Der Cellist - Teil 35

Nov 14, 2012 11:20

Teil 1 - Teil 34


Clint sitzt in seinem Zimmer und genießt die Aussicht aus einem seiner Fenster, als Darcy und Loki aus dem Tierheim zurück kommen. Er hat bis vor ein paar Minuten auf seinem Cello gespielt, hat versucht, seinen verwirrten Gedanken mit der Musik eine neue Richtung zu geben. Er kann nicht behaupten, dass er sonderlich viel Erfolg damit hatte.

Als er jetzt sieht, dass Darcy tatsächlich Lokis Hand hält, während sie mit ihm über den weißen Kiesweg geht, entkommt ihm ein ersticktes Grollen, und er erhebt sich entschlossen von der Fensterbank.

Wenn niemand sonst mit Darcy darüber reden will, dass sie sich im Zweifelsfall lieber für Johnny Storm entscheiden sollte, dann wird er das eben tun. Das Mädchen mag alt genug und zudem höchstgradig selbstständig sein, aber Darcy hat schlicht keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn sich ein fremder Verstand wie eine Nadel in den eigenen hinein bohrt. Er will nicht, dass sie - dass irgendwer - das Gleiche ertragen muss wie er.

Vor Doktor Scotts mag er es nicht eingestehen können, aber Loki hat ihn missbraucht. Er würde sich niemals vergeben, würde er zulassen, dass Darcy auch nur vergleichbares Leid zustößt.

Sie gehört jetzt zur Familie. Er wird sie beschützen.

Clint verlässt sein Zimmer, eilt die Treppe hinunter und zur Eingangshalle. Er ist nicht unbedingt außer Atem, als er sie erreicht hat, aber er braucht dennoch einen Moment, um sich zu sammeln.

Er braucht in der Tat lange genug, um zu realisieren, dass Darcy Lokis Hand nur deswegen hält, weil Loki andernfalls kehrt machen und wegrennen würde.

Phil hat ihm oft genug den Selbsterhaltungstrieb einer Fruchtfliege unterstellt, also ist Clint nur vage von sich selbst überrascht, als er einen ungestümen Schritt auf Loki zumacht und sich erst in letzter Sekunde davon abhalten kann, ihn an den Schultern zu fassen - ihm tatsächlich so etwas wie Halt zu geben. „Was ist passiert?“

Darcy wirft Loki einen besorgten Blick zu, dann zieht sie Clint eine entschuldigende Grimasse. „Wir würden es lieber ... öffentlich verkünden. Vor allen.“

Clint wird auf einen Schlag eiskalt, wenn er auch keine Ahnung hat, wieso. Die einzige Erklärung ist, dass er weiß, wie es sich anfühlt, einen Bruder zu verlieren. Er denkt nicht, dass Thor das Gefühl ein weiteres Mal ertragen könnte. Clint persönlich war schon von dem einem Mal überfordert.

Wieder wendet er sich Loki zu, sucht erfolglos seinen Blick. „Du bist doch nicht -“

Er ist selbst nicht ganz sicher, was er Loki fragen will, dementsprechend ist er beinahe erleichtert, als Darcy ihn unterbricht.

„Wir werden es erklären“, sagt sie, ihr Tonfall eine merkwürdigen Mischung aus energisch und behutsam. „Bitte warte, bis ich die anderen zusammengeholt habe, Clint.“

Sie hält noch immer Lokis Hand, und Clint weiß nicht, ob er es sich lediglich einbildet, Lokis Haut kurz blau aufschimmern zu sehen. Der Anblick erschreckt ihn nicht sonderlich - liefert er doch zumindest eine vage Erklärung für Lokis aufgewühlten Zustand. Wenn sein erster Ausflug in die Öffentlichkeit ausgerechnet damit geendet hat, dass sein inneres Monster Amok gelaufen ist, ist es kein Wunder, dass er alles andere als zufrieden mit der Gesamtsituation wirkt.

Aber die Art und Weise, wie er den Kopf gesenkt hält, kann nicht allein damit zusammenhängen. Loki sieht nicht einfach nur erschreckt aus. Er sieht aus, als habe er aufgegeben.

Clint presst die Lippen zusammen und folgt Darcy und Loki ins Wohnzimmer, sieht zu, wie sie ihren Schützling auf dem Sofa deponiert, während sie JARVIS leise dazu auffordert, alle zusammenzutrommeln. Sie lässt sich aufs Sofa plumpsen, kaum dass sie die Bitte geäußert hat, legt den Kopf in den Nacken und seufzt. „Ich wünschte, Pepper wäre hier.“

Clint setzt sich an ihre freie Seite. „Wir werden ohne sie auskommen müssen.“

Ihn treffen zwei mehr oder weniger fassungslose Blicke, und er zieht leicht die Nase kraus. „Was? Sie ist heute früh erst abgeflogen - wahrscheinlich ist sie sogar noch unterwegs. Wenn wir nicht gerade Thor oder Tony losschicken, um sie aus der Luft abzufangen, dann sind wir wohl tatsächlich auf uns gestellt!“

Darcy lehnt sich prompt in seine Richtung und an ihn - Clint legt ganz automatisch seinen Arm um sie.

„Du bist ein guter Mann, Clint Barton“, lässt sie ihn wissen, und ihre Stimme klingt so gefährlich nahe an Tränen, dass er automatisch einen besorgten Blick mit Loki zu tauschen geneigt ist.

Aber Loki starrt auf seine Hände hinab, die er in seinem Schoß verschränkt hat - bedeckt von Darcys so viel zierlicherer Rechter.

