ff25 - Antwort, Themen # 1, # 7, # 23, # 9

Jun 28, 2006 21:22

In diesem Teil des WIPs habe ich die restlichen Prompts aus Runde eins der ff25-Challenge verarbeitet. Damit hätte ich diese Runde tatsächlich geschafft. *jubel*
Auf zu Runde zwei … *g*

Titel: Das Medaillon, Teil 5
Autor: Sinaida
Fandom: Sentinel
Themen: #1 - Nord, #7 - Hass, #23 Verdacht (freie Wahl), #9 - Trauer
Rating: ab 12
Personen: Lord Kincaid, Lucas Connor (OC), Brian Rafe, Henri Brown, mehrere OCs
Kategorie: AU
Disclaimer: Jim, Blair und andere Charaktere aus der Serie "The Sentinel" gehören nicht mir, sondern Pet Fly Productions und Paramount Pictures.

Inhaltsangabe und Anmerkungen sind in Teil 1
Teil 4 ist hier.



Das Medaillon
Teil 5

Nord

Der Sturm heulte um die alte Burg und ließ die Flaggen auf den Zinnen wild hin und her schlagen. Eisiger Wind fegte von den zerklüfteten, schneebedeckten Bergen in das tiefer gelegene Hügelland. Erbarmungslos schüttelte er das dürre, kahle Geäst der wenigen knorrigen Bäume, die den Pfad säumten, der sich vom Tal zum Burggraben hinauf schlängelte.

Wie ein Falke im Horst thronte die Burg auf dem höchsten der drei Hügel, die dem weiter nördlich gelegenen Hochgebirge vorgelagert waren, das eine natürliche Grenze des Ostlandes bildete.

Dunkel und drohend zeichneten sich ihre Türme, Zinnen und Mauern gegen das hellere Grau und blendende Weiß der dahinter aufragenden Felsen und Berge ab. An strategisch günstiger Lage errichtet, war sie noch nie von Feinden erobert worden.

Die Burg im unwirtlichen, kahlen Norden des Landes war die Verkörperung von Kälte, Härte und Unbeugsamkeit.

Und damit der passende Regierungssitz für Lord Kincaid.

Hass

In Kincaids Privatgemach war es deutlich wärmer als in den Gängen und Fluren der Burg, durch die bei dieser Wetterlage ständig ein kalter Wind zog. Dafür war die Luft in dem beheizten Raum rauchgeschwängert und brannte in Augen und Hals. Der offene Kamin spendete zwar genug Wärme um das große, verschwenderisch ausgestattete Zimmer auch im Winter bei angenehmer Temperatur zu halten, aber der böige Wind aus dem Gebirge verhinderte, dass der Rauch richtig abziehen konnte. Immer wieder drückte er rußige Wolken durch den Abzug des Kamins nach unten und ließ das Feuer fauchend aufflackern.

Lucas Connor räusperte sich, um das Kratzen in seinem Hals zu lindern, und ließ den Blick neugierig durch den Raum schweifen, in dem er sich heute zum ersten Mal befand. Die Wand zu seiner Linken zierten fein gewebte Gobelins, auf denen in verschiedenen Szenen Ausschnitte aus dem Leben des Hochadels dargestellt waren. Jäger, die sich mit ihrer Meute um erlegtes Wild scharten, ein Lord und seine Lady beim Picknick, ein Maskenball. Zu seiner Rechten protzte ein riesiges, goldgerahmtes Gemälde über dem Kamin, auf dem eine Schlachtszene zu sehen war. Connor unterdrückte ein verächtliches Schnauben. Der verantwortliche Künstler kannte den Krieg offensichtlich nur aus Heldensagen. Die Soldaten wirkten alle wie aus dem Ei gepellt.

Ganz im Gegensatz zu mir gerade, und dabei komme ich nicht Mal aus der Schlacht.

Lucas war direkt nach seiner Rückkehr von der erfolgreichen Jagd auf Bryan Summerwind zu Kincaid befohlen worden. Er trug immer noch seine durchnässte Uniform und die mit Schlamm bespritzten, schweren Stiefel. Er stank nach Schweiß, Pferd und nasser Wolle, aber wenn der Lord ihn nach solch einem Ritt *sofort* sehen wollte, musste er sich eben mit diesen Realitäten abfinden.

