Der Cellist - Teil 8

Jun 05, 2012 12:26


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Die Limousine gleitet behäbig durch den zähen New Yorker Nachmittagsverkehr. Tony starrt ungeduldig über seine Sonnenbrille hinweg aus dem verdunkelten Fenster zu seiner Rechten. „Ich hätte den Anzug nehmen sollen.“

„Wir haben Zeit, Tony“, erwidert Pepper links von ihm.

„Das sagst du nur, weil du Papierkram machen wolltest.“

Er dreht ihr den Kopf zu und studiert flüchtig die Zettel, die sie auf ihrem Schoß ausgebreitet hat, ehe ihm einfällt, wieso er so ein grauenvoller CEO war - Papierkram ist langweilig - und er schnell wieder weg guckt.

„Korrekt“, erwidert sie mit einem amüsierten Lächeln. „Hat nicht das Geringste damit zu tun, dass ich zu Höhenangst neige, und es nicht leiden kann, wenn mir der Flugwind die Schuhe auszieht.“

Tony grinst. „Frauen. Euch geht’s immer nur um Schuhe.“

Pepper brummt zustimmend und streicht einen Paragraphen in ihren Unterlagen durch.

„Pepper.“

„Ja, Tony.“

„Pepper.“

„Was ist denn, Tony?“

„Bruce hat gesagt, Clint war in Phil verliebt.“

„Das hat er nicht.“

„Er hat es gesagt, Pepper! Denk nicht, ich hätte das nicht mitbekommen, bloß weil ich gerade erst aufgestanden -“

„Er hat gesagt, dass Clint ihn geliebt hat, Tony. Da besteht ein Unterschied. Ich selbst bin oft und gern verliebt. Seit heute früh bin ich beispielsweise in Bruce und seinen Kaffee verliebt. Das heißt nicht, dass ich ihn liebe. Obwohl ich gestehen muss, dass ich beim Kaffee nicht so sicher bin.“

Tony öffnet seinen Mund, schließt ihn wieder. Zieht die Stirn kraus. „Denkst du, er hat Recht?“

„Ich denke, dass Bruce sehr gut weiß, was sich um ihn herum abspielt.“

„Ja, aber er hat die Zwei doch nie zusammen erlebt.“

„Er hat Agent Barton erlebt. Ich kann nur annehmen, dass ihm das genügt.“

Tony ist einen Moment lang still. „Stört‘s dich eigentlich, dass die Villa zum Superheldenhauptquartier avanciert ist?“

Pepper faltet ihre Papiere zusammen und schenkt ihm ihre volle Aufmerksamkeit. „Warum sollte mich das stören?“

Tony versucht sich an einem nonchalanten Schulterzucken. Sie kennt ihn besser.

„Ich bin oft und lange unterwegs“, leitet sie ihre Antwort ein. „Aber selbst wenn ich das nicht wäre, würde es mich nicht stören. Die Villa ist groß, und wenn wir unsere Privatsphäre wollen, dann werden wir sie bekommen. Zur Not hast du andere Immobilien. Wenn wir sie nicht wollen, haben wir jetzt ein ganzes Haus voller Gesellschaft - und wenn ich ganz ehrlich bin, dann beruhigt es mich ungemein, dass … dass du nicht allein bist, wenn ich nicht da bin.“

Er nimmt seine Sonnenbrille ab. „Pepper.“

„Tony.“

„Ich bin dazu in der Lage, mich um mich selbst zu kümmern.“

„Nein, Tony. Du bist dazu in der Lage, zu überleben. Da hört es aber auch schon auf.“

Die Limousine kommt zum Stehen.

„Oh, sieh nur, wir sind da“, sagt Pepper heiter. „Ich warte hier auf euch.“

Tony steigt grummelnd aus dem Wagen.

Das SHIELD Hauptquartier ist seltsam still. Es sind kaum Agenten unterwegs, und die wenigen, die die Flure - Tony will nicht sagen beleben, eher zombifizieren - ignorieren ihn gekonnt.

Nicht einmal Fury posiert dramatisch in der Gegend herum, um ihm einäugige Blicke der Verachtung zuzuwerfen.

Das alles wäre Tony durchaus Recht, hätte er auch nur die Geringste Ahnung, wo Steves Zimmer ist.