Die Berührung hat etwas unbeschreiblich Mütterliches, und Clint zieht unwillkürlich seinen Arm fester um sie zusammen. Dann betritt Tony als Erster das Wohnzimmer. „Ok, was ist los - wer ist gestorben?“

Er verharrt einen Meter hinter der Tür, nimmt das Bild auf, das sich ihm bietet, und kommt mit ernster Miene dichter ans Sofa heran. Er öffnet seinen Mund und schließt ihn wieder, als Steve hinter ihm auftaucht. „JARVIS hat gesagt, ich soll -“

Steves blaue Augen weiten sich einen Moment lang, dann wird sein Gesicht entschieden streng. „Was ist passiert?“

„Sie wollen auf die Anderen warten“, sagt Clint ernst. „Ich weiß von nichts.“

Steve nickt knapp, und setzt sich mit Tony auf eins der freien Sofas. Jane und Bruce treten als Nächste ein, Beide noch in ihren Laborkitteln. „Ich bin mitten in einem Versuch“, beginnt Jane, sich zu beschweren, nimmt einen schockierten Atemzug und eilt an die Sofagruppe heran, beugt sich über Loki, nimmt seine Hände in ihre. „Du siehst fürchterlich aus!“

Loki hebt seine Augen zu ihr an und überwindet sich zu einem gequälten Lächeln. „Vielen Dank.“

Sie geht vor ihm in die Hocke, im gleichen Moment, als Bruce sich neben Tony aufs Sofa setzt. „Was ist hier los?“

Tony zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber die Weltuntergangsstimmung ist schlicht überwältigend.“

Sie wird nicht unbedingt besser, als Thor und Natasha auftauchen. Sie scheinen direkt aus dem Trainingsraum zu kommen - Thor trägt seine Rüstung und einen grimmigen Gesichtsausdruck, Natasha hat sich ein Handtuch in den Nacken gelegt.

Keiner von Beiden verschwendet Zeit mit überflüssigen Fragen. Natasha hebt lediglich eine eloquente Augenbraue, Thor eilt zu Jane und Loki hinüber. Er erkundigt sich nicht, was passiert ist, aber seine Augen gleiten in einer Art und Weise über Loki hinweg, die davon zeugt, dass ihm keineswegs entgangen ist, dass etwas entschieden nicht stimmt.

Clint wirft einen suchenden Blick in die Runde. „Wo ist Phil?“

„Ich bin hier“, ertönt Phils Stimme von der Tür her, und Clint erhebt sich ganz automatisch vom Sofa und geht ihm entgegen. „Der Letzte, der auf den Versammlungsruf reagiert hat - ich bin entsetzt!“

Phils Stirn ist gerunzelt, sein Blick ernst, aber er lässt es sich doch nicht nehmen, auf Clints Scherz mit einem kleinen Lächeln zu reagieren. „Ich musste ein Telefongespräch mit dem Direktor abwürgen.“

Darcy stützt ihren Kopf in beide Hände und stöhnt. „Du kannst ihn sofort zurückrufen und eurem Gespräch zu wesentlich mehr Farbe verhelfen.“

Neben ihr sieht Loki inzwischen aus, als sei er bereit, sich in Luft aufzulösen. Für jemanden, der einen so deutlichen Hang zum Theatralischen hat, wirkt er jetzt überraschend unzufrieden damit, im Mittelpunkt zu stehen.

„Wir sind alle da, Darcy“, macht Steve sie sanft aufmerksam, beäugt Loki besorgt aus dem Augenwinkel. „Du kannst erzählen, was passiert ist.“

Sie zieht eine kleine Grimasse und ruckelt auf dem Sofa herum, bis sie Loki voll ansehen kann. „Willst du, oder soll ich?“

Loki hebt den Kopf, macht sich sehr gerade. „Ich kann mich kaum hinter dir verstecken.“

Clint rechnet mit einer scherzhaften Antwort, stattdessen beißt sie sich auf die Unterlippe und nickt. „Ok.“

Stille tritt ein, bedrückt und voller unangenehmer Vorahnungen, dann findet Clint sich plötzlich im Zentrum von Lokis Blick wieder.

„Ich muss ... ein Geständnis machen“, sagt Loki unglücklich.

Clint kann nicht wegsehen. Lokis Augen sind unglaublich ausdrucksvoll - furchtsam und merkwürdig apathisch in einem - und er wendet sie nicht für eine Sekunde von Clints ab. Clint registriert vage, wie Phil einen Arm um seine Schultern legt und ihn enger an sich zieht, aber der Sog von Lokis Blick lenkt ihn tatsächlich beinahe davon ab.

Das wirklich Merkwürdige ist, dass er sich dieser Anziehungskraft bewusst ist, ohne dass sie ihm Angst macht. Er weiß, dass Loki ihn nur deswegen so ansieht, weil er ihm etwas mitzuteilen hat - ihm mehr als den Anderen.

„Ich muss gestehen, dass ich … euch allen etwas vorenthalten habe“, sagt Loki mit einer Stimme, die ein wenig zu tragisch klingt, bricht endlich den Blickkontakt zu Clint, sieht stattdessen Thor an. „Meine Träume … haben sich gewandelt.“

Clint macht sich gerade, sein Herz schlägt ein wenig schneller.

