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Mar 07, 2011 23:08



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Die berufliche Zusammenarbeit unter Kollegen war, wenn man gerade im Streit miteinander lag, die reinste Folter. Boerne fand heraus, dass für die Messerstiche am Körper des alten Mannes kein Einzeltäter, sondern ein Täterpaar verantwortlich war. Aber nicht einmal diese spannende Erkenntnis lenkte ihn von seinen privaten Sorgen ab. Es war zum Verrücktwerden. Thiel verhielt sich wie immer, wenn er in die Rechtsmedizin kam. Boerne gab sich Mühe, sich wie immer zu verhalten, aber jedes Mal, wenn er Thiel ansah, spukte der Auflauf-Abend durch seinen Kopf und die Beleidigungen, die er sich hatte anhören müssen. Er sollte nicht gut unterhalten können? Das war doch wohl ein schlechter Witz! Und Kritikfähigkeit? Wozu brauchte er denn Kritikfähigkeit? An ihm gab es doch gar nichts zu kritisieren.

Boerne brauchte zwei Tage, um die Kränkung zu verarbeiten und einen absolut wasserdichten Schlachtplan zu entwerfen. Am Abend des dritten Tages fing er Thiel erneut im Hausflur ab, als dieser gerade nach Hause kam.

„Da sind Sie ja, Herr Thiel. Endlich Wochenende?“

„Endlich“, wiederholte Thiel und streckte die müden Arme. „Und was machen Sie schon wieder hier draußen auf weiter Flur?“

„Ich habe auf Sie gewartet.“ Boerne zog die Tür zu seiner Wohnung weit auf. „Kommen Sie doch rein.“

Es überraschte ihn, dass Thiel sein Angebot ohne Weiteres annahm und keine Fragen stellte. Fast konnte man den Eindruck bekommen, er habe eine entsprechende Einladung erwartet. Boerne nahm ihn mit in sein Wohnzimmer, wo er ihn anwies, auf der Couch Platz zu nehmen. Während Thiel es sich gemütlich machte, legte Boerne leise Musik auf. Klavier, Chopin, schließlich galt es, etwas zu beweisen. Mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern kehrte er zu Thiel zurück.
„Gute Arbeit, übrigens“, sagte Thiel, während er das Weinglas entgegen nahm. „Die Klemm war sehr erfreut, als sie heute Mittag erfahren hat, dass wir den zweiten Täter schnappen konnten. Ich nehme an, das ist der Anlass für Ihre Einladung, was?“ Er nickte zu der Weinflasche auf dem Tisch herüber.

„Sozusagen“, antwortete Boerne. Sein Anlass war eigentlich anderer Art, aber das musste Thiel jetzt noch nicht wissen. „Eine Flasche Chateau Latour ist es mir auf jeden Fall wert. Meinen Sie, es reicht für die Titelseite?“

„Was weiß ich. Dafür hätte das Opfer schon Fernsehmoderator oder wenigstens Politiker sein müssen. Mörder von Schienenarbeiter Jessen geschnappt … na ja, das wird wohl eher irgendwo im Lokalteil enden.“

„Nicht, wenn man es richtig verkauft“, meinte Boerne. Er setzte sich aufrecht hin und fuhr voll Übereifer fort. „Überlegen Sie mal: Mord vorm Münsterlandexpress! Vier Stiche, zwei Mörder, ein Messer!“ Er malte mit der Hand die Schlagzeile in die Luft. „Was sagen Sie? Das macht sich doch gut.“

„Mord vorm Münsterlandexpress?“ Thiel lachte. „Wie poetisch!“

„Nie Agatha Christie gelesen, hm?“

„Nö.“

Thiel schien diese Überlegungen amüsant zu finden, also spann Boerne den Faden fort. „Rechtsmediziner Professor Boerne und Hauptkommissar Thiel überführen den Täter“, schlug er als zweite Überschrift vor. Zwar hatte er seiner Meinung nach auf jeden Fall den größeren Teil zur Aufklärung des Falls geleistet, aber sicher würde es Thiel schmeicheln, zu wissen, dass Boerne dennoch an ihn gedacht hatte. „Vielleicht wollen sie ein Foto von uns abdrucken, Thiel. Die können doch unmöglich wieder dieses langweilige, alte Bahnhofsgebäude mit dem Absperrband zeigen.“

„Ein Foto von uns?“, wiederholte Thiel. „Zusammen? Nee, danke. Mit Ihnen lass ich mich ganz bestimmt nicht ablichten.“
„Wieso das?“, fragte Boerne. „Haben Sie Angst, dass Sie dem Vergleich nicht standhalten können?“ Er lächelte. „Kommen Sie, Thiel. Ich bring Ihnen auch eine Trittleiter mit, dann sind Sie nicht so klein neben mir.“

„Pah. Machen Sie sich halt kleiner. Sie können sich ja vor mich knien.“

„Das hätten Sie wohl gerne! Ich glaube, Sie hatten schon zuviel Wein.“

„Kann sein.“ Thiel grinste und streckte die Hand aus. „Geben Sie noch mal die Flasche.“