Jetzt stand er vor dem edlen, reich mit Schnitzereien verzierten Ebenholztisch, an dem der Lord soeben die letzen Bissen seines opulenten Abendessens mit einem Becher Wein hinunterspülte. Kincaids Kammerdiener tauchte wie aus dem Nichts auf, um die Reste abzuräumen, von denen eine fünfköpfige Familie satt geworden wäre.

Lautlos huschte der Dienstbote um den Tisch, offensichtlich bemüht, den Lord nicht unnötig an seine Anwesenheit zu erinnern und keinesfalls seinen Unwillen zu erregen. Connor runzelte die Stirn. Der leicht gebeugte, ältere Mann kam ihm bekannt vor, allerdings brachte er das Gesicht nicht mit der Position als Diener in Verbindung, aber ihm wollte beim Besten Willen nicht einfallen, wo er ihm schon einmal begegnet war.

Kincaid, gekleidet in eine Art Nachtgewand aus einem leichten, in verschiedenen Farben schillernden Stoff, den Lucas noch nie zuvor gesehen hatte, scheuchte den Dienstboten schließlich mit einer ungeduldigen Handbewegung fort. Der ältere Mann verbeugte sich mehrmals tief, ließ die Teller auf dem Tisch stehen und eilte zur Tür. Im Vorbeigehen warf er Connor einen raschen, taxierenden Blick aus hellen und überraschend furchtlosen Augen zu, die nicht so Recht zu seinem devoten Verhalten dem Lord gegenüber passen wollten. Nachdenklich folgte Lucas ihm mit den Augen, bis er den Raum verlassen hatte.

Wenn ich doch nur ein besseres Personengedächtnis hätte. Ich kenne diesen Mann, aber woher?

Schmatzende Geräusche aus Richtung des Kamins rissen ihn aus seinen Grübeleien. Kincaid stellte gerade die noch gut gefüllten, goldenen Teller und Schüsseln seinen beiden großen, fetten Wolfshunden hin, die träge auf ihren Decken neben dem Feuer dösten.

Lucas dachte an die halb verhungerten Männer, Frauen und Kinder in den ärmlichen Hütten rund um die Burg und ihm schnürte sich die Kehle zusammen. Hilflos ballte er seine Hände zu Fäusten, bemüht, jegliche Gefühlsregung aus seinen Gesichtszügen zu verbannen. Er presste die Lippen fest aufeinander und atmete tief durch.

Eines Tages wirst du für all das bezahlen, das du deinem Volk antust, Kincaid!

Kincaid versetzte den Hunden einen letzten, freundschaftlichen Klaps und trat dann an die andere Seite des Tisches, gegenüber Lucas. Mit finsterer Miene musterte er die Gegenstände, die Connor aus seinem Beutel holte und auf der polierten Holzplatte ablegte. Dann hob er langsam die Augen und schien Lucas mit seinem Blick durchbohren zu wollen.

„Wo ist der Dieb, dieser Summerwind? Wie ich höre, habt Ihr ihn nicht zurückgebracht.“

„Jemand hat ihn ausgelöst, Mylord, zu einem außergewöhnlich …“

Kincaid unterbrach ihn mit einer schroffen Geste und deutete auf die Gegenstände vor sich auf dem Tisch.

„Was ist das?“

„Bryan Summerwinds Auslöseurkunde, die Goldmünzen, die ich für ihn erhalten habe und Euer Ring, Mylord.“

Kincaids Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und sein Blick wurde eisig. „Wie lautete der Befehl, den ich Euch gegeben habe?“

„Fangt den Dieb und bringt ihn zu mir, damit er seiner gerechten Strafe überantwortet werden kann“, zitierte Connor wörtlich. Sein kalter Blick stand dem seines Dienstherren in Nichts nach.

