Der zweite Teil meines Essays "Queerbaiting im Tatort Münster".
Hier geht's zum ersten Teil. No homo, bro
Im Grunde lässt sich jede Situation aus dem Tatort Münster, die als homosexuell interpretiert werden kann, mit einer heterosexuellen Erklärung entkräften, wenn man das denn möchte. Und stößt damit direkt auf den Kern des Queerbaitings: Es gibt keine eindeutigen Darstellungen, auf die sich zu 100 % verlassen ließe. Es soll sie gar nicht geben, um keine der angesprochenen Zuschauergruppen zu verlieren. Es bleibt bei den Postings, bei den Witzen, bei den Möglichkeiten. Es bleibt bei den Ködern. Wirklich umgesetzt wird nichts davon.
Was stattdessen umgesetzt wird, sind kurzzeitige Flirtereien mit Frauen, die in der Regel genauso schnell kommen wie sie wieder gehen. Selbst, als Boerne in „Gott ist auch nur ein Mensch“ recht unverblümt vom Künstler Rajinovic alias „G.O.D.“ angebaggert wird und sich daran auch nicht zu stören scheint, wird parallel mit der Figur der Klara Wenger eine vergessene Kindheitserinnerung von Thiel aufgearbeitet und so gleichzeitig ein potenzieller weiblicher „Love Interest“ geschaffen. Denn der Tatort ist ja nicht schwul, gell? Boernes Interesse an G.O.D. wird hinterher übrigens nicht noch einmal thematisiert.
Insbesondere, wenn diese zeitweiligen Liasons in Relation zu dem gesehen werden, was immer wieder zwischen Thiel und Boerne angedeutet wird, erscheinen sie mit einem Mal willkürlich und geradezu plakativ heterosexuell. Gleiches gilt für die in unregelmäßigen Abständen aufglimmende Chemie zwischen Boerne und seiner Assistentin Silke „Alberich“ Haller. Hin und wieder bekommt sie einen überschwänglichen Kuss auf die Wange gedrückt, wenn sie Boerne einen entscheidenden Hinweis liefern konnte und in der Episode „Limbus“, in der Boerne nach einem schweren Autounfall im Koma liegt, zeigt sie ihm gegenüber eine ungewohnte Intimität und Wärme: Sie hält seine Hand, nimmt ihn in den Arm und küsst ihn während einer Reanimation sogar auf die Stirn, weil … ja, warum denn eigentlich? Die beiden kennen sich gut, stehen sich nah und sind sich wichtig, ohne Frage. Aber trifft das nicht mindestens genauso sehr auf Thiel zu? Den erleben wir in dieser Folge allerdings nicht einmal an Boernes Krankenhausbett. Bis heute hat es zwischen den beiden in keiner Folge eine Umarmung gegeben (lediglich einen Händedruck. Denn das ist männlich!).
Grundsätzlich wäre der Vorsatz des Tatort-Münster-Teams, Boerne mit seiner langjährigen Kollegin und Freundin zu verkuppeln oder Thiel mit einer Frau ausgehen zu lassen, selbstverständlich kein verwerflicher. Und grundsätzlich gäbe es daran auch nichts auszusetzen. Wenn es nicht zur selben Zeit im absoluten Kontrast zu den queeren Anspielungen stehen würde, die im Kontext mit Thiel und Boerne kontinuierlich gemacht werden.
Immer wieder wird der „Köder“ ausgelegt, ganze Episodenhandlungen werden daran orientiert, aber sobald sich die Gelegenheit für einen Moment von ernsthafter emotionaler Bedeutung ergibt, wird wieder zurück auf eine heterosexuelle Beziehung geschwenkt. Das verleiht dem Ganzen einen bitteren Beigeschmack. Es scheint, als könne eine homosexuelle Beziehung nur als unterhaltsamer Aufhänger dienen, als sei sie nicht mehr als ein Comic Relief. Wenn die Figuren ohnehin mit Frauen glücklich werden sollten, bestünde kein Grund, mit queeren Andeutungen um sich zu schmeißen wie mit Kondomen auf dem CSD. Und wenn sich umgekehrt Thiel und Boerne annähern sollten, verstehe ich nicht, weshalb die Zuschauer:innen konstant an das Potenzial dieser Beziehung erinnert werden.
Wer genau nun Auslöser für was war - ob die Serie vorrangig auf das Publikum reagierte oder das Publikum auf die Serie - ist letztendlich wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Es macht im Großen und Ganzen keinen maßgeblichen Unterschied. Entscheidend ist vielmehr, wie der Tatort Münster mit seiner Rezeption und der daraus entstandenen Verantwortung umgeht, auch über die Grenzen der Folgen hinaus. Und dahingehend bekleckert sich leider niemand mit Ruhm.
Wir sind nicht zu eurer Unterhaltung da
TW: Es werden Themen wie mentale Gesundheit, Mobbing, Essstörungen und Suizid erwähnt
Schenken wir dem Team des Tatort Münsters den „benefit of the doubt“ und gehen davon aus, dass sie kein mutwilliges Queerbaiting betreiben, um bestimmte Zuschauergruppen zu binden, bleibt eigentlich nur ein Grund: der Unterhaltungsfaktor.
„Die machen sich doch nur einen Spaß!“, wird dann von unterschiedlichsten Seiten gerufen. Aber ich sage euch mal was, Hans-Dieter und Marie-Kim:
Queer zu sein, ist kein Spaß.
