"Das Feuer Eos" - Kapitel 11

Sep 25, 2008 17:44

Titel: "Das Feuer Eos" - Kapitel 11
Rating: PG
Sprache: Deutsch
Zusamm'fassung: Feuchte, dunkle, einsame Kellerlöcher...

- Prolog - 01 - 02 - 03 - 04 - 05 - 06 - 07 - 08 - 09 - 10 -



25. August 1890

Es war früher Morgen, als Bela aus seiner Kammer auf einen der zahlreichen Korridore des Botschafterwohnsitzes trat. Draußen kündigte die aufgehende Sonne einen weiteren strahlenden Tag an, doch in ihm tobte die Finsternis. Niemals hätte er sich Lord Farin anvertrauen dürfen, schalt er sich, er hatte doch gewusst, dass dem jungen Lord sein albernes Ehrgefühl über alles ging, trotz - oder vielleicht gerade wegen - seines unausstehlichem Baronen-Vaters. Niemals durften einen Dieb seine Gefühle übermannen, wollte er nicht den Schutzmantel der Nacht verlieren.

Bela gestattete sich keinen Moment lang die Furcht, dass der Botschafter ihn verraten würde. Ihre im Erblühen ergriffene Beziehung schien definitiv erloschen, wie ein schlampig angelegtes Kaminfeuer, das man, wenn es erst einmal aus war, unmöglich wieder erzünden konnte. Und doch, er konnte einfach nicht glauben, dass Jon ihn willentlich ins Gefängnis schicken würde - oder vielleicht wollte er es einfach nicht glauben.
So würde er sich denn vorerst der täglichen Routine widmen, als wäre nichts gewesen - und baldmöglichst seine Kündigung schreiben. Natürlich, Rodrigo und er hatten ausgemacht, dass er zumindest drei weitere Monate für den Botschafter arbeiten sollte, doch würde González es schon verstehen, wenn er sagte, dass er die Sicherheit seiner falschen Identität, die wie ein Deckmantel über ihm lag, nicht weiter garantieren konnte. Begeistert wäre der Chilene sicher nicht, dachte Bela, aber eigentlich konnte keinerlei Spur zu ihm führen, nicht einmal Samuels Kutscher-Unternehmen war in irgendeiner Weise offiziell mit Rodrigo González verknüpft.

Ja, dachte er, es würde das Beste sein, Gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich so bald wie möglich aus dem Staub machen, weg von diesem ganzen Affenzirkus, seiner „Verlobten“, den hysterischen Crowleys, und ganz besonders weit weg von Lord Farin.
Er schüttelte den Kopf darüber, wie weh es tat, noch verstärkt davon, dass auch ein sehr körperlicher, ziehender Schmerz ihn konstant an Jon erinnerte. Er verfolgt mich buchstäblich bei jedem Schritt dachte er, und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er machte sich auf, aus dem Haus zu treten, um einen Eimer frisches Brunnenwasser für Jons morgendliche Rasur zu holen, obwohl er nicht wusste, wie er diesen seltsam intimen Akt mit Jon an diesem Tage hinter sich bringen sollte. Schon wieder so ein schmerzender Gedanke an gestern, dachte er fahrig, passend zu meinem schmerzenden Hintern, haha.
Er zwang die Gedanken aus seinem Kopf, versuchte, sich die endlosen Geldstapel goldener Münzen vorzustellen, die er, piratengleich, in einer Kiste bei Rodrigo abholen würde. Er könnte in dem Geld baden, oder sich ein Schiff davon kaufen, und wie Long John Silver um die Welt segeln, sich um nichts und niemanden, außer sich selbst, scherend.