„Fangen und Bringen! Fangen und Bringen! Nicht auslösen lassen!“ Mit einer heftigen Geste fegte Kincaid die Goldmünzen vom Tisch. Einige landeten im Feuer, andere mit lautem Klirren auf den inzwischen von den Hunden sauber geleckten Tellern. Lucas zuckte zusammen. Er wusste, dass die Launen des Lords so schnell und unerwartet wechselten wie die Windrichtung in diesem stürmischen, kalten Teil des Landes, aber mit einer derartigen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Er hatte unglaublich viel Geld als Auslösesumme gefordert und auch erhalten. Erstaunlich genug, denn der Mann, dieser Banks, der Summerwind ausgelöst hatte, konnte seine Verachtung für den Dieb kaum verbergen, als sie Kincaids Siegelring bei ihm gefunden hatten. Trotzdem hatte er in den Handel eingewilligt und die horrende Summe gezahlt. Lucas hatte damit ein weitaus besseres Geschäft für seinen Lord gemacht, als wenn er ihm diesen Bryan - tot oder lebendig - zurückgebracht hätte.

Kincaid beugte sich vor, die Hände auf die Tischplatte gestützt. Mit vor Zorn bebender Stimme flüsterte er: „Ich sagte nichts von Auslösen! Nichts! Ich wollte Summerwind, kein Geld! Was fällt dir ein, meinen Befehl zu missachten?“

„Mylord.“ Connor hielt Kincaids Blick stand. „Es ist doch nur von Vorteil für Euch. Ich …“

„Ich allein entscheide, was für mich von Vorteil ist. Ich befehle, du gehorchst. Wie die Hunde hier.“ Er deutete auf die beiden großen, trägen Tiere beim Feuer. „Hast du verstanden?“ Der Lord klang jetzt etwas versöhnlicher, fast sanft.

Connor biss sich auf die Zunge und nahm Haltung an. „Ja, Mylord.“

„Gut.“ Kincaid nickte. „Dieser Mann hat es nicht nur gewagt aus dem Kerker zu fliehen, in dem er zu Recht wegen seiner Diebereien saß, er hat sich sogar erdreistet mich, dessen Gnade er sein Leben verdankt, zu bestehlen. Ich wünsche, diesen Mann so hart zu bestrafen, wie er es verdient.“ Er nahm die Urkunde zur Hand, überflog sie und bemerkte dann: „Summerwind steht jetzt also bei Banks in Diensten, soso. Ich frage mich, was der Oberkommandeur der Leibwache unseres verehrten Königs mit einem flüchtigen Dieb will.“ Er legte die Urkunde beiseite und lächelte schmal. „Egal, Banks hat sicher eine Familie, eine Frau, süße Kinderchen.“

Lucas’ Augen weiteten sich entsetzt. „Mylord!“

Kincaid musterte ihn sekundenlang wie ein Falke seine Beute und bemerkte dann leichthin: „Was ich damit sagen will: Banks ist ein viel beschäftigter Mann, oft unterwegs, selten zu Hause, da kann man ein paar zusätzliche helfende Hände für die grobe Arbeit gut gebrauchen, vor allem, wenn man eine Familie zu versorgen hat, habe ich Recht?“

„Ja, Mylord, natürlich.“ Connor Stimme klang gepresst. Ihm war klar, dass Kincaid ihn soeben geprüft und für ungeeignet befunden hatte, aber irgendjemand würde geeignet sein. Jemand, der für etwas Geld sogar bereit war Unschuldige zu töten.

„Schön.“ Der Lord steckte sich seinen Siegelring wieder an. „Du kannst gehen. Ich will dir dieses Mal deinen Ungehorsam vergeben.“

„Danke, Mylord.“ Connor verbeugte sich tiefer, als das militärische Zeremoniell verlangte. Er musste die Verachtung verbergen, die sich in die Erleichterung mischte und auf seinem Gesicht widerspiegelte. Nach Kincaids Ausbruch hatte er mit Kerker oder Schlimmerem gerechnet. Rasch wandte er sich um und ging zur Tür.