Aber Tony Stark wird sich nicht zweimal im gleichen Gebäude verlaufen, dementsprechend hat er nach dem letzten peinlichen Debakel heimlich JARVIS in SHIELDs Datenbank installiert und macht sich diesen Umstand jetzt zunutze.

Sicher in dem Wissen, dass ihn niemand beobachtet, steckt er sich eins seiner wahnsinnig durchdesignten Mikrophone ins Ohr.

„JARVIS.“

Sir.

„Führ mich zu Steve.“

Sehr wohl, Sir.

Er schickt Tony in den Keller.

Tony rechnet halb damit, dass der Fahrstuhl ihn in einen Trainingsraum ausspucken wird - voller mitgenommener Sandsäcke und aus der Mode gekommener Fitnessgeräte.

Aber er landet in einem weiteren anonymen Flur.

„SHIELD hat Quartiere unter der Erdoberfläche?“

Insgesamt einundzwanzig, Sir. Wenn ich die Daten, die mir zur Verfügung stehen, nicht falsch auslege, ist dies hier der Bereich für die Agenten auf Bewährung.

„Auf Bewährung?“

Agenten mit besonderen Fähigkeiten aber fragwürdigen Loyalitäten, Sir.

„Fury stellt Steves Loyalität in Frage?! Weißt du was, versuch gar nicht erst, das zu beantworten. Welches ist seine Tür?“

Die am Ende des Ganges, Sir.

„Natürlich.“

Tony setzt sich in Bewegung und malt sich in Gedanken aus, Fury einmal gehörig die Leviten zu lesen. Besser noch, sie ihm von Pepper lesen zu lassen. Niemand liest Leviten wie Pepper. Selbst, wenn Tony keine Ahnung hat, was Leviten eigentlich sind. Er zögert.

„JARVIS, was sind Leviten?“

Die Priester des Königreiches Juda, Sir.

„Mhm. Danke.“

Gern geschehen, Sir.

„… Und die haben was genau mit der Redewendung Leviten Lesen zu tun?“

Das Buch Levitikus ist unter anderem eine Sammlung ethnischer Riten und sozialer Vorschriften und spielte bei Disziplinarmaßnahmen im Kloster eine gewisse Rolle, Sir.

„Aah. Kinky.“

Wenn Sie das sagen, Sir.

Tony hat Steves Tür erreicht. Sie ist grau. Sie ist trist.

Tonys Meinung nach sollte sie mindestens blau sein, wenn nicht sogar dekoriert mit roten und weißen Streifen und einer Unmenge an Sternen. Sie sollte Musik machen. Sie sollte die Nationalhymne spielen.

Er wird Fury darauf aufmerksam machen, ehe er Pepper auf ihn hetzt, ihm die Leviten zu lesen.

Mit derartigen Gedanken beschäftigt, vergisst er völlig, anzuklopfen, ehe er in Steves Zimmer hereinplatzt.

Steve liegt auf dem Bett. Er blickt an die Decke, seine blauen Augen unfokussiert und … leer. Tony verharrt ihm Türrahmen, die Klinke in der Hand.

Es ist fünf Uhr nachmittags, und Steve liegt im Bett. Er regt sich nicht, scheint Tonys Eintreten überhaupt nicht bemerkt zu haben. Tony kann sich nicht erinnern, den Mann je zuvor tatenlos, unbeweglich gesehen zu haben.

Selbst wenn er in seiner Küche gesessen hat, eine Tasse Kaffee zwischen seinen großen Händen, hat er doch immer noch vor Tatendrang gesprüht, hat brennendes, heißes Leben ausgestrahlt … nicht die mutlose Kälte, mit der Tony sich jetzt konfrontiert sieht.

Ihm werden nach und nach mehrere Fakten bewusst, die er im Vorbeigehen aufgeschnappt hat, ohne über sie nachzudenken. Fakten, die er einfach hingenommen hat, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was sie bedeuten.

Steve ist schrecklich jung. Er ist ein junger Mensch in einer Welt, die er nicht versteht, und die ihn vergessen hat. Er war jahrzehntelang in Eis eingefroren, so lange, bis nichts mehr von dem übrig war, für das er sich so bereitwillig geopfert hat. Alle, die er je gekannt hat, sind tot. Seine Liebste. Sein bester Freund. Alle.

Steve hat nicht an ihrem Leben teilgehabt, hat nicht gelebt, war immer nur Soldat, immer im Einsatz, immer verantwortungsbewusst, und dann war er tot. Vorübergehend.