Eigentlich hatte Thiel angekündigt, spätestens um sechs in seine eigenen vier Wände zurück zu kehren, denn dann lief die Sportschau und die wollte er auf keinen Fall verpassen. Boerne sah es als Zeichen seines Erfolges, dass er es schaffte, Thiel bis zum frühen Abend in seiner Wohnung zu halten. Sie redeten und redeten, dann schaltete Boerne den Fernseher ein und sie schauten zusammen die Sportschau, dann redeten sie noch ein Stündchen länger. Die Weinflasche leerte sich schnell. Thiel wirkte entspannt und gelöst, wie er sich da so auf dem Sofa ausgebreitet hatte, beinahe mehr liegend als sitzend. Er lachte häufig und war in einer guten Stimmung, die entweder dem Wein oder Boernes amüsanten kleinen Geschichten über die Münsteraner Gesellschaft zu verdanken war. Boerne hoffte auf Letzteres.

Um halb neun beschloss Thiel, dass er sich nun losreißen musste, wenn er vor dem Schlafengehen noch zu Abend essen wollte. Er half Boerne, die leeren Weingläser in die Küche zu tragen, und verabschiedete sich anschließend. Boerne hielt sich ganz bewusst zurück mit jener Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte: er wollte wissen, wie Thiel das gemeinsame Beisammensein gefallen hatte. Nicht, dass er daran zweifelte, dass er Thiel sehr gut unterhalten hatte. Aber er wollte die Bestätigung nicht nur sehen, sondern auch hören, und zwar ohne dass er Thiel vorher darum bitten musste.

Während er Thiel zur Tür begleitete, begann er umsichtig: „Der Wein war, wenn ich so darüber nachdenke, ein exzellenter Jahrgang, finden Sie nicht auch?“

Thiel nickte. „Ja, der war gut. Können Sie sich vormerken für das nächste Mal.“

Das war die Eröffnung, auf die Boerne gewartet habe. „Für das nächste Mal?“, warf er sofort ein. Nur schwer gelang es ihm, sein zufriedenes Lächeln zu verbergen. „Sie sind also der Meinung, dass wir einen solchen Abend wiederholen sollten?“

„Unbedingt“, sagte Thiel. Er war mittlerweile vor Boernes Wohnungstür angekommen und suchte in seiner Hosentasche bereits nach seinen eigenen Schlüsseln. „Man hört doch schon in der Schule, dass man nur durch Wiederholen dazulernt. Vielleicht eignen Sie sich ja in der Zwischenzeit ein wenig Herzlichkeit und Sensibilität an.“ Dabei zog er die Schlüssel aus der Tasche, ganz nebenher, als habe er bloß einen Kommentar zum schlechten Wetter der letzten Tage gemacht.

„Herzlichkeit?“, wiederholte Boerne perplex. „Also … nun mal langsam, Thiel - ich habe Sie gerade einen Viertelliter meines besten Weines trinken lassen! Wenn das nicht ein Akt reiner Herzlichkeit war, dann weiß ich nicht, was Sie darunter verstehen. Wissen Sie, was eine Flasche dieses Jahrgangs kostet?“

„Dass Sie mehr auf dem Konto haben als ich, haben wir ja bereits festgestellt“, erwiderte Thiel.

„Was beschweren Sie sich überhaupt?“, ereiferte sich Boerne. „Sie hatten einen schönen Abend, an dem Sie sich prächtig amüsiert haben!“

„Sehr prächtig, wirklich.“

„Na also!“

Thiel seufzte. „Boerne, die gesamte halbe Stunde vor der Sportschau haben Sie mir ausschweifend erzählt, wie dumm und faul Ihre Studenten sind, dann mussten Sie erwähnen, dass Ihr Obduktionshelfer auch nicht viel mehr auf dem Kasten hat und Sie ihn deswegen gestern entlassen haben, und dann sind Sie gleich ganz allgemein geworden und haben sämtlichen Ärzten in Münster ihre Existenzberechtigung abgesprochen, weil sie allesamt nichts taugen.“

„Richtig. Sie haben mir also zugehört“, stellte Boerne befriedigt fest. „So langweilig kann es dann nicht gewesen sein.“

„Sie sind ein echtes Lästermaul, wissen Sie das?“

„Ihr Scheinheiligenschein ist auch nur aufgesetzt, Thiel - Sie haben doch selbst gelacht. Und außerdem kann von Lästern keine Rede sein. Man wird ja wohl noch die Wahrheit sagen dürfen. Für manche Menschen gehört einfach der vorzeitige Zwangsruhestand eingeführt.“

Thiel sah ihn düster an. „So wie für meine Abteilung. Inklusive mir. - Ihre Worte.“

Boerne lächelte. „Ach, kommen Sie. Achtzig Prozent unseres Fortschritts im letzten Fall haben Sie mir zu verdanken. Warum kaufen Sie sich nicht ein Haus am Mittelmeer und genießen auf Ihre alten Tage ein wenig den besonders hohen Salzgehalt der mediterranen Seeluft?“

Thiel verzog keine Miene.