Thor runzelt die Stirn und nickt, als wolle er andeuten, dass er sich dessen bereits bewusst war, legt eine seiner großen Hände auf Lokis Schultern. Er hatte sich nicht gesetzt, sich stattdessen hinter dem Sofa platziert. Es ist so ungewohnt ihn derartig ernst und schweigend zu sehen, dass es Clint einen Stich versetzt.

„Ich träume nicht länger von … von Dunkelheit ... Einsamkeit und Kälte“, fährt Loki langsam fort, Thors Hand auf seiner Schulter ein sichtlicher Trost. Er spricht so leise, dass niemand im Zimmer auch nur einen etwas lauteren Atemzug nimmt, geschweige denn ihn unterbricht.

Er sieht wieder Clint an. „Meine Träume zeigen mir nicht länger meine Vergangenheit - sie zeigen mir … die deine.“

Clints Augenbrauen schießen aufeinander zu, seine Miene drückt nichts als Zweifel und Unverständnis aus. Er hat noch immer keine Angst, und kann sich das nicht so recht erklären. Normale Leute in seiner Situation würden jetzt vermutlich eine Panikattacke bekommen, aber was er verspürt, ist Mitleid. „Meine?“

Phils Arm über seinen Schultern spannt sich merklich an, seine Finger krallen sich in den Stoff von Clints schwarzem Pullover.

„Deine“, bestätigt Loki mit einem schwachen Nicken. „Und die Agent Coulsons.“

„Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist er nicht lustig“, hört Clint Phil mit mühsam beherrschter Stimme sagen. Clint selbst ist nicht wütend. Er fühlt sich lediglich merkwürdig erschöpft.

Loki deutet ein Kopfschütteln an. „Es ist kein Scherz.“

„Wie lange“, beginnt Phil mit gepresster Stimme, „hast du diese Träume schon?“

Clint sieht Loki trocken schlucken. „Sie haben beinahe in der ersten Nacht begonnen, die ich unter diesem Dach verbracht habe. Zunächst hielt ich sie für … für nichts weiter als das: für Träume. Aber ich kann mir dessen nicht länger sicher sein. Ich bin in der Tat inzwischen davon überzeugt, dass sie … dass sie ein Symptom … eine Warnung sind.“

Phil erhebt sich ruckartig von seinem Platz. „Es wäre mir sehr viel lieber, wenn du einfach zugeben würdest, dass du versucht hast, einen Weg zurück in Clints Bewusstsein zu finden!“

Einen Moment lang starrt Loki schweigend zu ihm auf, dann senkt er seinen Blick, weicht Phils wütendem Starren aus, sieht nur noch unglücklicher aus als zuvor. „Ich kann Ihnen keinen Vorwurf daraus machen, dass Sie so fühlen, Agent Coulson - aber ich habe in der Tat nichts dieser Art versucht. Agent Barton wäre wohl der Erste, der … von einem solchen Versuch betroffen gewesen wäre.“

„Er ist betroffen!“ fährt Phil ihn an. „Er ist derjenige, der jetzt von … von Einsamkeit und Dunkelheit träumt!“

Lokis Blick zuckt zurück in die Höhe, und jetzt sieht er weniger unglücklich und ängstlich als völlig entsetzt aus. „Was?“

Clint sieht Phil die Hände zu Fäusten ballen und die Schultern anspannen, und hält ihn fest, als er einen hastigen Schritt nach vorn und auf Loki zu macht. „Phil.“

Aus dem Augenwinkel sieht er, wie Steve und Tony ihn anstarren, besorgt und mindestens so entsetzt wie Loki. Clint wird ein wenig schlecht, als er begreift, dass er es ihnen hätte sagen müssen - dass Natasha durchaus im Recht damit ist, wenn sie ihre Gefühle hinter einer besonders undurchdringlichen Maske vor ihm versteckt.

Phil bleibt stehen, wo er ist, aber er sieht Loki noch immer auf eine Art an, dass Clint unwillkürlich erleichtert ist, dass er seine Dienstwaffe nicht bei sich trägt, wenn sie Zuhause sind. „Wir haben dich hier willkommen geheißen!“ fährt er Loki an. „Wir haben dich gegen Direktor Fury in Schutz genommen, wir haben deine Wunde versorgt und dich gepflegt - und die ganze Zeit -“

„Phil“, unterbricht Darcy ihn überraschend sanft. „Nicht. Bitte.“

Phils Kopf ruckt zu ihr herum, und er starrt sie wütend an - dann senken sich seine Schultern, und ein Teil seiner Anspannung weicht aus ihm. „Du glaubst ihm? Du vertraust ihm?“

Sie nickt. „Ich glaube ihm. Er hat das hier nicht gewollt. Du musst doch sehen, wie … wie sehr ihn die Situation belastet.“

Phils Gesicht überzieht ein schmerzvoller Schatten. „Ich habe einen Großteil meines Lebens in der Gesellschaft von Geheimagenten und professionellen Psychopaten verbracht. Du wirst meine Zurückhaltung, auf den oberflächlichen ersten Eindruck zu vertrauen, entschuldigen müssen.“

„Aber es ist nicht der oberflächliche erste Eindruck“, mischt Jane sich mit belegter Stimme ein. „Wir alle haben gespürt, dass etwas nicht stimmt.“

Bruce räuspert sich verhalten, wirft einen unsicheren Blick in die Runde. „Was tun wir?“ Es schwingt ein solch starkes Bestreben zu helfen in seiner Stimme mit, dass Clint sich sofort geradezu lächerlich sicher fühlt.