Long John Silver. Die Schatzinsel. Farin.
Gott, er fehlt mir, dachte er, jetzt schon.
So sehr, dass er sich nahezu lächelnd und mit klopfendem Herzen umwandte, als eine Hand ihn an der Schuler griff, in der halb ängstlichen, halb freudigen Erwartung, dass es Lord Farin sein würde, der mit ihm sprechen wollte.
„Dirk Nestor,“ sagte Kommissar Kirch, der schweigsame Kollege des Oberkommissars von Wied. „Sie stehen unter dem Verdacht des Raubes und sind festgenommen.“

Bela war so perplex, so verletzt, so versteinert im Innern, dass er sich willenlos die Handschellen umlegen und abführen ließ.

In der Eingangshalle standen Lord Farin im Morgenmantel, Katharina und Ames, völlig bekleidet aber mit wilden Haaren, Mary, die eilig ihren Mantel über ihrem Nachthemd zu schließen trachtete. Der halbe Haushalt schien versammelt, in verschiedenen Stadien des Erstaunens, Entsetzens, Nichtverstehens begriffen. Sogar die zahlreichen Gemälde streng dreinsehender Herrschaften, die die Wände bedeckten, schienen ein wenig perplex zu sein. Nur die Crowleys standen nicht dort, zum Glück, das hätte ihm noch gefehlt, dachte Bela, während er an seinen - Freunden? Kollegen? Mitteln zum Zweck? - vorbeigeführt wurde.

Katharinas Tränen tropften lautlos auf den weißen Marmor der Eingangshalle, Bela sah schnell weg, konnte sich nicht auch noch mit ihren Gefühlen auseinandersetzen. Sein Blick blieb an Farin hängen, er konnte nichts dafür, ein Dolch wurde in sein Herz gerammt und langsam gedreht, während er in diese versteinerten Gesichtszüge blickte.
Er fühlte sich seltsam gelöst von seinen Gefühlen, von der ganzen Situation. Seine Stiefel klackten scharf auf den teuren Steinen, während die Schuhe der ihn abführenden Polizisten - Kommissar Kirch und einer seiner dämlich dreinschauenden Spießgesellen, eher zu flüstern schienen. Ein bisschen Melodramatik könnte nicht schaden, dachte Bela, schließlich brach gerade sein gesamtes Lügengebilde über seinem Kopf zusammen, und fast musste er lachen über die Absurdität seiner eigenen Gedanken. Dennoch überlegte er kurz, ob er schreiend oder weinend auf Farin losstürzen und ihm den Dolch, den er immer, auch jetzt noch, im Stiefel trug, in sein kaltes Herz rammen sollte - Handschellen hin oder her.
Er tat nichts dergleichen, stattdessen senkte er den Blick und flüsterte den Marmorplatten ein fassungsloses „Nein... nicht Jon“, ob dieses ungeheuerlichen Verrates, zu.

Die Wut kam aus dem Nirgendwo; gerade hatte er noch gedacht, er hätte keinen Gefühle mehr in sich und nun riss sie ihn mit sich, wie die Flutwellen, die ab und an die norddeutsche Küste heimsuchten. Wut war besser als Schmerz, befand er, stürzte sich mitten hinen. Jon war es gewesen, musste es gewesen sein, der ihn verraten hatte - dabei hätte er, Bela, noch gestern sein Leben für ihn gegeben. Aber nicht so. Ehre hin oder her, er hatte ihm vertraut, sein Leben in seine Hände gelegt, und Farin trampelte mit Füßen darauf herum. Er war von sich selbst erstaunt, als seine eigene Stimme in seinen Ohren widerhallte, lauter und verzweifelter als er sie hatte klingen lassen wollen.

„Ich hasse dich, Jon Farin!“

Lord Farin sah ihn kurz an, über seinem Gesicht lag eine in langen Jahren perfektionierte Maske der Arroganz, doch in seinen Augen meinte Bela kurz eine Regung des tiefen Schmerzes sehen zu können.
Romantischer Unsinn, dachte er kurz darauf, als Farins Stimme an seine Ohren drang, so bitter kalt.
„Schaffen Sie ihn fort aus meinem Haus, Herr Kommissar.“