„Warte!“ Kincaids Ruf ließ ihn stehen bleiben und sich nochmals umdrehen. Der Lord lächelte. „Wenn ich es recht bedenke ... Ich werde dich wohl doch bestrafen müssen, sonst verlieren meine Untertanen ihren Respekt vor mir.“ Das Lächeln verschwand. „Dein Sold ist für die nächsten drei Monate gestrichen - und der deiner Männer auch.“

Connor schnappte nach Luft. „Was? Das … das könnt Ihr nicht tun, Mylord.“

Mit gleichgültigem Schulterzucken entgegnete Kincaid. „Oh doch, ich kann. Geh jetzt und überbring ihnen die frohe Nachricht.“ Er wedelte mit der Hand. „Wegtreten.“ Damit drehte er sich um und verließ den Raum durch eine, hinter einem Gobelin verborgene Tür, die vermutlich in das Schlafgemach einer seiner Konkubinen führte.

Lucas sah im nach und schlug in hilfloser Wut die Faust gegen die schwere Holztüre. Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß er die alte, aber wirksame Verwünschung hervor, die seine Großmutter ihn gelehrt hatte. Selbst sie, die nicht zimperlich gewesen war, was Flüche und Zaubersprüche anging, hatte diesen einen nur für Menschen aufgespart, die sie wirklich hasste. „Möge die Sonne ihr Licht für immer von dir nehmen und die ewige Dunkelheit dich verschlingen.“

Verdacht

Connor rieb sich seine schmerzende Hand und hastete in der Dunkelheit den schlammigen Pfad entlang, der von der Burg zu den Stallungen führte. Das Tosen des Windes hatte etwas nachgelassen. Ab und zu erschien der blasse Mond hinter Wolkenfetzen und tauchte den Weg in silbriges Licht. Seine Männer waren sicher noch mit dem Versorgen der Pferde beschäftigt. Auch diejenigen unter ihnen, die ihre Familien in der kleinen Siedlung im Tal hatten, würden den Rest der Nacht hier verbringen. Kincaid hatte versprochen, ihnen den Extrasold für die Verfolgung Summerwinds gleich nach ihrer Rückkehr auszuzahlen. Sie alle warteten darauf.

Und ich bringe ihnen kein Geld, sondern die Nachricht, dass sie die nächsten Monate gar nichts kriegen. Verflucht!

Lucas war, wie all die anderen, die den Dieb gejagt hatten, nur ein einfacher Soldat. Er diente zwar in Kincaids Leibgarde, hatte bisher aber selten mit dem Lord persönlich zu tun gehabt. Umso mehr hatte es ihn erstaunt, dass Kincaid ihn mit dem Kommando über eine Reihe Männer seiner Truppe und mit einer Aufgabe betraut hatte, die zwar einfach schien, dem Lord aber offensichtlich sehr wichtig war.

Keiner von ihnen hatte Fragen gestellt, weder warum so viele Männer zur Verfolgung eines Einzelnen nötig waren, noch warum ausgerechnet sie diesen Auftrag erhielten. Kincaid hatte befohlen und reichen Lohn versprochen, das war alles was zählte.

Geld, das ich dringend gebraucht hätte um Vater einen Heiler zu besorgen. Geld, das jeder von uns dringend gebraucht hätte.

Der schlammige Pfad endete am schmalen Durchgang in der niedrigen Steinmauer, welche die Stallungen umgab. Aus dem Pferdestall drang flackernder Laternenschein, Stimmengemurmel und vereinzeltes Lachen. Lucas seufzte. Die Männer waren offensichtlich in gelöster Stimmung, froh den Auftrag zu Kincaids vollster Zufriedenheit erledigt zu haben.

Bei den Göttern, wie bringe ich ihnen bloß die bittere Wahrheit bei?

Erschöpft lehnte Connor sich einen Augenblick an die Außenwand des Stalles und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Die Wut und der Hass, den er vorhin noch empfunden hatte, machte bleierner Müdigkeit Platz.

„Lucas? Bist du das?“

Die Stimme, die auf einmal dicht vor ihm erklang, ließ ihn zusammenzucken. Er brauchte einen Moment, um in dem Sprecher seinen besten Freund Brian Rafe zu erkennen, der, einen Wassereimer in jeder Hand, wohl gerade vom Brunnen kam, um die Tränken der Pferde zu füllen.