„Das war ein Scherz“, stellte Boerne klar, denn langsam hatte er das Gefühl, dass diese Tatsache an Thiel vorbeigegangen war. „Ein Scherz, Thiel. Sie dürfen jetzt lachen und sich für Ihren Vorwurf entschuldigen.“

„Mein Vorwurf war durchaus ernst gemeint“, antwortete Thiel.

„Sie wollen bloß nicht zugeben, wie amüsant Sie es bei mir fanden.“

„Es war amüsant, Ihnen zuzuhören, ja.“

Wie er es sagte, klang es mehr nach einer Beleidigung, und Boerne fasste es auch so auf. „Geben Sie endlich zu, dass Sie verloren haben! Sie suchen nur wieder nach einem Grund, sich zu beschweren“, erwiderte er. „Sie nörgeln, sobald Sie den Mund aufmachen.“

„Besser, als beleidigend zu sein, sobald man den Mund aufmacht.“

„Sie sind ein mieser Verlierer, Thiel.“

Thiel schüttelte den Kopf. „Kommen Sie, Boerne, ich hab Ihre Strategie an diesem Abend von Anfang an durchschaut.“
„Das fällt Ihnen aber reichlich spät ein!“

„Ich wollte sehen, ob Sie auch von alleine auf den Trichter kommen.“ Thiel lächelte. „Meinetwegen, Sie können gut kochen und meinetwegen, Sie plaudern ganz amüsant. Immerhin hatte ich was zu lachen. Aber mieser Charakter bleibt mieser Charakter.“

„Nehmen Sie das zurück, Thiel!“ Boerne wollte seinen Arm fassen, aber Thiel riss sich los. „Wo wollen Sie denn jetzt hin?“

„Jedenfalls fort von Ihnen. Man hält sich eben lieber in der Gegenwart von netten, sensiblen Männern auf.“ Die Schlüssel in Thiels Hand klimperten, er öffnete Boernes Wohnungstür und trat in den Hausflur. „Gilt übrigens nicht nur für Frauen“, hängte er an.

„Wie, was, Frauen?“, wiederholte Boerne verwirrt. Wovon redete Thiel jetzt schon wieder?

Thiel deutete zur Decke. „Frau Fiedler im obersten Stock. Sie wollten doch wissen, warum sie lieber mit mir Eierspätzle isst, als mit Ihnen Schopäng hört. Herzlichkeit. Denken Sie mal drüber nach.“

Im Hausflur war es düster. Thiels Gesicht lag im Dunkeln und nur in seinen Augen leuchtete ein wenig von dem schwachen Licht, das aus Boernes Wohnzimmer durch die offene Tür fiel. Dann wandte Thiel sich ab, für ihn war die Diskussion offensichtlich beendet.

„Das wird Ihnen noch leid tun“, rief Boerne ihm quer über den Flur hinterher. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, Thiel! Merken Sie sich das!“

„Ich bin gespannt“, kam Thiels Stimme höhnisch von der anderen Seite des Flurs, bevor sich die Wohnungstür mit einem geräuschvollen Klacken hinter ihm schloss.

****

Auf der Titelseite der Sonntagsausgabe prangte das alte Bahnhofsgebäude, umrahmt mit dem Absperrband. Boerne und Thiel wurden im Artikel erwähnt, allerdings an getrennten Stellen. Und danach nahm das Leben wieder seinen Lauf. Der Fall war gelöst, sie sahen sich dementsprechend seltener. Vielleicht war das ganz gut so, denn Boerne brauchte definitiv ein bisschen Abstand von seinem überanspruchsvollen Nachbarn mit seinen selbstgefälligen Urteilen. Den Rest der Woche verbrachte er in einer nachdenklichen, seltsam ruhelosen Stimmung, und nachdem die erste Verärgerung über Thiels Kommentare verflogen war, erwachte in ihm wieder der alte Kampfgeist. Ein mieser Charakter? Er war der feinsinnigste, höflichste und korrekteste Mensch in ganz Münster! Und überhaupt, was wusste Thiel denn schon über Charakter? Nein, diese Beleidigung würde Boerne nicht auf sich sitzen lassen, erst recht nicht, wenn sie von Thiel kam. Am allerwenigsten, wenn sie von Thiel kam.

Am Mittwochabend regnete es noch immer. In Münster waren viele Tage Regentage, in diesem Herbst waren es fast alle. Selbst wenn es nicht regnete, hing die Feuchtigkeit dennoch in der Luft und schwebte als dicke Nebelsuppe über dem Boden. Bei diesem Wetter war wenig auf den Straßen los. Man blieb im Haus und nur, wer eine wichtige Verabredung hatte, wagte sich hinaus. Boerne hatte eine wichtige Verabredung - mit seinem Lieblingsrestaurant. Er beabsichtigte, dort ein frühes Abendessen einzunehmen, bevor eineinhalb Stunden später die Premiere von Verdis Nabucco beginnen sollte. In Gedanken ging er bereits die Speisekarte durch (die er auswendig konnte) und überlegte, worauf er diesmal Appetit hatte. Als er in eine Seitenstraße biegen wollte, fiel ihm eine vertraute Gestalt auf der Straße vor ihm auf: ein Mann, der ein Fahrrad schob.