Aber die Welt hat ihn gebraucht, also hat sich nicht anmerken lassen, wie desorientiert (unglücklich, wütend) er ist. Hat seine Uniform wieder angezogen und gekämpft, hat sich aufgeopfert, bis die Welt nicht länger dem Untergang geweiht war, und ihn prompt zurück in den Keller gelegt hat. Wortwörtlich.

Steve ist schrecklich jung, und er ist völlig allein in der Welt, aber weil er Captain America ist, geht offenbar jeder davon aus, dass er schon irgendwie damit klarkommen wird.

Er ist ein Held.

Helden haben keine Probleme.

Tony weiß aus eigener Erfahrung, dass das ein großer Haufen Schwachsinn ist. Höflich ausgedrückt.

Er tritt an das Bett heran, beide Hände in den Hosentaschen.

„Hey, Steve.“

Steves unverschämt lange Wimpern erzittern sachte. „Hey, Tony.“

Seine Stimme klingt, als habe er sie seit Tagen nicht benutzt. Tony will Fury würgen, bis er blau anläuft.

„Was machst du um diese Zeit im Bett?“

„Mir ist kalt“, sagt Steve leise. Er klingt schrecklich verletzlich. Tony überkommt eine grausige Vision von ihm in Eis eingefroren.

Er tritt sich seine Turnschuhe von den Füßen, lässt sein Jackett von seinen Schultern gleiten. „Rutsch rüber.“

Steve gehorcht, ohne auch nur ein Widerwort zu leisten, und Tony legt sich neben ihn auf die unbequeme, schmale Matratze, legt seine Hand auf Steves Schulter, zieht. „Komm her.“

Wieder gehorcht Steve sofort, drängt sich in seine Arme und erschaudert, und Tony kann nicht fassen, dass er so lange gebraucht hat, um zu begreifen.

Steve hat ihn nicht ständig umarmt, weil er davon ausgegangen ist, dass Tony Umarmungen braucht. Steve umarmt ihn, weil er diese Umarmungen braucht. Er braucht die Nähe eines anderen Menschen, wichtiger noch, seine Wärme. Er braucht etwas, an dem er sich festhalten kann, einen lebendigen Beweis, dass er noch da ist.

Aber er konnte es nicht sagen. Weil er dachte, dass Tony ihn nicht wirklich leiden kann, ihn lediglich toleriert. Vielleicht wollte er sich auch einfach nur nicht aufdrängen.

Tony hat den angemessenen Tonfall für diese Art von emotionaler Zurückgebliebenheit oft genug zu hören bekommen, dass er ihn auf Anhieb perfekt hinbekommt. „Oh, Steve.“

Steve erzittert in seinen Armen, und Tony kann sich nicht sicher sein, aber er glaubt, dass er angefangen hat zu weinen.

„JARVIS“, sagt er leise, und nur das winzigste Zittern in seiner Stimme verrät, wie sehr ihn diese Tatsache in Panik versetzt.

Sir?

„Schick Pepper mit Happy nach Hause. Sag ihr, ich komm mit Steve später nach.“

Sehr wohl, Sir.

Tony atmet tief durch. Er kann das. Er kann das total.

Er legt Steve die Hand in den Nacken, krault zögernd. Die Konsequenz ist, dass Steve praktisch anfängt zu beben und hilflos gegen Tonys Hals schnuffelt.

Tony ist sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist. Also fragt er. „Ist das ok?“

Schließlich hat Pepper ihm gesagt, er soll fragen, wenn er sich nicht sicher ist.

Steve deutet ein Nicken an, presst sich enger an Tony. Also krault Tony weiter.

„Wir haben dich die letzten Tage vermisst“, sagt er leise. Denn das ist die Wahrheit, und es kann Steve nur gut tun, sie zu hören.

Steve schnuffelt ein weiteres Mal.

Tony wird von einer immensen Welle hilfloser Zuneigung für diesen lächerlichen Menschen überkommen.

Er ist Captain America! Captain America schnuffelt an seinem - Tony Starks - Hals herum! Wenn die Klatschpresse Wind davon bekommt!

Aber die Klatschpresse wird niemals hiervon erfahren, und wenn Tony sich höchstpersönlich den Mund zutackern muss.