„Rafe! Beim Donner, hast du mich erschreckt.“

Rafe stellte die Eimer ab und kam näher. „Was tust du hier draußen? Komm, wir sind fast fertig mit den Pferden und wollen feiern. Hast du das Geld von Kincaid schon dabei oder muss es sich jeder von uns einzeln abholen und artig ‚Danke’ sagen?“

Tonlos erwiderte Lucas: „Es gibt kein Geld. Für keinen von uns. Dafür streicht er uns den Sold für die nächsten drei Monate.“

„Was?“ In dem flackernden, unsteten Licht, das durch die Stalltür nach draußen drang, war Rafes Gesicht kaum zu erkennen, aber der Ton seiner Stimme drückte die Resignation eines Mannes aus, der schon zu lange im Dienst eines wetterwendischen Herrschers stand. „Nicht, dass es mich sehr wundert, dafür gab es bei diesem Auftrag reichlich Eigenartiges, aber - warum?“

Lucas zuckte mit den Schultern. „Wir hätten den Dieb herschaffen sollen, kein Geld. Auftrag nicht erfüllt, also keine Bezahlung.“

„Das … das ist lächerlich. Der Handel war nur von Vorteil für Lord Kincaid, in jeder Hinsicht.“

Lucas lachte bitte auf, als er seine eigenen Worte aus Rafes Mund hörte. „Der Lord sieht das anders.“ Nachdenklich fügte er hinzu. „Es ist seltsam, ich hatte nicht das Gefühl, dass es nur eine seiner Launen war oder nur die Wut darüber, dass ich seinen Befehl missachtet habe. Er war ehrlich wütend darüber, dass wir ihm nur Ring und Geld zurückgebracht haben, nicht Summerwind selbst.

Rafe senkte die Stimme. „Wenn dieser Kerl überhaupt Bryan Summerwind war.“

„Wie meinst du das?“

Mit einem raschen Kopfschütteln zog Rafe Lucas ein paar Schritte mit sich und schob ihn in die Nische zwischen Heuschober und großer Burgmauer. Hier stank es zwar nach Urin, wie Connor naserümpfend feststellte, aber hier konnten sie vom Stall aus weder gehört noch gesehen werden. Trotzdem flüsterte Rafe.

„Das ist nichts für fremde Ohren.“ Nach einem prüfenden Blick über die Schulter fügte er hinzu: „Die Beschreibung dieses Summerwind passt natürlich auf den Mann, den wir verfolgt und gestellt haben. Aber so vage wie die ist, passt sie auf fast jeden zwischen zwanzig und vierzig mit dunklen Locken. Ich habe Bryan Summerwind allerdings schon einmal gesehen, aber nicht zu der Zeit, in der er hier im Kerker saß, sondern vorher, vor etwa vier Monaten.“ Er hielt inne und lauschte.

„Weiter“, drängte Connor.

„Ich dachte nur, ich hätte Schritte gehört.“ Misstrauisch ließ Rafe seinen Blick durch die Dunkelheit schweifen und wandte sich dann mit einem Schulterzucken wieder seinem Freund zu. „Also, vor etwa vier Monaten hatte ich meine Eltern besucht. Sie leben in Lakeside. Gerade als ich dort ankam fand eine öffentliche Verhandlung auf dem Marktplatz statt.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Mein Vater hat eine Schwäche für solche Ereignisse, also sind wir hingegangen. Der Angeklagte war Bryan Summerwind.“

Rafe blickte sich nochmals um und senkte seine Stimme zu einem kaum verständlichen Flüstern. „Um es kurz zu machen, sein Gesicht konnte ich da zwar nicht sehen - er trug eine dieser Büßerkutten mit der Kapuze bis ans Kinn - aber ich habe gehört, dass er später, auf dem Weg ins Gefängnis, entkommen konnte.“

Connor schüttelte leicht den Kopf. „Und? Er kann ja wohl nicht weit gekommen sein. Kincaids Ordnungswache hat ihn doch dann in Lakeside abgeholt und hierher geschafft.“

„Ja, aber bei seiner Festnahme hat ihm Sheriff Watson einen üblen Schwertstreich verpasst. Quer über die Hand.“ Rafe grinste. „Watson hat ganz schön damit geprahlt. Man könnte fast meinen, er hätte ihm die Hand abgehackt.“ Er wurde wieder ernst. „Aber mein Bruder war dabei und hat’s gesehen. Nur ein langer, tiefer Schnitt in die Handfläche. Da muss eine deutliche Narbe zurückgeblieben sein. Unser Mann hatte aber keine Narbe, ich hab genau hingesehen.“