Thiel.

Boerne verlangsamte seine Schritte, bis er schließlich stehen blieb. Thiel hatte ihn noch nicht bemerkt, was bei dieser Wetterlage und seiner augenblicklichen Verfassung kein Wunder war. Zwei schwere, randvoll gefüllte Einkaufsbeutel baumelten links und rechts an der Lenkerstange seines Fahrrads. Sie sahen aus, als wollten sie bald unter dem Gewicht ihres Inhalts reißen. So beladen kämpfte Thiel sich vorwärts. Er wirkte müde und unkonzentriert, ging langsam und achtete kaum auf seine Umgebung. Boerne überlegte noch, ob er ihn ansprechen sollte, aber da passierte es schon. Er öffnete den Mund, um Thiel zu warnen, und -

Zu spät. Thiel blieb mit der Fußspitze an der unebenen Bordsteinkante hängen, stolperte und das schwere Fahrrad glitt ihm aus den Händen. Mit einem geräuschvollen Scheppern landete es auf der Seite und der Inhalt der Einkaufsbeutel ergoss sich in den Rinnstein. Thiel stand einen Moment wie versteinert da und starrte sein Fahrrad an, als könne er selbst nicht glauben, was passiert war, dann fuhr er sich mit den Händen übers Gesicht und stöhnte laut. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als widerwillig seine Einkäufe aufzulesen und zurück in die Beutel zu stopfen.

Vorsichtig näherte Boerne sich. Er hörte Thiel leise fluchen - eine der Joghurtpackungen war beim Sturz beschädigt worden und nun sammelte sich eine weiße, dickflüssige Pfütze zwischen zwei Pflastersteinen. Boerne ließ seinen Blick über die am Boden verteilten Einkäufe schweifen - Konserven, frisches Obst, Bier - und fragte sich, ob Thiel immer für die ganze Woche einkaufte. Anders konnte er sich diese Massen an Lebensmitteln nicht erklären.

„Na, Thiel? Sind Sie unter die Hamster gegangen?“

Thiel zuckte zusammen und hob den Kopf. Als er Boerne sah, verdüsterte sich sein Gesicht. Er war eindeutig nicht erfreut, ihn zu sehen. „Was machen Sie denn hier?“

„Im Moment sehe ich zu, wie Sie einem am Boden liegenden Gurkenglas hinterher kriechen“, sagte Boerne. „Und Sie?“

„Halten Sie bloß die Klappe!“, entgegnete Thiel mürrisch und wischte sich die nassen Finger an der Hose ab. Das Regenwasser erzeugte fleckige Spuren auf dem Stoff und als Thiel sich anschließend genervt mit der Hand durch die Haare fuhr, hinterließ er Dreckstreifen auf seiner Stirn.

Boerne beobachtete ihn für einen Moment, dann beugte er sich herab und hob eine Dose mit Pilzen auf, die vor seinen Füßen lag. Champignons, 1. Wahl. Er hielt sie Thiel entgegen.

Thiel starrte ihn an. „Was machen Sie da?“, fragte er verwirrt.

„Sie stellen heute wirklich seltsame Fragen.“ Da Thiel die Dose nicht annahm, griff Boerne nach einem der Einkaufsbeutel und packte sie selbst ein. Dabei sammelte er auch gleich die Tüte mit den Birnen auf, die zufällig in Reichweite seiner Hand lag. Und die Linsensuppe und eine Packung Taschentücher und ein Sixpack Bier und belegte Baguettes zum Aufbacken … Ehe er sich versah, war der Beutel wieder bis zum Rand gefüllt. Als Boerne Thiel einen kurzen Seitenblick zuwarf, bemerkte er, dass sein Nachbar ihn mit einem beinahe faszinierten Ausdruck beobachtete.

„Was denn?“, fragte Boerne mit einem Anflug von Verlegenheit. „Wollen Sie mir nicht beim Einpacken helfen?“

„ … ah, ’tschuldigung.“ Hastig wandte Thiel seinen Blick wieder ab und sammelte ein Paket Kaffee ein, das sich unter dem Lenker des Fahrrads verklemmt hatte. „Ich kann das übrigens auch allein.“

„Selbstredend.“ Boerne richtete sich auf und griff nach dem Fahrrad, um es aufzustellen. Der Sattel war ein wenig feucht, weil er direkt in einer Pfütze gelandet war, und Boerne wischte die Tropfen mit der Hand herunter. „Bitteschön“, sagte er und reichte Thiel mit der anderen Hand den Einkaufsbeutel. Thiel murmelte etwas, in das man wohl mit viel gutem Willen ein Dankeschön interpretieren konnte.