Loki senkt den Kopf, starrt auf den Teppich hinab. „Ich werde nach Asgard zurückkehren. Ich werde den Allvater bitten, den Zerstörer zu meinem Wächter ... meinem Kerkermeister zu machen. Ich kann nicht länger hier bleiben, und euch alle in Gefahr bringen. Wenn ich mich ein weiteres Mal verliere, soll niemand durch meine Hand zu Schaden kommen.“

Thor und Darcy reagieren auf diese Ankündigung mit einem synchronen und äußerst energischen „Nein!“ - Loki lächelt matt. „Mein Entschluss ist gefasst. Mein Verstand mag angegriffen sein, aber noch ist er gefestigt genug, dass ich meinen Willen durchzusetzen vermag.“

„Also willst du weglaufen, anstatt zu versuchen, Barton zu helfen?“ erkundigt Tony sich mit schneidendem Unterton bei ihm. Seine Stimme klingt unangenehm laut im Vergleich zu der bleiernen Stille, die sie durchbrochen hat. Clint kann nicht anders, als ihn anstarren.

Loki scheint es ähnlich zu gehen. „Helfen?“ wiederholt er schwach.

„Wenn du tatsächlich die Wahrheit sagst, und keineswegs geplant hattest, deine Träume mit Bartons zu tauschen, dann sollte es auch in deinem Interesse liegen, diesen Tausch rückgängig zu machen, oder nicht? Bin ich der Einzige, dem aufgefallen ist, dass es kaum ein Zufall sein kann, dass ausgerechnet ihr Beide betroffen seid?“

Loki blinzelt. „Ich … halte es für ein erstes Symptom.“

Tony zieht ihm eine ungeduldige Grimasse. „Nicht, wenn Barton das gleiche Problem hat, du Idiot.“

Loki blinzelt ein weiteres Mal, scheint die Beleidigung überhaupt nicht wahrgenommen zu haben. „Ich …“

„Du wirst in Midgard verweilen, Bruder“, sagt Thor fest. „Und wir werden dich heilen - dich und Clint.“

„Was, wenn es keine Heilung gibt?“ erwidert Loki pessimistisch.

„Dann wirst du lernen müssen, mit deiner … Behinderung zu leben“, sagt Tony trocken. „Lass es dir von jemandem sagen, der Erfahrung damit hat: mit der Zeit gewöhnt man sich an so ziemlich alles.“ Er tauscht einen Blick mit Bruce. „Hab ich Recht?“

Bruces Mundwinkel heben sich in einem unfreiwilligen Lächeln. „Du hast Recht.“

Clint kann plötzlich mit erschreckender Klarheit nachvollziehen, warum Steve regelmäßig von dem Bedürfnis überwältigt wird, Tony zu umarmen. Ihm entkommt ein zitternder Atemzug. „Also?“ wiederholt er Bruces Worte von zuvor. „Was machen wir?“

Clint sitzt mit freiem Oberkörper auf dem Tisch in Bruces Labor, es kleben ausgerechnet Elektroden auf seiner Brust, und wenn er völlig ehrlich mit sich selbst ist, dann ist ihm ein bisschen langweilig. Polarographie hat ihn noch nie sonderlich fasziniert.

Natasha, die sich als stiller Wächter in einer Ecke des Labors aufgebaut hat, ist ihm in unterhaltungstechnischer Hinsicht keine Hilfe.

Wenn Phil nicht damit beschäftigt wäre, eine Spurrille in den Laborfußboden zu laufen, würde er das vielleicht sogar laut aussprechen und es riskieren, Natasha ein wenig zu ärgern. Aber so wie die Dinge stehen, wird er einen Teufel tun und die allgemeine Besorgnis herabspielen.

Er fühlt sich besser, seit alle Bescheid wissen, nicht schlechter - macht sich nicht mehr Sorgen sondern weniger. Geteiltes Leid ist in der Tat halbes Leid. Phil hingegen scheint Lokis Geständnis vor allem ganz schrecklich wütend gemacht zu haben.

Clint hat ihn nie zuvor so aufgeregt und - er traut sich kaum, es auch nur zu denken - erregend unbeherrscht gesehen. Die Wut in seinen Augen ist so roh und echt, dass sie Clint heiße Schauer über den Rücken jagt.

„Hm“, macht Bruce hinter einem von Tonys schrecklich flachen transparenten Computerbildschirmen. „So weit kann ich nichts Verdächtiges feststellen.“

Er hat Clint Blut und Speichelproben abgenommen, Clints großzügiges Angebot einer Spermaprobe abgelehnt, und dann angefangen, ihn mit Elektroden zu bekleben. Es wird wohl noch eine Weile dauern, ehe die Blut und Speichelproben ausgewertet sind.

„Körperlich scheint dir nichts zu fehlen“, murmelt Bruce, macht einen Eintrag in sein altmodisches Notizbuch, das er noch immer benutzt, obwohl Tony ihm schon vor geraumer Zeit alles andere als subtil das neueste Starkpad auf den Labortisch gelegt hat. Mit ner grünen Schleife drum.

„Das hätte ich dir gleich sagen können“, erwidert Clint betont leichtherzig. „SHIELD testet uns regelmäßig. Ich bin praktisch ein Zuchthengst.“

Bruce blinzelt ihn aus warmen braunen Augen an. „Vielen Dank für dieses mentale Bild.“

Clint wackelt verspielt mit den Augenbrauen - dann wirft er einen entschuldigenden Blick in Phils Richtung. Aber Phil scheint überhaupt nicht zugehört zu haben.