~~

16. September 1890

Zweiundzwanzig Tage.
Bela tigerte in dem feuchten Kellerloch, das wohl für undefinierte Zeit seine Zelle bleiben würde, auf und ab und starrte auf das kleine vergitterte Fenster, durch das ein wenig Tageslicht, sowie die lebendigen Geräusche der mittäglichen Hafenstadt heraufdrangen. Klappernde Kutschenräder, fliegende Händler, die lautstark ihre Waren - meist Fisch und warme Pasteten - anpriesen, Lausbuben, die kichernden Mädchen anerkennende Rufe und Pfiffe hintendrein schickten. Drei Wochen der Kälte, der Einsamkeit, des Drecks, der fehlenden Bewegungsfreiheit und der auf ihn einprasselnden Unsicherheit.
Das brausende Leben der Stadt dort draußen fehlte ihm.

Hier drinnen war er zur Untätigkeit verdammt, und das, obwohl er über sich täglich die lauten Geräusche der unablässig durch dickes Tropenholz ratschenden Sägen hören konnte.
Es stimmte; er wurde, im Vergleich zu seinen Mitgefangenen im Hamburger Zuchthaus, nicht schlecht behandelt. Er musste nicht auf stinkenden Lagern schlafen, die er mit unzähligen Mitgefangenen und noch viel mehr Läusen und Flöhen teilen musste, er musste nicht an den Sägen arbeiten, bis die Blasen auf seinen Händen aufplatzten und das Blut seine Hände hinunterrann und niemand quälte oder folterte ihn. Es gab genug zu essen und eine Decke - auch diese flohverseucht, das mochte sein, aber warm.

Doch hinterließ die erzwungene Einzelhaft Folgen in seinem Kopf. Ab und zu meinte er, verrückt zu werden und unterhielt sich mit all denen, die ihm fehlten. Mit Rodrigo, während sie gute Gespräche vor einem prasselnden Kaminfeuer führten und sich eine teure Flasche Brandy teilten. Mit Katharina, die ihn unter der warmen Sommersonne zum Lachen brachte. Manchmal, wenn der Tag am hellsten und die Geräusche draußen am quälendsten schienen, die Einsamkeit ihn zu erdrücken drohte, sprach er mit Jon.

„Jon, ich kann dich immer noch spüren, will dich nicht verlieren“ flüsterte er seinen Stiefeln am zweiten Tag zu, während er den ziehenden Schmerz im Gesäß versuchte, festzuhalten.

„Ich liebe dich, weißt du?“ erzählte er der weiß gekalkten, von Feuchtigkeit dunkel gefärbten Wand unter dem hellen Fensterloch am siebten Tag.
„Obwohl du mich verraten hast, du Bastard, ich liebe dich.“
Dann schrie er die Wände an: „Verdammt!“ - und nahm mit einiger Befriedigung zur Kenntnis, dass draußen verwirrte Stimmen fragten, wo dieser Ausruf denn hergekommen sei.

„Immer noch,“ sagte er am zwölften Tag, von sich selbst erstaunt.
„Ich würde so gerne wütend auf dich sein, doch bin ich nur traurig, wenn ich an dein Lächeln denke.“

„Jon, ich wäre auf immer dein Valet gebeten, hätte diesen verfluchten Stein zurückgegeben und Rodrigo gegen mich aufgebracht, hättest du mich darum gebeten,“ gestand er seinen Fingern, in die er seinen Kopf am fünfzehnten Tag gestützt hatte.
„Warum musstest du mich verraten?“
Er würde nicht weinen, niemals, auch nicht, wenn es niemand sah. Dann tat er es doch, lautlos, in seine dreckstarrenden Hände hinein.

„Vielleicht hätte ich dich entführen sollen, aufs Meer. Nur du und ich, um die Welt, immer unserer Nase hinterher. Du hättest dich nicht wehren können, nicht gegen mich, hätte ich dich darum gebeten, oder dich einfach gefesselt und dich erst losgemacht, wenn um uns nicht als Wasser gewesen wäre. Du der Schiffkoch, ich der Janmaat, auf einem großen, freien Piratenschiff. Wäre das nichts, Jon...?“
Er lächelte traurig am zwanzigsten Tag.