Ich selbst bin eine bisexuelle Frau und allein durch die Tatsache, dass ich mich nicht dafür schäme, das öffentlich kundzutun (geschweige denn, mich nicht um lebensbedrohliche Konsequenzen sorgen zu müssen), bereits privilegiert. Die Realität sieht für die meisten Leute aus der LGBTQ-Community nämlich anders aus. In Relation zur Gesamtgesellschaft haben sie schwerer mit mentaler Gesundheit zu kämpfen; psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Suizidgedanken kommen zwei- bis dreimal häufiger als in der Durchschnittsbevölkerung vor. Auch Essstörungen und selbstverletzendes Verhalten sind unter LGBTQs stärker ausgeprägt. Für Schüler:innen, die sich in irgendeiner Form als queer identifizieren, gilt ein fünfmal höheres Risiko, nicht in die Schule zu gehen, weil sie sich aufgrund von Mobbing in Bezug auf ihre Identität nicht mehr sicher fühlen. In 69 Staaten wird gleichgeschlechtliche Sexualität strafrechtlich verfolgt, in 15 droht die Todesstrafe. Klingt auf einmal gar nicht mehr so witzig, oder? (
Quelle 1,
2,
3)
„Aber Liefers und Prahl setzen sich mit ihren Posts doch für die LGBTQ-Community ein! Sie schaffen Sichtbarkeit und machen es nor-“
Nein. Einfach nein. Ich glaube, das ist der größte Denkfehler, der in dieser Sache gemacht werden kann. Deswegen sage ich es jetzt in aller Deutlichkeit:
Es ist kein positiver Aktivismus, sich als queer zu inszenieren. Insbesondere dann nicht, wenn es „witzig“ gemeint ist - wird die gleichgeschlechtliche Liebe auf diesem Wege schließlich stets als solches kommuniziert: als Witz. Wie soll da Respekt und Verständnis entstehen?
Queer zu sein, sucht man sich übrigens auch nicht aus. Wir, die Menschen der LGBTQ-Community, sind durchgehend den Wertvorstellungen und Weltbildern einer heteronormativen Welt ausgesetzt, die nicht mit unser eigenen Lebensrealität übereinstimmt. Und während Herr Liefers und Herr Prahl nach einem „lustigen“ Posting auf Instagram wieder in ihre behütete Welt zurückkehren können, sind viele aus der Community mit einer Familie konfrontiert, die sie verstößt; mit Fremden, die sie auf der Straße bespucken, weil sie mit ihren Partner:innen Händchen halten; oder mit der eigenen, internalisierten Homophobie, die manchmal schlimmer als jene sein kann, die von außen an einen herangetragen wird. Sich zur “Unterhaltung” als queer darzustellen, ist nicht progressiv, sondern geschmacklos. Und respektlos den Menschen gegenüber, die mit bzw. aufgrund ihrer Identität zu kämpfen haben.
Was noch zu sagen bleibt
Ich möchte niemandem aus dem Tatort-Team böswillige Motive unterstellen. Auch Prahl und Liefers nicht. Darüber hinaus gibt es weitere, von mir bisher vernachlässigte Faktoren, die das Queerbaitingprinzip des Tatorts zusätzlich fördern: Die Idee der permanenten Gegenwart beispielsweise, die langfristige Entwicklungen praktisch unmöglich macht, oder das ständig wechselnde Team von Produzent:innen, Drehbuchautor:innen und Regisseur:innen.
Ich bin nach wie vor selbst mit ganzem Herzen dabei, wenn Münster ermittelt. Und sicherlich ist es ein kleines Trostpflaster, dass Frau Klemm in „Mörderspiele“ als bisexuell etabliert wurde. Nichtsdestotrotz führt das Queerbaiting in Bezug auf Thiel und Boerne zur fortwährenden Reproduktion verletzender Stereotype und begegnet der LGBTQ-Community leider nicht auf Augenhöhe.
Und wenn das Erste dann ernsthaft die Nerven besitzt, ein Hochzeitsfoto von Thiel und Boerne vor dem Hintergrund der Pride-Flag zu posten, während die beiden fünf Folgen später schon wieder überlegen müssen, ob sie sich überhaupt als Freunde bezeichnen würden, kann ich nur müde den Kopf schütteln.
Gut gemeint ist eben leider nicht gut gemacht.
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Weitere Anmerkungen:
Ich kann natürlich nicht mit Sicherheit sagen, dass Jan Josef Liefers und Axel Prahl heterosexuell sind. Der Effekt bleibt jedoch derselbe, wenn sie von den Zuschauer:innen als heterosexuell wahrgenommen werden
Mit “LGBTQs” und dem Ausdruck “queer” möchte ich die Gesamtheit der Menschen einschließen, die sich nicht als heterosexuell und/oder cisgender identifizieren. Die Verkürzung des Akronyms (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer) soll lediglich dem Lesefluss dienen
Weitere Quellen:
https://www.syfy.com/syfywire/the-strange-difficult-history-of-queer-coding https://fanlore.org/wiki/Queer-coding https://geekgefluester.de/queerbaiting-der-truegerische-schein-einer-repraesentation?cookie-state-change=1612174695612 https://medium.com/@marykatemcalpine/queerbaiting-vs-queer-coding-detective-edition-c156d86d30fa https://www.weltverbesserer.de/lgbtq-wusstest-du-eigentlich-dass-15-fakten-die-du-kennen-solltest-4276/ https://www.diva-portal.org/smash/get/diva2:839802/fulltext01.pdf https://owls-in-winter.livejournal.com/22837.html