Connor fuhr sich durchs Haar und pfiff leise. „Das heißt, entweder war das nicht Summerwind oder sie haben in Lakeside dem Falschen den Prozess gemacht - oder ...“

„Richtig! Oder keiner von beiden ist tatsächlich Summerwind.“ Rafe lächelte leicht, wurde aber sofort wieder ernst und bemerkte eindringlich: „Es sind eine ganze Menge Dinge sehr seltsam, Lucas. Warum hat Kincaid nur Männer für unsere Verfolgertruppe ausgewählt, die nie direkten Kontakt mit Summerwind hatten? Keiner von uns hätte tatsächlich sagen können, ob der Mann aus dem Kerker und der Mann den wir verfolgt haben, wirklich die gleiche Person ist.“

„Wir sind von hier aus seinen Spuren gefolgt und auch die Hunde haben die Fährte aufgenommen“, warf Lucas ein.

Rafe winkte ab. „Wir haben eine Spur verfolgt. *Wessen* Spur wissen wir nicht. Wir haben nur das Wort des Lords, dass es Summerwind war.“

Lucas’ Gesicht wurde nachdenklich. „Aber wer sollte es sonst gewesen sein?“

„Ich habe keine Ahnung“, entgegnete Rafe Schulter zuckend. „Aber dafür eine andere Frage. Warum verhört Lord Kincaid einen Dieb wie Summerwind höchstpersönlich? Noch dazu in seinen Privaträumen? Am Abend?“

Connor war froh, dass die Dunkelheit sein Erröten verbarg. Er hatte seine eigene Theorie dazu. Es war einigen Männern der Leibgarde nur zu gut bekannt, dass Kincaid des Öfteren junge, gut aussehende Gefangene höchstpersönlich „verhörte“. Doch davon konnte sein Freund natürlich nichts wissen, Rafe diente bei der Burgwache, nicht bei der Leibgarde. „Seltsam genug“, entgegnete Lucas, „dass er ihn nicht im bewachten Audienzsaal verhört hat. Dort hätte Summerwind nicht einfach unbemerkt durchs Fenster verschwinden können, um ein Pferd zu stehlen.“

„Geschweige denn, Lord Kincaid niederschlagen und sich den Siegelring unter den Nagel reißen.“, ergänzte Rafe sarkastisch. „Die Märchen, die meine Großmutter mir früher erzählt hat sind gar nichts dagegen.“

„Du meinst, Kincaid hat gelogen? Er hatte eine ziemliche Beule am Kopf.“

Rafe lachte leise. „Ach komm, Lucas. Ich weiß ja, dass du als Leibgardist loyal zu sein hast, aber kommt dir das nicht selbst seltsam vor?“ Er schüttelte den Kopf. „Ein nächtliches Privatverhör in den persönlichen Gemächern, unter Ausschluss der Leibgarde, das damit endet, dass Kincaid niedergeschlagen wird und Summerwind mit dem Siegelring durchs Fenster abhaut?“

Connor nagte ratlos an seiner Unterlippe, die mögliche Erklärung dafür durfte er Rafe unmöglich eröffnen. Kincaid würde seinen Kopf rollen lassen, wenn es herauskam.

„Und dann verfolgen wir die Spur des Flüchtigen, ohne sie zu irgendeinem Zeitpunkt zu verlieren? Wir erwischen den Mann, er hat auch den Siegelring bei sich, aber es fehlt die Narbe, die Summerwind haben müsste?“ Rafe starrte Connor erwartungsvoll ins Gesicht. „Wer von unserer Truppe hat den Ring eigentlich gefunden?“, schob er nach als sein Freund nicht reagierte. „War das nicht unser vielseitig begabter, fingerfertiger Lynden?“

Lucas sah ihn überrascht an. „Ja. Er hatte die Tasche durchsucht, in der der Ring war.“

„Lynden, soso“, murmelte Rafe. Bevor Connor nachhaken konnte, fügte er hinzu: „Und warum, beim Donner, sollte ein geschickter, langjähriger Dieb wie Summerwind so unglaublich dumm sein, ausgerechnet den Siegelring des Lords zu stehlen? Niemand, der bei Verstand ist, würde ihm den abkaufen.“