„Achten Sie darauf, dass Sie nicht noch einmal hinfallen“, sagte Boerne, während er beobachtete, wie Thiel die beiden Taschen wieder an der Lenkerstange befestigte. „Die Straßen sind sehr glitschig bei diesem Nieselwetter. Oh, da fällt mir auf, wo haben Sie denn Ihren Schal gelassen? Man fängt sich schnell eine Erkältung ein, wenn man sich bei diesen Temperaturen sportlich betätigt und die Quälerei mit Ihrem Fahrrad gehört definitiv dazu.“ Er zögerte einen Augenblick, aber schließlich zog er den eigenen Schal von seinem Hals. Thiel verfolgte das Ganze mit perplexer Miene und rührte sich auch dann nicht, als Boerne ihm den Schal entgegen hielt.

„Nehmen Sie den“, sagte Boerne ungeduldig, da Thiel anscheinend nicht begriff, was seine Geste bedeutete. „Sie können ihn mir heute Abend zurückgeben. Der ist sehr warm, damit werden Sie nicht mehr frieren.“

Thiel runzelte die Stirn. „Boerne, jetzt reden Sie keinen Unsinn.“

„Das ist kein Unsinn“, widersprach Boerne entschieden. „Der Schal besteht aus erstklassiger Angorawolle und bietet daher den größten thermophysiologischen Komfort, den -“

„Das mein ich doch gar nicht!“

„Was meinen Sie dann?“

„Müssen Sie mich wie ’ne alte Dame behandeln, die nicht allein die Straße überqueren kann?“ Thiel warf einen missmutigen Blick auf den Schal in Boernes Händen. „Ihren Stofflappen können Sie behalten.“

Boerne schwieg einen Moment. Anscheinend hatte Thiel heute sehr schlechte Laune, was Boerne bei dem trüben Wetter sogar ansatzweise verstehen konnte. Trotzdem, so fand er, hätte er für sein aufopferungsvolles Verhalten eine etwas nettere Reaktion verdient. „Ich bin bloß freundlich“, stellte er klar.

Thiel, der sich schon halb und halb von ihm abgewandt hatte, hielt plötzlich inne. Einen Augenblick lang musterte er Boerne schweigend, dann zuckte er mit den Schultern. „Na ja, man merkt’s“, sagte er leicht. Er streckte die Hand aus, doch anstatt den Schal endlich entgegen zu nehmen, strich er mit den Fingern vorsichtig über die feine Wolle, als prüfe er die Qualität. „Fühlt sich irgendwie nicht sehr warm an“, bemerkte er.

„Das ist ja das Geheimnis daran.“ Boerne beschloss, die Diskussion kurzerhand abzubrechen. Er trat näher und faltete den Schal auseinander. Zwar zog Thiel noch immer ein Gesicht, als sei ihm jeder Kontakt mit Boernes Schal nicht besonders angenehm, dennoch ließ er es ohne Proteste zu, dass Boerne ihn sorgsam darin einpackte. Der Schal war recht lang, er reichte zweimal um Thiels Hals und Boerne achtete darauf, einen schönen, professionellen Schalknoten zu knüpfen. Thiels Atem, in der Kälte eine weiße Wolke, streifte über seine Finger, während er arbeitete. Ein schöner, professioneller Knoten. Boerne konzentrierte sich auf seine eigenen Finger, er schlang die beiden Schalenden locker umeinander und strich sie über Thiels Brust glatt, bevor er zurücktrat, um sein Werk zu bewundern. „So“, sagte er zufrieden, „jetzt sind Sie zuverlässig vor Nässe und Kälte geschützt. Möchten Sie vielleicht auch meinen Schirm mitnehmen?“

„Boerne.“ Thiel lächelte gequält. „Jetzt übertreiben Sie’s nicht.“

„Aber bitte, ich brauche ihn nicht“, versicherte Boerne ihm. „Es sieht nach Regen aus und im Gegensatz zu Ihnen kann ich mir auf dem Rückweg ein Taxi nehmen.“

„Wenn ich jetzt noch ’nen Schirm mit mir rumschleppen muss, dann rutscht mir das Fahrrad doch sofort wieder aus den Händen.“
Boerne überlegte. Da war was dran. Er war noch dabei, einen Alternativplan zu entwickeln, aber Thiel hatte es offenbar eilig, jedenfalls ließ er sich auf kein längeres Gespräch ein. Den Schirm wollte er unter keinen Umständen annehmen, und dass er sein Fahrrad an die nächste Laterne kettete und Boerne ihm ein Taxi rief, fand er ebenfalls albern. So blieb Boerne nichts übrig, als Thiel ohne Regenschutz ziehen zu lassen. Immerhin, so sagte er sich, hatte er es versucht.

„Eine gute Heimfahrt, Thiel.“

„Mhm … ja, gleichfalls, Boerne.“ Thiel schob sein Fahrrad an, dann hielt er nochmals inne. „Und … danke wegen dem Schal“, hängte er leicht an.

Boerne sah ihm nach, bis er hinter der nächsten Ecke verschwand. Ein siegessicheres Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er klappte den Kragen seines Mantels hoch, dann machte er sich wieder auf den Weg, leise die Ouvertüre von Nabucco vor sich hinsummend, während er mit langen Schritten die Pfützen auf den Straßen umtänzelte. Gewonnen. Voller Erfolg. Thiel hatten eindeutig die Worte gefehlt angesichts dieses herzlichen und charismatischen Auftritts - und das war allein Boernes Verdienst.