Jane, eine besorgte Präsenz am anderen Ende des Labors, informiert Loki derweil darüber, dass seine Körpertemperatur ein wenig unter dem Normwert liegt - abgesehen davon fehlt auch ihm nichts. Auch von ihm wollten sie keine Spermaprobe. Clint war so gut und hat für Loki gleich mit gefragt.

Darcy hat wieder die Rolle von Janes Assistentin übernommen, wenn Clint auch einigermaßen klar ist, dass sie neuerdings eher Lokis emotionalen Sicherheitsanker als eine bloße Handlangerin darstellt.

Es ist schon beinahe liebenswert, wie Loki jeden ihrer Schritte aus hilflosen, dunklen Augen verfolgt. Clint ist fast geneigt, ihn mit einem Welpen zu vergleichen. Gott sei Dank hat Bruce unter Anderem vor, die Vorgänge in seinem Hirn zu überprüfen.

Thor, die Arme vor der Brust verschränkt und sichtlich unbehaglich in seiner Unfähigkeit, auch nur das Geringste auszurichten, stößt ein unzufriedenes Knurren aus und geht zu Natasha hinüber. Sie tätschelt tatsächlich seine Brust und zieht ihn sanft an einer Strähne seines Haars. Es erweckt den Eindruck, als würde ihn das ein wenig beruhigen. Clint ist schwer beeindruckt. Bei Phil würde das niemals funktionieren, selbst wenn er die entsprechenden Haare hätte.

Phil bleibt plötzlich stehen, wirft einen schon beinahe wilden Blick in die Runde, marschiert dann abrupt an Bruces Seite. „Gib mir was zu tun. Irgendwas. Ich werde wahnsinnig.“

Bruces Brauen runzeln sich, und er rückt seine Brille gerade. Clint beobachtet die Beiden schweigend, hofft, dass es tatsächlich etwas gibt, das Bruce Phil zu tun geben kann.

„Hol mir alles, das während der Invasion in näheren Kontakt mit Loki gekommen ist“, sagt Bruce, wie üblich der unerschütterliche Fels in der Brandung. Clint hätte wissen müssen, dass er sich uneingeschränkt auf ihn verlassen kann. „Alle Waffen, sämtliches Equipment - alles, was den Effekt auslösen, oder als Katalysator dienen könnte. Falls du über irgendetwas unklar sein solltest: JARVIS wird dir weiter helfen können. Er war den ganzen Kampf über aktiv.“

Phil nickt und geht. Clint tauscht einen besorgten Blick mit Bruce, und Bruce verlässt seinen Computerbildschirm und geht zu ihm hinüber, senkt leicht den Kopf, so dass nur Clint ihn hören kann. „Ich fürchte, wenn ich nicht bald etwas finde, dann wird er Loki ... wehtun.“

Clint schluckt trocken. „Das fürchte ich auch.“

Er ist geblieben.

Loki kann sich kaum zu seiner eigenen Befriedigung begreiflich machen, wieso. Es wäre zweifellos einfacher gewesen, Midgard zu verlassen. Es behagt ihm keineswegs, getestet und analysiert zu werden. Er hat ein wenig Angst davor, welche Mängel zusätzlich zu seinem Unvermögen, sein eigenes Unterbewusstsein zu beherrschen, dabei zu Tage gefördert werden könnten. Aber er kann nicht ignorieren, wie sein Geständnis aufgenommen worden ist.

Mit Ausnahme einer einzigen Person hat ihm niemand eine niederträchtige Absicht unterstellt, und Agent Coulsons Anschuldigungen ruhen auf einem Fundament, das zu solide ist, als dass Loki ihm seinerseits Vorwürfe machen könnte. (Es fällt ihm ohnehin schwer, Phil Coulson auch nur die geringsten Vorwürfe zu machen.)

Doch abgesehen von Agent Coulson hat ihn niemand attackiert, weder verbal noch physisch. Stattdessen wurden Pläne gemacht, Theorien aufgestellt - Er ist nicht wie ein Problem behandelt worden, das gelöst werden muss, sondern beinahe wie ein Freund, der Hilfe benötigt.

Nicht ganz wie ein Freund, nicht völlig gleichberechtigt, aber Loki hat versucht, diese Menschen umzubringen, und dennoch sind sie bereit, ihm zu helfen. Er muss zugeben, dass ihn dieses Verhalten in Jane, Darcy und natürlich Thor nicht länger sonderlich überrascht. Alle drei sind stur, mitunter schrecklich realitätsfremd, und wenn nötig über jeden Zweifel ihrer Mitmenschen an ihrem Verhalten absolut erhaben.

Aber Tony Stark hat sich sofort bereit erklärt, die nötigen Untersuchungsgeräte entweder zu kaufen, oder selbst zu bauen - und sie auf Lokis fremdartigen Organismus abzustimmen, wenn nötig. Und er hat Loki angesehen, während er es gesagt hat, Spott und Herablassung im Blick, aber keinen Hass, kaum eine Spur von Misstrauen, kein Mitleid.

Steve, so jung und doch so überraschend ernsthaft, stets rechtschaffen und aufrichtig, hat versucht, ihn zu beruhigen, ihm Sicherheit zu vermitteln. Loki weiß nicht, wie der Mann es anstellt, aber er bringt es tatsächlich fertig, dass Loki sich neben ihm fühlt, als sei er der Jüngere - als könne er sich Steve bedenkenlos anvertrauen.