Seine Fingerspitzen streichen durch Steves kurzes Haar, wieder und wieder und wieder, und nach einer Weile hört Steve auf zu schnuffeln und liegt ganz still da.

Tony streicht probeweise über seinen Rücken. „Besser?“

„Mhm“, brummt Steve zustimmend. „Tony?“ Seine Stimme klingt ein wenig dumpf gegen Tonys Hals.

„Ja, Steve?“

Steve hebt seinen Kopf an, sieht Tony in die Augen, und seine eigenen sind ein wenig rot.

„Ist das hier … ok? Ich … ich frage bloß, weil es … damals definitiv nicht ok war. Für zwei Männer. So zusammen zu liegen. Selbst, wenn sie lediglich … Freunde waren.“

Tony runzelt die Stirn. „War es nicht?“

„Nicht wirklich, nein.“

„Zu aufregend, hn? Ich kann mir richtig vorstellen, wie die Öffentlichkeit sich aufgeregt hätte, Captain America mit nem anderen Kerl schmusen zu sehen. Ist ja auch ein sehr aufregender Anblick. Wenn ich uns jetzt im Spiegel sehen könnte, würd ich mich wahrscheinlich auch aufregen.“

„Tony.“

„Was?“

„Das beantwortet nicht meine Frage.“

Steve sieht ihm noch immer in die Augen, ernsthaft und unsicher, und Tony kann sich nicht helfen, er muss ihm in die Nase kneifen. „Ich hab mich zu dir ins Bett gelegt, oder nicht?“

„Ja, schon, aber-“

„Und dann hab ich dich geknuddelt und gewuddelt, oder nicht?“

„Gewuddelt?“

„Gut, ich gebe zu, dass ich nicht unbedingt das Paradebeispiel für angemessenes zwischenmenschliches Verhalten bin - und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich nicht wegen sexueller Belästigung verklagen würdest - aber … wir sind doch beide mit dieser Situation zufrieden, oder nicht?“

Steve nickt. Er wird rot. Aber er nickt.

Eine weitere Welle hilfloser Zuneigung schwappt über Tony hinweg.

„Dann ist es ok, Steve.“

„Ja?“

„Ja. Sehr ok sogar. Weil wir Freunde sind.“

„Ja?“ fragt Steve ein wenig atemlos, und Tonys Herz reagiert darauf auf gar keinen Fall mit einem entzückten kleinen Hüpfer.

Er versucht sich an einem nonchalanten Schulterzucken. „Wenn du mich willst.“

„Ich will dich, Tony“, bekräftigt Steve sofort mit einer erfreulichen Menge an Gusto.

Tony kann sich nicht helfen. „JARVIS!“

Sir.

„Ich will das als meinen Klingelton, wenn Steve mich anruft!“

Sehr wohl, Sir.

„Tony“, sagt Steve, und er kriegt den Tonfall derartig perfekt hin, dass Tony ihn spontan ein bisschen drücken muss.

Steve lässt es sich begeistert gefallen.

„Ich hab doch gar kein eigenes Telefon“, murmelt er nach einer Weile.

Tony ist entsetzt. Derartig entsetzt sogar, dass er Steve ein wenig von sich drücken muss, damit er ihm besser in die Augen sehen kann. „Ok, das reicht! Pack deine Sachen! Eigentlich bin ich nur hier, um dich zu einem Filmabend einzuladen, aber das geht zu weit! Kein Telefon! Kein Telefon! Wenn ich Fury das nächste Mal sehe, hetz ich ihm nicht nur Pepper auf den Hals, ich werd ihr vorher auftischen, er habe vor, hochhackige Schuhe als Massenvernichtungswaffen einstufen und verbieten zu lassen!“

Steve blinzelt ihn an. „Ich soll meine Sachen packen?“

„Richtig! Jetzt sofort! Du ziehst bei mir ein - und es ist mir völlig egal, was Fury oder der Rest der Welt dazu zu sagen hat. Du bist Captain America! Ich kann dich überhaupt nicht verderben! Wenn überhaupt, dann übst du einen positiven Einfluss auf mich aus!“

Ein merkwürdiger Ausdruck gleitet über Steves Gesicht hinweg, dann tritt plötzlich ein Leuchten in seine Augen, das Tony so intensiv bisher nur vom Ark-Reaktor bekannt ist.