****

Am folgenden Abend stellte Boerne fest, dass Thiels Mangel an Kritik während ihres letzten Treffens ihn nicht weniger beschäftigte. Er hatte geglaubt, sein Ziel nun zu seiner Zufriedenheit erreicht zu haben. Immerhin hatte er Thiel bei seinem letzten Auftritt sichtlich beeindruckt und war es nicht das gewesen, was er wollte? Uneingeschränkte Anerkennung, wie sie ihm zustand? Nur … wo war der Haken? Es musste doch einen Haken geben. Oder sollte Thiel seinen Irrtum tatsächlich eingesehen haben? Boerne wusste nicht, ob er dieser einfachen und naheliegenden Lösung trauen konnte. Was dachte Thiel nun von ihm? Bemerkte und akzeptierte er seine Überlegenheit? Ständig kreisten seine Gedanken um diese Fragen, obwohl er sich eigentlich vorgenommen hatte, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er war doch der Gewinner - der Sieger ihrer kleinen Schlacht. Also Schluss mit den Nachdenklichkeiten!

Trotzdem, der Zweifel blieb, hartnäckig.

Er hatte es sich mit einem Buch auf seiner Couch bequem gemacht. Im Zimmer war es still, der Fernseher war ausgeschaltet, die Stereoanlage lief nicht, und jedes Mal, wenn er draußen ein Geräusch vernahm, horchte Boerne auf. Waren da nicht Schritte im Flur gewesen? Nein, das war nur Herr Maiss, der in der Wohnung über ihm seinen täglichen Abendspaziergang durchs Wohnzimmer unternahm. Und das leise Tapsen kam von den überlangen Zweigen des Ahornbaums, die von den Sturmböen gegen das Küchenfenster geschlagen wurden. Keine Schritte im Flur, keine schlagenden Nachbarstüren, kein Thiel.

Gegen neun Uhr gab Boerne auf und legte das Buch fort. Er hatte in der letzten Viertelstunde höchstens eine Doppelseite gelesen und er wusste, er würde nicht eher wieder voll bei der Sache sein, als er das Problem, das ihm im Kopf herumgeisterte, gelöst hatte. So zog er sich um, wechselte das bequeme Shirt gegen Hemd und Jackett und überquerte den Flur.

Thiel öffnete nach dem fünften Klingeln. Seine Begrüßung fiel nicht gerade begeistert aus. „Sie schon wieder?“, brummte er. „Na, hätt ich mir ja denken können. Was gibt’s denn?“

„Machen Sie mal Platz“, sagte Boerne und schob ihn zur Seite. „Hier draußen zieht es.“ Tatsächlich war es kühl im Flur, doch aus Thiels Wohnung strömte eine einladende Wärme.

„Ich hab grad Kochwasser aufgesetzt“, wandte Thiel ein, aber trotzdem ließ er Boerne eintreten. „Machen Sie’s kurz, ja?“

Boerne wartete, bis Thiel die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Er überlegte noch, wie er sein Anliegen am besten einleiten sollte. Ganz abgesehen davon, dass er sich selbst nicht richtig sicher war, worin sein Anliegen überhaupt bestand. Thiel schien weniger geduldig zu sein, er verschränkte die Arme und sah Boerne abwartend an. „Was ist denn nu? Die Nudeln warten.“

Das Reizwort riss Boerne aus seinen Gedanken. „Nudeln?“, wiederholte er alarmiert. „Kochen Sie etwa schon wieder Eierspätzle?“

„Und wenn’s so wär?“, entgegnete Thiel. „Vielleicht ess ich die einfach gerne und -“ Er unterbrach sich selbst und lauschte angespannt. Aus der offenen Küchentür drang ein gefährliches Zischen und Prasseln, das Wasser brodelte dumpf. Ohne ein weiteres Wort machte Thiel auf dem Absatz kehrt und hastete panisch in seine Küche.

„Ähm … Thiel?“ Boerne setzte ihm verwirrt nach.

„Oh Scheiße!“ Thiel stürzte an den Herd, wo das Nudelwasser unter dem Topfdeckel hervorquoll und knisternd auf die heiße Platte tropfte. Schnell zog er den Deckel ab und schob den Topf auf die Seite.

„Hören Sie mir überhaupt zu?“, fragte Boerne, der in der Tür stehen geblieben war. „Sie laufen ja einfach davon, wenn ich mit Ihnen rede.“

„Ich koche, Boerne!“

„Es ist sinnlos, vor der Realität flüchten zu wollen, Thiel, das endet nur in einem psychologischen Verdrängungstrauma.“

Thiel drehte den Herd auf halbe Stärke und zog den Topf vorsichtig zurück auf die Platte. „Was für ’ne Realität?“, fragte er abwesend.
„Jetzt geben Sie doch endlich zu, dass ich sehr wohl sympathisch und herzlich und sensibel und feinfühlig und zuvorkommend und höflich -“

„Jaja, machen Sie mal ’nen Punkt.“

„Also, geben Sie’s zu?“

„Meinetwegen.“

„Gut. Und deswegen - äh, was?“

„Meinetwegen, hab ich gesagt“, wiederholte Thiel gleichgültig, während er nach der Tüte mit den Nudeln griff.