Niemand hat vorgeschlagen, Loki unter Schloss und Riegel zu setzen, bis das Problem gelöst ist, im Prinzip hat sich niemand mit Ausnahme Agent Coulsons auch nur aufgeregt oder ist in Panik geraten. Nicht einmal Agent Barton.

Loki ist vertraut mit Barton, nicht nur aus ihren geteilten Träumen, auch aus der Zeit, die der Mann seinem Willen unterworfen war, und er kennt ihn - seine Schwächen und Stärken, ist mit seinem Charakter in einer Weise vertraut, die man nur als intim bezeichnen kann.

Er kennt Clint viel besser, als er je offen eingestehen könnte. Vor allem könnte er nie eingestehen, wie gern er ihn ob dieses unfreiwilligen Wissens hat. Nicht, weil er glaubt, dass sie sich ähnlich seien, nicht, weil er Mitleid für ihn empfände.

Aber neben all den Alpträumen, unter Selbstzweifeln und der tiefsitzenden Angst, allein gelassen zu werden, verspürt Clint eine Freude am Leben, die Loki wahrhaftig wunderbar erscheint.

Clint ist schrecklich kindisch, ein fürchterlich respektloser junger Mann - und doch ein durch und durch professioneller Agent, wenn er sich im Einsatz befindet; er hat Angst, verlassen zu werden und liebt doch so rückhaltlos; er ist geschlagen, betrogen und allein gelassen worden, und doch vertraut er sich seinen Freunden mit nahezu unbehütetem Herzen an.

Clint weiß über Natasha Bescheid, über ihre dunkelsten Geheimnisse, ihre schlimmsten Verbrechen, aber er liebt sie. Er betrachtet sie im Licht einer Schwester, einer Vertrauten, einer Erlöserin. Vor ihr war er beinahe der einzige SHIELD Agent, der aus dem Rahmen der gestrengen Eintönigkeit und Professionalität fiel. Gemeinsam sind sie stärker und gleichzeitig schwächer; sie hüten die Geheimnisse und verlassen sich auf die Fähigkeiten des Anderen, und bewahren einander ihre Menschlichkeit.

Kurzum, Loki kennt Clint, und er hatte erwartet, dass Clint ... dass er versuchen würde, ihn umzubringen, wenn er die Wahrheit erfährt.

Denn Clint liebt Agent Coulson, liebt ihn mit allem, das er hat, und allem, das er ist ... und Loki ist eine Gefahr für ihn, für sie Beide.

Dementsprechend kann Loki, so gut er Clint auch kennt, nicht begreifen, wieso er nicht attackiert worden ist, wie Clint so ruhig bleiben konnte.

Jane und Darcy wirken nervös, wenn nicht sogar bedrückt, Doktor Banners Miene ist ernst, nachdenklich und aufs Höchste konzentriert, Thor und Natasha sind stumme Statuen stählerner Wachsamkeit - Agent Coulson musste das Labor verlassen, seine aufgewühlten Emotionen für jeden deutlich ersichtlich.

Clint wirkt entspannt. Loki weiß, wie gut der Mann darin ist, Unangenehmes zu verdrängen, aber er wirkt nicht, als würde er irgendetwas verdrängen.

Loki kann nicht anders, als zu Clint hinüber starren, seine Haltung auf dem Labortisch in sich aufzunehmen, die weiche Kurve in seinen Schultern zu bemerken. Clint hat keine Angst.

Dann sieht Loki, wie Clint und Doktor Banner einen Blick tauschen, flüchtig, kaum länger als die Dauer eines Wimpernschlages, und er begreift.

Doktor Banners Miene ist in der Tat ernst, nachdenklich und aufs Höchste konzentriert - aber seine Augen sind warm, freundlich und beruhigend, seine Hände, wenn sie Clint berühren, sanft und geschickt, und obwohl es lange her ist, und er die Erinnerungen nur ungern zulässt, weiß Loki doch, wie sich so etwas anfühlt.

Erinnerungen an den Allvater, an seine Mutter ... sogar an Heimdall, der ihn im Schwertkampf unterwiesen hat. Sie alle waren die Wächter seiner Jugend, und er hat sich nie wieder so sicher gefühlt wie unter Heimdalls wachsamen, goldenen Augen.

Er hat erst sehr viel später gelernt, diese Augen abzulehnen und zu verdammen, und das aus den unverzeihlichsten Gründen. Sie sind sich ähnlich, beschließt Loki - Doktor Banner und Heimdall - wenn er auch nicht genau weiß, woran er diese Ähnlichkeit festmachen soll.

Vielleicht an der unerschütterlichen Ruhe, die sie selbst in Krisensituationen ausstrahlen, an der Kraft, die dieser Ruhe zugrunde liegt. An der Wärme in ihren Augen.

Doktor Banners Augen, erinnert Loki sich, sind immer die Selben. Es mag keine Ruhe mehr in ihnen liegen, wenn er der Hulk ist, aber noch immer die gleiche Kraft und die gleiche Freundlichkeit, eine nicht zu leugnende Intelligenz.

Nichts, beschließt Loki, nicht das Geringste hat er über die Avengers gewusst, als er so hochmütig beschlossen hat, ihre Welt unter seine Herrschaft zu bringen.

Er ist überraschend dankbar dafür, in seinem größenwahnsinnigen Vorhaben gescheitert zu sein. Denn die Konsequenzen seines Scheiterns zieht er denen, die ein Triumph gehabt hätte, mit überraschender Leidenschaft vor.

