irgendwelche Regungen in ihrem Gesicht abzulesen.
“Das nächste Mal, wenn du versuchst jemanden zu verkaufen, frag’ ihn vorher, ob er nicht bereit ist das Doppelte zu zahlen”, sagte er sehr ruhig und nahm den Anzug entgegen. Die Arbeit sah ausgezeichnet aus.
Ehrlich gesagt hatte er keine Ahnung, ob sie wirklich was mit der Sache zu tun oder er einfach nur Pech gehabt hatte. Höchstwahrscheinlich Letzteres, aber ein bisschen Einschüchterung schadete nie. Die Kleine nickte nur vorsichtig und blieb noch eine Weile ziellos stehen, während Churchland sehr antiklimatisch auf dem Boden herumkroch und Pillendosen, die noch sauber waren, in seinen Koffer stopfte. Er wischte alles soweit sauber und packte zusammen. Wenigstens nicht mehr einkaufen. Nachdem er mit staubigen Knien und blutbeschmierten Ellenbogen wieder aufstand, betrachtete sie immer noch die Situation.
“Gibt’s in der Nähe ein Badehaus?”, fragte er sie.
“Die Straße runter bis zur Tankstelle und dann links Richtung Strand.”
“Dank dir.” Er zog kurz in Betracht ihr noch ein zwei Shells hinzuwerfen, doch er fühlte sich gerade nicht danach. Stattdessen trat er gegen die Waschwanne, die schepperte und tierisch an seinen Zehen wehtat. Dann stapfte er los, den Anzug in der einen Hand und den Aktenkoffer in der anderen.
“Oh und, Kleine?” Er hatte sich nach ein paar Metern nochmal umgedreht, weil ihm noch was einfiel.
“Ja, Mister?” Sie hatte begonnen in der Umhängetasche herumzustochern und sah zu ihm auf.
“Ein Bagel ist ein Brötchen mit einem Loch in der Mitte, das du wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen wirst”, sagte Churchland und wandte sich zum Gehen. Es hatte sich in seinem Kopf nach einem besseren Abgang angehört.