„Gut.“ Boerne zögerte. „Also. Ich wollte das lediglich klarstellen.“ Er wartete, aber Thiel drehte sich nicht einmal zu ihm um. Er stand am Herd, kehrte Boerne den Rücken zu und war augenscheinlich ganz durch die Bewachung seines Kochwassers in Anspruch genommen. Boerne fand sein Verhalten ziemlich unhöflich. Er beobachtete, wie Thiel die Nudelverpackung aufriss und den Inhalt über dem Topf ausschüttete - ein halbes Pfund Nudeln, wie konnte man solch eine Menge nur an einem Abend verdrücken?

„Wenn Sie unbedingt der Meinung sind, der Beste, Tollste und Klügste von allen zu sein“, begann Thiel wie nebenbei und stopfte die leere Verpackung in den Müll, „warum zeigen Sie das nicht lieber der geschätzten Damenwelt, anstatt mich zu belästigen? Allen voran Ihrer Frau Fiedler?“

Frau Fiedler. Boerne war überrascht - er hatte schon seit ein paar Tagen nicht mehr an sie gedacht. Meistens war er zu sehr damit beschäftigt gewesen, über neue Strategien nachzudenken, wie er Thiel beweisen konnte, dass er besser war. Besser als er und besser in allem und vor allem besser als der, für den Thiel ihn hielt. Solange er Thiel nicht überzeugen konnte, war es schließlich auch völlig gleich, was Frau Fiedler von ihm hielt. Frauen kamen und gingen in seinem Leben, aber er und Thiel … na ja, das war etwas anderes.

Er musste wohl zu lange geschwiegen haben, denn nun warf Thiel einen kurzen Blick über die Schulter, als ob er sich vergewissern wollte, dass Boerne noch da war. Ja, Boerne war noch da. Ihm fiel bloß keine Antwort ein. Thiel zog amüsiert die Augenbrauen hoch und Boerne, der es hasste, wenn ihm die Worte fehlten, griff nach der erstbesten Verteidigung, die ihm einfiel.

„Na und?“ Leicht verärgert hob er die Schultern. „Was wollen Sie damit andeuten, hm? Sie sind es doch, der hier mit haltlosen Anschuldigungen um sich wirft und mir am laufenden Band Charakterschwächen unterstellt, die immer abstruser werden.“
„Selbst Schuld.“ Thiel schnaubte. „Sie sind echt so vorhersehbar, Boerne.“

„Solange Sie wenigstens Spaß dabei haben“, entgegnete Boerne missmutig.

Thiel wandte den Kopf und sah den Nudeln beim Kochen zu, aber der leichte Rotschimmer auf seinen Wangen war Boerne nicht entgangen. Er sah zu, wie Thiel sich mit dem Essen beschäftigte: wie er den Herd abstellte, umständlich mit dem Topf hantierte, das Wasser abgoss und die Nudeln in die Pfanne verfrachtete. Eierspätzle. Wie konnte Thiel immer noch diese Eierspätzle essen, nachdem Boerne für ihn Strudelblätter-Auflauf gekocht hatte? Den hätte er anhimmeln sollen - seinen Strudelblätter-Auflauf. Genauso wie seinen edlen Wein. Genauso wie …

Boerne wandte den Blick ab und schaute zum Fenster hinaus. Draußen war es mittlerweile finster geworden. Hinter der Glasscheibe lag nur Schwärze und sein eigenes Spiegelbild blickte ihm ernst entgegen, im dunklen Anzug, mit seiner Lieblingskrawatte, die er nur zu besonderen Anlässen trug.

Vorhersehbar? Was sollte das bedeuten?

Thiel streute Käse in die Pfanne. Inzwischen waren die Nudeln leicht angebraten. Ein halbes Pfund Nudeln, viel zu viel für eine Einzelperson. Aber vielleicht nicht zu viel für zwei Personen.

Boerne änderte seine Strategie.

„Ich muss sagen, Thiel, Sie enttäuschen mich“, begann er unvermittelt. „Warum geben Sie denn so plötzlich auf? Wo ist denn Ihr Wetteifer geblieben, hm? Oder fällt Ihnen nichts mehr an mir auf, worüber Sie sich auslassen können?“

„Da gäbe es sicher genug, um Sie für die nächsten zehn Jahre zu beschäftigen“, meinte Thiel. „Und außerdem - ah, verdammt, das brennt ja an …“ Er packte die Pfanne, um sie von der Platte zu heben und leicht zu schütteln.

Boerne griff nach dem Pfannenwender, der über dem Herd an der Besteck-Reling baumelte. Während er das Küchengerät mit einem hilfsbereitem „Bitteschön“ an Thiel weiterreichte, nutzte er die Gelegenheit, unauffällig ein wenig näher zu treten. Thiel nahm den Pfannenwender eilig entgegen und schaufelte die Nudel-Käse-Masse um.