„JARVIS“, sagt Tony in die lähmende Stille im Wohnzimmer hinein. Er ist mit Steve allein dort zurück geblieben, ist nicht mit den anderen ins Labor gegangen. Er fand, Clint habe schon genügend Beschützer um sich.

Sir? antwortet JARVIS in einem Tonfall, der sich nur als vorsichtig beschreiben lässt.

„Hast du’s gewusst?“ fragt Tony ihn leise, und ignoriert entschlossen Steves entgeisterten Blick. Steve behandelt JARVIS durchaus wie eine Person, nicht wie einen Computer, aber manchmal ist ihm nicht ganz klar, dass JARVIS tatsächlich über eine ganz eigene Persönlichkeit verfügt. Dass er seine eigenen Geheimnisse hat.

Die Inhalte von Agent Bartons Alpträumen waren mir in der Tat bekannt, Sir, erwidert er auch prompt, das Schuldbewusstsein in der distinguierten britischen Stimme deutlich zu hören. Er hat sie Agent Coulson mitgeteilt.

Tony runzelt die Stirn. „Und Loki?“

Auch bei ihm schienen Alpträume ein regelmäßiges Vorkommnis zu sein, Sir. Ihr Inhalt war mir allerdings ganz und gar unbekannt.

Tonys Stirnrunzeln vertieft sich. „Und du hast es nicht für nötig gehalten, das zu erwähnen? Ich hatte dir aufgetragen, ihn unter strenger Beobachtung zu halten.“

Sie erschienen mir im allgemeinen Kontext nicht weiter erwähnenswert, Sir.

„Es waren Alpträume, JARVIS! Du hättest es besser wissen müssen!“

JARVIS schweigt, aber Tony kann das unausgesprochene ‚Hätte ich das?’ trotzdem hören. „Du bist nicht einer Meinung mit mir?“ erkundigt er sich bissig.

Sir, bei allem Respekt, erwidert JARVIS zurückhaltend, aber jeder in diesem Haus hat Alpträume - Sie eingeschlossen. Es erschien mir in der Tat eher als ein beruhigendes Zeichen der Normalität, dass Loki keine Ausnahme bildete.

Tony legt den Kopf in den Nacken und auf die Sofalehne, schließt die Augen. „Ok, JARVIS. Entschuldige.“

Ich kann Ihre Erregung sehr wohl nachvollziehen, Sir. Wünschen Sie, dass ich in meinen Video und Audiodateien nach eventuellen Irregularitäten suche?

„Das wäre entzückend“, erwidert Tony schwach.

JARVIS schweigt und beginnt.

Tony hält noch immer die Augen geschlossen.

Die Stille im Wohnzimmer breitet sich unangenehm aus.

„Tony“, sagt Steve dann vorsichtig. Tony blinzelt ihm mit einem Auge zu. „Was?“

„Es ist nicht deine Schuld.“ Steve sieht schrecklich entschlossen aus.

Tony macht das Auge wieder zu. „Ich hab geahnt, dass was nicht stimmt, und nichts unternommen. Es ist meine Schuld.“

„Was hättest du bitte tun sollen?“ fragt Steve ihn eindringlich, legt ihm die Hand auf die Schulter. Tony hebt den Kopf und blickt ihm fest in die Augen. „Das hier ist mein Haus. Ich habe Clint und Loki unter diesem Dach zusammengebracht. Es war meine Aufgabe, sicher zu stellen, dass ihm nichts -“

„Tony, hör auf“, unterbricht Steve ihn sanft. „Du bist nicht derjenige, der Loki hierher gebracht hat.“

„Ich habe ihn nicht direkt zurück nach Asgard geschickt, als ich die Gelegenheit dazu hatte!“ entgegnet Tony scharf.

„Richtig. Du hast diese Entscheidung Clint und Phil überlassen. Du bist nicht verantwortlich.“

„Ich hätte besser aufpassen sollen“, murmelt Tony schwach, lässt seinen Blick sinken, starrt leer an Steves Kopf vorbei und an die gegenüberliegende Wand.

„Du hast aufgepasst“, widerspricht Steve ihm mit warmer Stimme. „Du hast bemerkt, was mir völlig entgangen ist. Es tut mir leid, dass ich dir nicht geglaubt - dass ich deine Bedenken so leichtfertig abgewehrt habe.“

Tony schnauft unwillkürlich. „Von leichtfertig kann wohl kaum die Rede sein. Ich möchte behaupten, es gibt niemanden, der weniger leichtfertig ist als du.“

Steves Hand liegt noch immer auf seiner Schulter, und jetzt drückt sie sanft zu, schüttelt ihn ein wenig. „Bitte gib dir nicht die Schuld, Tony.“

Tony sieht ihn erschöpft an. „Wieso nicht?“

Steves Miene ist gleichzeitig ganz schrecklich streng und unglaublich liebenswert. „Weil ich dein Captain bin, und es dir befehle.“

Tony starrt ihn sprachlos an, und Steve schiebt das Kinn vor, ein Funkeln in den Augen. „Verstanden?“

„Dein Sinn für Humor“, sagt Tony schwach, und fassungsloses Gelächter steigt in seiner Brust auf, „ist nicht aus dieser Zeit.“

„Er ist mit den Jahren besser geworden“, erwidert Steve prompt. „Wie guter Wein. Oder Käse.“

Damit zieht er Tony in eine unwiderstehliche Umarmung und drückt ihn beruhigend. Tony kann nicht anders, als sich ein bisschen besser fühlen.