Lucas fuhr sich über die Stirn. „Da hast du allerdings Recht. Es sei denn, Summerwind hätte den Ring mit der Absicht gestohlen, Kincaids Siegel zu fälschen oder er hätte im Auftrag einer dritten Partei gehandelt, die möglicherweise politische Interessen vertritt. Aber dann hätten wir den Ring sicher nicht mehr bei ihm gefunden. Er hätte ihn rechtzeitig versteckt oder schon weiter gegeben.“ Nachdenklich ergänzte er:„Immer vorausgesetzt, es war überhaupt Summerwind, den wir verfolgt haben.“

„Wenn nicht, wen haben wir dann gejagt? Und wo steckt Summerwind jetzt?“ Rafe seufzte. „Diese Sache bereitet mir Magenschmerzen.“

Langsam erwiderte Connor: „Ja, mir auch.“ Er rieb sich die müden Augen. „Das und noch ein paar andere Sachen.“ Seine Gedanken überschlugen sich. Scheinbar unwichtige Details setzten sich wie einzelne Teile eines Mosaiks zusammen und präsentierten auf einmal ein plausibles, erschreckendes Bild.

Er legte Rafe eine Hand auf den Arm. „Ich muss dir noch etwas erzählen. Etwas, das jetzt einen seltsamen Sinn ergibt.“

Die Tür des Pferdestalls öffnete sich mit unmelodischem Quietschen. Wie ertappt zuckten Rafe und Connor zusammen. Zwei Männer verließen das Gebäude und näherten sich ihrem Versteck.

„Morgen früh, vor dem Training, in der Waffenkammer. Sei ein paar Minuten eher da“, wisperte Lucas rasch. Mit einem kurzen Blick auf die Näherkommenden ergänzte er: „Ich gehe gleich zu den Männern und überbringe ihnen die Nachricht, dass Kincaid sie nicht bezahlen wird. Aber vorher will ich noch etwas erledigen.“

Ohne Rafes Antwort abzuwarten, verschwand er in der Dunkelheit.

Trauer

Als Lucas nach über einer Stunde immer noch nicht zurück war, wurde Rafe unruhig. Die Pferde waren versorgt und er saß mit den anderen Männern des Verfolgertrupps in der Gesindeküche bei Brot, Käse und wässrigem Bier. Henri Brown und Martin Winnifield erörterten scherzhaft, ob Connor sich womöglich mit ihrem Sold davongemacht hatte. Kindell, Falls und Thompson waren in eine Partie ‚Rot und Blau’ vertieft, während Tom Lynden versuchte, Peters mit einem seiner „Zaubertricks“ zu beeindrucken. Rafe hing seinen Gedanken nach. Sein Blick wanderte immer wieder nervös zur Tür.

Wenn Lucas in den nächsten Minuten nicht auftaucht, sehe ich nach wo er steckt.

Plötzlich flog die Tür zum Burghof auf. Kalte Nachtluft strömte herein und ließ das Herdfeuer hell aufflackern. Die Gespräche am Tisch verstummten und die Männer blickten auf. Jamie, einer der Küchenjungen, stand mit schreckensbleichem Gesicht im Türrahmen. Atemlos stammelte er: „Da … da liegt einer. Unten, an der Treppe bei den Vorratsräumen. Ich … ich glaub’ der is’ tot.“

Rafe spürte eine kalte Faust in seinem Magen. Ohne auf das plötzlich einsetzende Stimmengewirr um ihn herum zu achten, sprang er auf, stieß Jamie unsanft beiseite und rannte auf den Hof.

Im flackernden Laternenlicht sah er, wie zwei Stallburschen den leblosen Körper Lucas Connors die Treppe hinauf schleppten und zu Boden legten. Im Nu war die kleine Gruppe von Schaulustigen umringt, die aus allen Richtungen zusammenströmten.

Unsanft bahnte Rafe sich einen Weg durch die Traube gaffender Dienstboten, Pferdeknechte und Mägde. Die Lippen fest zusammengepresst, kniete er sich neben den Körper seines besten Freundes. Connors Hinterkopf war eine einzige, klaffende Wunde, seine Augen starrten blicklos in den Nachthimmel.