„Was steht denn als nächstes auf Ihrer Qualitätskontrollenliste für den idealen Verehrer?“, fragte Boerne und lehnte sich gegen die Anrichte neben dem Herd. „Ich kann kochen, ich kann unterhalten, ich bin aufmerksam und zuvorkommend. Damit geben Sie sich schon zufrieden?“

„Was sollte man sich denn noch wünschen?“, fragte Thiel.

„Das weiß ich nicht. Was brauchen Sie denn?“, gab Boerne zurück und lächelte einladend.

Thiel zuckte mit den Schultern, als ginge ihn die Frage nichts an.

Boerne beschloss, ihm ein wenig auszuhelfen. „Sie könnten sich zum Beispiel über meinen mangelnden Charme beschweren“, schlug er vor. „Oder über meine fehlende Leidenschaftlichkeit. Über meine kühle Zurückhaltung gegenüber dem schönen Geschlecht, die dazu führen könnte, dass man mir Schüchternheit oder Prüderie unterstellt.“ Er lehnte sich zu Thiel herüber und senkte die Stimme. „Fänden Sie es nicht interessant zu erfahren, wie ich Ihnen das Gegenteil beweise?“

Thiels Gesicht hatte mittlerweile eine merklich leuchtende Farbe angenommen - entweder wegen des heißen Wasserdampfs über dem Herd oder dank Boernes Worten. Aber seine Stimme war ruhig und beherrscht, als er antwortete. „Boerne, schon deswegen, weil Sie diesen bescheuerten Vorschlag gemacht haben, kann ich Ihnen schlecht Schüchternheit unterstellen, finden Sie nicht auch?“

„Wer weiß“, sagte Boerne. „Vielleicht bin ich ja bloß ein Aufschneider, der kochen und schäkern kann, aber davor zurückscheut, zur Sache zu gehen.“

„Ein Aufschneider sind Sie tatsächlich.“

„Sehen Sie?“

„Berufsbedingt, meine ich.“ Thiel hob die Pfanne vom Herd und kratzte die Nudeln in eine bereitstehende Porzellanschüssel. „Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben, als wieder mal vorhersehbar zu sein, dann decken Sie den Tisch.“ Er deutete zu dem Schrank herüber, wo er das Geschirr aufbewahrte.

„Thiel … haben Sie mich gerade zum Abendessen eingeladen?“

„Ich, Sie? Pah, warum sollte ich das denn tun?“

„Vielleicht mögen Sie es ja, in meiner Nähe zu sein?“

„Ich hab kein gesteigertes Verlangen nach Ihrer Nähe.“

„Nicht?“

„Nicht das geringste.“ In einer energischen Geste stellte Thiel die Nudelschüssel auf den Tisch. „Machen Sie wenigstens den Wein auf, ja?“

„Immer doch.“ Boerne nahm eine Weinflasche aus dem Schrank und griff an Thiel vorbei, um an den Korkenzieher zu gelangen. Schnell war der Tisch gedeckt: zwei Teller, Gabeln und Löffel und die Weingläser. Thiel kippte das Fenster, um die Kochhitze aus dem Zimmer zu lassen, dann nahm er gegenüber von Boerne Platz. Die Eierspätzle standen in der Tischmitte, warm und duftend, und Thiel stach den Löffel in die Schüssel und durchbrach damit die Käseschicht. Als er die Nudeln gleichmäßig auf ihre beiden Teller aufteilte, begegnete er Boernes Blick. Boerne lächelte versonnen und senkte den Kopf, um sich wieder Weinflasche und Korkenzieher zu widmen.

„Bilden Sie sich bloß nichts darauf ein.“ Thiel ließ sich zurück in seinen Stuhl sinken und schob sein Weinglas quer über den Tisch. „Ich will Ihnen bloß zeigen, warum meine Eierspätzle besser sind als Ihr Fünf-Sterne-Fraß. Nach dem Essen setz ich Sie gleich wieder vor die Tür.“

„Das sagen Sie nur, weil Sie nicht wissen, was Ihnen ohne mich entgeht, Thiel.“ Boerne zog den Korken mit einem satten Ploppen aus der Weinflasche. „Ein unvergleichlicher Abend könnte auf Sie warten.“

Thiel sah ihn an. Ein amüsiertes Lächeln lag in seinen Augen und in einem Tonfall, halb spöttisch, halb liebevoll, sagte er: „Beweisen Sie’s.“

Boerne erwiderte sein Lächeln. „Mit dem größten Vergnügen“, versprach er. Und während er ihnen beiden Wein einschenkte, war er in Gedanken schon dabei, eine farbenfrohe Strategie zu ersinnen, in der das Sofa im Wohnzimmer, seine eigenen Hände, eine entspannende Massage und mehrere Gläser Wein eine wichtige Rolle spielten.

Schließlich war Boerne niemand, der vor einer Herausforderung zurückschreckte und damit auf den ersten Platz verzichtete. Nicht, wenn es um Thiel ging. Nein, ganz bestimmt nicht, wenn es um Thiel ging.

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