Drei Wochen der Unsicherheit hatte er nun hinter sich. Er tigerte hin und her.
Zwei Schritte von einer Wand zu seiner Pritsche.
Drei Schritte an seiner Pritsche und dem erbärmlich stinkenden Eimer für seine Bedürfnisse vorbei.
Wieder zwei Schritte an der Wand mit der verriegelten Zellentür entlang.
Drei Schritte bis zu der Wand mit dem hellen Fenster, so unerreichbar weit oben, dass er nicht einmal hindurch schauen konnte.

Von vorn.

Zwei Schritte.
Drei Schritte.
Zwei Schritte.
Drei Schritte.
Zwei Schritte.

Quietschend öffnete sich die Zellentür, Bela hielt erstaunt inne in seinen Bewegungen. Es war noch nicht an der Zeit für das karge Mittagsmahl, obendrein wurde ihm das üblicherweise durch eine kleine Luke gereicht. Seit jenem Tag, an dem Kommissar Kirchner ihn in diese Zelle geleitet hatte, hatte die große Tür sich nicht mehr geöffnet.
Zwei uniformierte Polizisten traten herein, er wurde fest, aber nicht schmerzhaft an die Wand gedrückt - weitere Erinnerungen an Jon prasselten auf ihn ein, ungebeten - und seine Hände mit Handschellen gefesselt.

„Mitkommen!“

Er wurde durch Gänge und Treppen hinauf, sogar über einen kleinen Innenhof, geschleift, halb betäubt von der plötzlichen Menge an Licht, Menschen und Geräuschen, die ihn umgaben.
Zahlreiche Türen wurden aufgeschlossen und hinter ihnen wieder sorgfältig verschlossen, zunächst aus schwerem Eisen, später aus gebeiztem Holz. Schließlich stand er, so viel Bewegung nicht mehr gewöhnt, keuchend in einem kleinen, holzvertäfelten Raum mit hohen Fenstern, die Aussicht auf einen kleinen, blumengeschmückten Innenhof boten, darüber zirkelten Möwen, sogar die Sonne konnte er sehen, halb verdeckt von einem wolkenverhangenem Himmel.
Gott, es war gut zu sehen, dass die Welt dort draußen noch existierte.

„Herr Nestor,“ wurde er aus seinem Gedankengang gerissen.
Ein in einem schwarzen Talar gekleideter Herr, mit einer weißen Perücke auf dem Kopf - Bela fand, er sah ungeheuer albern aus und war selbst erstaunt, dass sein alter Zynismus wieder in ihm aufbrodelte - sah von einer kleinen Kanzel aus streng auf ihn hinunter.

„Sie werden beschuldigt, Lord und Lady Crowley ihren Diamanten, ‚das Feuer Eos,’ im Wert von geschätzten 100.000 Reichsmark, gestohlen zu haben.“
Bela konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen - ihr Auftraggeber hatte ihnen das Fünffache für den Diamanten geboten, ein beachtliches Vermögen.
„Des Weiteren sollen Sie den Wächter des besagten Grafenpaares brutal vergiftet und misshandelt, sowie mehrere Zimmer im Wohnhaus des britischen Botschafters zu Hamburg, Lord Jonathan Farin, mutwillig zerstört haben.“

Die Gerichtssitzung - so es denn eine war; es gab keine Anwälte, kein Publikum, keine Protokollanten; nur ihn selbst, seine Bewacher und den Richter - ging vorbei in einem Nebel der Unwirklichkeit. Er antwortete - möglichst irre kichernd - auf alle Fragen, gestand alles, denn sie schienen alles sowieso schon zu wissen.
Nur nicht, wo er den Diamanten versteckt hatte. Das würde er niemals preisgeben.