Wie betäubt hob Rafe die Hand, schloss Lucas sanft die Lider, als könne sein Freund die Berührung noch spüren, und murmelte: „Möge das Licht der Sonne all deine Pfade erhellen und dich sicher führen.“

Dann zückte er sein Messer, schnitt ein langes, schmales Stück Stoff von Connors Hemd und legte es vor sich auf den Boden. Rasch fügte er sich selbst einen winzigen Schnitt am Unterarm zu und ließ ein paar Blutstropfen auf den Stoffstreifen fallen.

Ein Raunen ging durch die Reihen der Umstehenden. Ausrufe wie: „Mord!“ und „Blutrache!“ drangen an Rafes Ohr. Er steckte den Dolch wieder ein und knotete sich den Stoff um sein linkes Handgelenk. Mit leiser Stimme wandte er sich ein letztes Mal an seinen toten Freund: „Mein Blut für dein Blut, wenn ich versage. Sein Blut für dein Blut, wenn ich Erfolg habe.“

Damit stand er auf und wandte sich zum Gehen. Jemand stellte sich ihm in den Weg.

Henri Brown. Besorgnis, Mitgefühl und Trauer standen in seinem Gesicht. Trotzdem schwang ein warnender Unterton in seiner Stimme. „Rafe, es ist keine Kleinigkeit, sich der Blutrache für einen Freund zu verschreiben.“ Er zögerte kurz. „Du solltest dir ganz sicher sein, bevor du einen möglichen Unfall zum Mord erklärst.“

Blind vor Tränen flüsterte Rafe: „Henri, hast du seinen Kopf gesehen? Niemals war das ein Unfall.“

Henri packte ihn rasch beim Arm und zog ihn ein paar Schritte zur Seite. Eindringlich wisperte er: „Hör zu, Junge. Manchmal sollte man die Wahrheit nicht aussprechen. Nicht hier. Es könnte gefährlich sein.“

Überrascht sah Rafe ihn an.

Mit nachdrücklichem Nicken fuhr Brown fort: „Du solltest das hier“, er deutet auf den schmalen, weißen Stoff um Rafes Handgelenk, „nicht offen tragen, solange du nicht Beweise für deine Behauptung hast.“

Rafe fuhr sich mit der Hand über die Augen. Mit brüchiger Stimme erwiderte er: „Lucas ist - war - mein Freund. Ich will seinen Mörder finden. Das Zeichen der Blutrache eröffnet mir Möglichkeiten, die ich sonst nicht hätte.“

„Lucas war auch mein Freund, Rafe. Und ich möchte nicht noch einen Freund verlieren.“ Browns Stimme war drängend. „Warte bis morgen, bevor du irgendetwas unternimmst. Beim ersten Tageslicht treffen wir uns hier, vielleicht finden wir einen eindeutigen Beweis dafür, dass es Mord war.“

Zögernd nickte Rafe und ließ den blutigen Stoff unter seinem Ärmel verschwinden.

Brown atmete auf und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. „Gut. Cromming und seine Stiefellecker sind schon im Anmarsch. Ich wette, er erklärt sofort, dass die Verletzungen ganz typisch für einen Treppensturz sind.“ Henri schnaubte verächtlich. Er machte eine Kopfbewegung in Richtung einer Gruppe Frauen, die tuschelnd am Treppenabsatz standen. Ab und zu warfen sie entsetzte Blicke in die Tiefe. „Ich versuche, die Köchin und ihre Mägde davon zu überzeugen, die Treppe erst morgen Mittag zu putzen, egal was unser überaus talentierter Kommandant ihnen gleich sagen wird.“

„Danke.“

„Schon gut. Wir finden heraus, was hier passiert ist.“ Er versetzte Rafe noch einen aufmunternden Klaps auf den Arm und wandte sich dann ab.

Rafe fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Henri hatte Recht. Bei Tageslicht konnten sie mehr herausfinden. Gleich morgen früh würden sie damit beginnen.

***

autor: sinaida 1-100, fanfic, ff25, wip, fandom: sentinel 1-100

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