Das Abendessen an diesem Tag ist eine relativ bedrückende Angelegenheit. Bruce hat an Clint bisher nicht die kleinste Absonderlichkeit feststellen können, und Jane geht es mit Loki nicht großartig anders. Dafür wissen sie jetzt , dass Lokis Knochenstruktur und seine inneren Organe und Nervenbahnen überraschend menschlich sind.

Eine Eröffnung, der Loki mit stiller Faszination, und Thor mit offensichtlicher Begeisterung begegnet.

Phil ist nach wie vor ganz schrecklich aufgewühlt, und so langsam fängt Clint an, sich ernsthafte Gedanken seinetwegen zu machen. Es passt einfach nicht zu Phil, seine Gefühle derartig offen vor sich her zu tragen. Clint will ihm keineswegs unterstellen, dass er sonst nichts empfindet - aber er zeigt es nicht, hat sich stets unter perfekter Kontrolle.

An diesem Abend ist er der Einzige am Tisch, der sich nicht am Gespräch beteiligt, der eine undurchdringliche, abweisende Stille bewahrt. Loki wagt es inzwischen kaum noch, auch nur in seine Richtung zu sehen.

Clint macht ihm keinen Vorwurf daraus. Ein wütender Phil ist verdammt eindrucksvoll. Fast schon Ehrfurcht gebietend. Clint nimmt unter dem Tisch seine Hand, hält sie fest.

Phil wendet ihm sofort den Blick zu, und der ungehemmte Beschützerdrang in seinen Augen lässt Clint mit einer Hitze zurück, die ihm Angst machen würde, fühlte sie sich nicht so gut an.

„Phil“, sagt er heiser, „es ist ok.“

Phils Kiefermuskulatur spannt sich in alarmierendem Maße an. „Es ist nicht ok“ erwidert er mit gedämpfter Stimme, aber deswegen nicht weniger scharf. „Er hat gelogen.“

Clint kann es kaum fassen, aber fühlt sich tatsächlich dazu berufen, Loki zu verteidigen. „Er hat geschwiegen. Und das haben wir auch.“

Phil nimmt einen hastigen Atemzug, weicht plötzlich seinem Blick aus, und Clint runzelt leicht die Stirn. „Phil?“

„Ich habe Bruce und Pepper von deinen Träumen erzählt“, sagt er kaum hörbar, seine Stimme schwer vor Reue.

Clint blinzelt ihn an, kurz absolut bar jeden Verständnisses. „Du hast ...“ Er hält kurz die Luft an, aber es ist nicht Enttäuschung oder Wut, die ihn inne halten lässt, sondern Begreifen und ein überraschend klares Verständnis.

„Das ist nicht der Punkt“, fährt er also behutsam fort, selbst davon überrascht, wie leicht es ihm fällt, mit dieser unerwarteten Information umzugehen. Aber wenn er es nicht Phil erzählt hätte dann ... er hätte sich Bruce anvertraut, oder Natasha. Ganz ohne jeden Zweifel.

Er kann nicht wütend auf Phil sein, weil auch er jemanden braucht, dem er sich anvertrauen kann. Es macht ihn sogar froh, dass er nicht nur eine, sondern zwei Personen gefunden hat. Phil war viel zu sehr daran gewöhnt, alles mit sich selbst auszumachen. Vor seinen regelmäßigen Sitzungen mit Doktor Scotts ist das Clint weder aufgefallen, noch hätte er sich darüber Sorgen gemacht, wäre es der Fall gewesen.

Phil blickt von der Betrachtung der Tischplatte auf, sieht ihn mit verwirrt gekrauster Stirn an. „Ist es nicht?“

Er sieht gleichzeitig rachelüstern und auf seltsam rastlose Art hilflos aus, und Clint, anstatt eine Antwort abzugeben, beugt sich zu ihm hinüber und küsst ihn.

Phil entkommt ein überraschtes Keuchen, aber er erwidert den Kuss, hebt seine Hand an Clints Wange. Was sanft und aus dem reinen Bedürfnis entstanden ist, Phil Ruhe und Trost zu vermitteln, eskaliert innerhalb von Sekunden.

Es ist Tony, der sich schließlich nachdrücklich räuspert. „Wir versuchen, hier zu essen.“

Clint löst seine Lippen mit einem höchst unanständigen Laut von Phils, wendet sich Tony mit einem unverschämten Grinsen zu. „Was hält euch auf?“

Die komplette Tischrunde starrt zu ihnen hinüber, und nicht einer von ihnen sieht unangenehm berührt aus. Nicht einmal Steve. Darcy und Thor grinsen sogar über beide Backen.

Inkonsequenter und unsinniger Weise läuft Clint auf einen Schlag knallrot an. Tony lacht ihn prompt aus und steht vom Tisch auf. Vermutlich, um Pepper anzurufen.

Aber nachdem Clint bewiesen hat, dass zumindest er sich nicht mit ganz grässlicher Mannespein herumschlägt, wird die Stimmung am Tisch deutlich besser. Loki sieht noch immer ein wenig aus wie etwas, das man aus einer halb zugefrorenen Pfütze gefischt hat, aber da das nichts großartig Neues ist, reagiert auch niemand außer Thor darauf mit übertriebener Besorgnis.

Clint zweifelt allerdings keine Sekunde daran, dass Darcy und Jane jeden anfallen werden, der Loki auch nur schief von der Seite ansieht. Da Natasha, was Clint betrifft, einen ähnlichen Eindruck erweckt, wird er sich darüber ganz sicher nicht beschweren.

TEIL 36

fandom: avengers, autor: uena

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