Er gab sein bestes, verrückt in sich hinein zu lachen, behauptete, die ganze Aktion sei ein Spaß gewesen, um sich an der vermaledeiten reichen Oberschicht zu rächen, die ihm und den Armen der Welt so viel angetan habe. Wieder lachte er und erklärte, er habe den Diamanten auf Nimmerwiedersehen in die Alster gepfeffert, damals, an diesem Nachmittag, an dem er Katharina mit Schlafpulver betäubt hatte, denn selbst darüber schien der Richter bereits Bescheid zu wissen.
Nur seine wahre Identität kannten sie nicht - Rod hatte ganze Arbeit geleistet, mit den falschen Papieren, die er ihm beschafft hatten. Obendrein schienen sie nicht sonderlich an ihm selbst interessiert zu sein, nur am Diamanten. Scheinbar wuchs der Druck von oben, dachte Bela mit einem halben Grinsen, und ließ die Fragen auf sich einprasseln.

Es war nicht schwer, sich ein bisschen irre zu stellen, denn so fühlte er sich, spätestens seit den drei Wochen der erzwungenen Einsamkeit. Vielleicht würden sie ihn in die Klapsmühle stecken, hoffte er, von dort wäre es leichter zu entkommen, als aus diesem vermaledeiten Zuchthaus.

Dann wurde sie hineingeführt.
Katharina.
Sie kam am Arm eines Gerichtsdieners, gebeugt, wie eine alte Frau, doch ihre Augen strahlten in einer heiligen Wut.

„Katharina Schrey,“ ihr wurde eine Bibel unter die Nase gehalten, lautlos tropften ihre Tränen auf den Ledereinband, wie vor wenigen Wochen auf den Marmor der Eingangshalle.
„Schwören Sie die Wahrheit zu sagen, und nichts als die Wahrheit, so wahr Gott Ihnen helfe?“
„Ich schwöre,“ sagte sie leise, holte ein Taschentuch hervor und trocknete ihre Tränen.
Der Richter forderte sie grimmig auf, ihre Aussage zu machen und nichts auszulassen, während Bela, gegen seinen Willen, fasziniert in ihr seltsam entschlossenes Gesicht sah. Mehr denn je fühlte er sich, als würde ein Schauspiel zu seinem Vergnügen aufgeführt, statt über sein weiteres Leben entschieden.

„Dirk... dieser Mann dort,“ erklang ihre helle Stimme durch den Raum.
„Er hat mich unter falschen Vorwänden zu seiner Verlobten gemacht, mich belogen und betrogen, mich zu einer unwillentlichen Komplizin gemacht.“

Sie schilderte ihren gemeinsamen Nachmittag, wie sie eingeschlafen war und erst später, nachdem sie von Harold vom Schlafpulver gehört hatte, den Verdacht bekommen hatte, dass Bela Ähnliches mit ihr gemacht haben könnte.

„Er ist schuldig, Herr Richter,“ sagte sie, und ihre Augen flammten einen Moment lang in Belas Richtung.
„Glauben sie die Gründe, die er anführt? Könnte er verrückt sein und den Diamanten in den Fluss geworfen haben?“ fragte der Richter, und in seiner Stimme, die bislang so gleichgültig geklungen hatte, lag zum ersten Mal hörbare Spannung.

„Ich bin nicht verrückt,“ kreischte Bela, der seine Chance witterte. „Ihr müsst alle sterben! Ihr vergnügt euch an unheiligem Reichtum, während auf den Straßen die Kinder sterben!“

Katharina blickte ihn an, auf einmal sah er etwas, fast wie Respekt, in ihnen aufleuchten, oder vielleicht bildete er sich das ob ihrer folgenden Worte nur ein.
„Ja,“ sagte sie klar. „Vielleicht ist er verrückt und hat den Stein in der Alster versenkt. Um so schlimmer, dass ich darauf hereingefallen bin.“

Sie senkte den Kopf, der Richter dankte für ihre Aussage, dann durfte sie gehen.
Vor Bela blieb sie stehen.
„Ich weiß alles, du Mistkerl, alles!“ schrie sie. Und fügte leiser ein einziges Wort, „Farin“, hinzu.
Bela erbleichte, und wankte kurz, während sie ihm in die Augen sah und leise, aber bestimmt, sagte: „Mögest du im schlimmsten Irrenhaus des Landes verroten.“

Ihre letzten Worte trafen ihn nicht so sehr wie ihre Aussage, sie wisse von ihm und Farin, Gott, nein, er hatte niemals Jon in Gefahr bringen wollen.
Was, wenn sie ihn verriet?
Wie betäubt wurde er aus dem Gerichtssaal geführt. Sein eigenes Schicksal interessierte ihn nicht - ihn ihm schrie und tobte es nach Jon, immer nur Jon.

Dabei hatte der Mistkerl ihn verraten, nicht anders herum.

Und doch.

- TBC -

--
Anmerkungen & Geschichtsstunde:

- Das Zucht- und Spinnhaus Hamburgs war, auch noch um 1890 herum, kein angenehmer Ort, obwohl folgendes Bild vielleicht anders vermuten ließe:




Wie allgemein in solchen „Besserungsanstalten“ üblich wurden die dort Einsitzenden zur harten körperlichen Arbeit gezwungen, bis zur völligen Erschöpfung. Wie genau es explizit in Hamburg zuging, kann ich euch nicht sagen - dazu reicht mein fundiertes Halbwissen wieder einmal nicht aus. Fakt ist jedenfalls, dass einige der in solchen Stadtgefängnissen durch die Gefangenen ausgeführten Arbeiten aus (importiertem Tropen-) Holz sägen, Steine klopfen, Torf stechen, Leim herstellen und ähnlichen unangenehmen Arbeiten mehr bestanden.
Die einsitzenden Frauen derweil wurden ebenfalls zur Arbeit gezwungen - zum Spinnen und Weben, Nähen und Stricken, ohne Bezahlung und nicht selten dabei begafft durch reiche, zahlende Bürger, die einen Ausflug ins Spinnhaus durchaus als legitime Beschäftigung an ihren freien Tagen betrachteten.
Einzelzellen - wie Belas - gab es natürlich auch, insbesondere nachdem die seit dem 17. Jahrhundert weit verbreiteten Zucht- und Spinnhäuser (wie auch jenes in Hamburg) zu allgemeinen Stadtgefängnissen ausgebaut wurden.

- Die Handschellen, mit denen Bela gefesselt wird, sind anders, als diejenigen, die wir heute kennen. Fans von Houdini kennen den Mechanismus vielleicht - gebogene Eisenbügel, versehen mit einem Feder-Mechanismus, der durch einen eckigen Schlüssel geschlossen oder geöffnet werden kann:




- 100.000 Reichsmark sind in heutiger Kaufkraft gerechnet etwa 2 Millionen Euro. Der geheimnisvolle Bieter, der Bela und Rod für ihren Diebstahl 500.000 bietet, ist also durchaus sehr reich, keineswegs aber undenkbar reich. Auch damals schon gab es eine absurd reiche Oberschicht, die mit ihrem Geld nichts anderes anzufangen wusste, als es für riesige private Kunstsammlungen und Ähnliches auszugeben. Der Auftrags-Diebstahl besonderer Kunstgegenstände, wie auch Diamanten und Schmucks, war dabei fast schon ein Kavaliersdelikt - nicht viel anders als heute, in der abstrusen Welt der Sammler, auch noch.

- Danke für alle Arschtritte und Kommentare bislang. Dieses Kapitel hat - als ich erst einmal meinen Hintern zum Schreiben hochbekommen hatte - wieder einmal eine Menge Spaß gemacht - ich schwöre, ich saß neben Bela in seiner Zelle, roch den Fisch und die Pasteten, hörte die Geräusche und war kurz davor, mit ihm vor Einsamkeit loszuschreien, herrjemine.
Wie dem auch sei - ich bin nach wie vor guter Dinge, die Geschichte diese Woche noch zu Ende zu bekommen. ;)

au, feuer eos, DÄ-FF, b/f

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