Zwei Sekunden später befindet er sich in einer Umarmung, die droht, ihm sämtliche Rippen zu brechen. Es ist ihm egal. „Uff. Wenn ich vorher geahnt hätte, wie du auf positive Bemerkungen über deinen Einfluss auf die Menschheit reagierst, hätte ich schon viel eher welche gemacht.“

„Ich dachte, du willst mich nicht haben“, wispert Steve gegen Tonys Hals.

Tony muss einen Moment die Augen schließen. „Ich will dich, Steve“, erwidert er heiser, streicht Steve über den Kopf. „Ich will dich sogar sehr.“

Durch Steves Körper geht ein Zucken, und Tony braucht einen Moment, ehe ihm aufgeht, dass er tatsächlich lacht.

„Kann das mein Klingelton sein, wenn du mich anrufst?“ fragt er schließlich, und Tony grinst so breit, dass es fast ein bisschen wehtut.

„Absolut. Erinnere mich daran, dass ich dir ein Telefon gebe und einrichte, wenn wir Zuhause sind.“

Die Villa ist verdächtig still, als Tony mit Steve in seinem Kielwasser durch ihre kühlen Flure schreitet. Nicht, dass sie sonst Brutstätte lautstärkeintensiver Episoden wäre.

Bruce ist ein stiller Kerl, solange er nicht aus Versehen die Farbe wechselt. Natasha ist eine schleichende Metapher, meistens eine tödliche. Und Clint … Tony weiß nicht wirklich, was er tut, wenn er nicht Cello spielt oder sich unter Bruces Labortisch versteckt. Aber er tut es offenbar leise.

Wenn Tony genauer darüber nachdenkt, ist der Einzige in seiner Villa, der zu Geräuschbelästigung neigt, er selbst.

Sie tragen Steves Reisetasche, in der er seine lächerlichen Besitztümer mit sich geführt hat, in das Zimmer, das Tony Captain Americas angemessen erachtet.

Oder eher an das Zimmer heran. Steve traut sich fünf Minuten lang praktisch nicht durch den Türrahmen.

„Es ist zu groß“, sagt er in einer Stimme, die zu gleichen Teilen ehrfürchtig und entsetzt klingt.

„Quatsch“, erwidert Tony ungeduldig aus vier Metern Entfernung - er hat das Zimmer betreten und weigert sich schlicht, wieder raus zukommen, bloß weil Steve einem völlig unnötigen Anfall von Schüchternheit erlegen ist. „Es ist gerade groß genug. Komm rein, Steve, ich will dir den Schrank zeigen. Ich hab ihn selber gebaut. Und wenn ich dir jetzt nicht zeige, wie du ihn aufkriegst, dann wirst du ihn kaputt machen, ich weiß es genau.“

Steve betritt endlich das Zimmer - wie ein Dschungelforscher eine verdächtig stille Lichtung voller abgenagter Knochen. „Du hast einen Schrank gebaut?“

„Was soll dieser Tonfall? Ich hatte eine zimmermännische Phase. Guck, wenn du auf dieses Panel drückst -“ Tonys Fingerspitzen gleiten über einen Abschnitt der rechten Schranktür, der aussieht wie alle anderen, „- dann geht er auf.“

Der Schrank macht Katunck, und seine Türen gleiten mit einem metallisch anmutenden Zischen zur Seite. Seine zahlreichen Fächer sind blau beleuchtet. Steves Blick wird von einem bereits belegten Fach links oben angezogen. „Sind das Pyjamas?“

Tony, der damit gerechnet hat, dass Steve seinem Science Fiction Schrank wesentlich mehr Beachtung zollen würde, wird, zu seinem nicht enden wollenden Entsetzen, tatsächlich ein bisschen rot. „Äh. Ja.“

„Tony.“

„Steve?“

„Warum liegen rot-blaue Seidenpyjamas mit Sternmotiv in diesem Schrank?“

„Ich … ähm … wollte für alle Eventualitäten gerüstet sein?“

Steve blinzelt. Er hat eine kleine Epiphanie. „Die sind für mich?“

Tony räuspert sich. „Eh. Irgendwie schon. Ich hab sie gesehen als ich die für die an- als ich sowieso gerade Pyjamas kaufen war und … hab an dich gedacht.“

Steve streckt den Arm aus, legt ihn Tony über die Schultern und drückt seinen neuen Hausherrn ein wenig. „Danke.“

„Du findest sie grässlich.“

„Ein bisschen. Heißt nicht, dass ich sie nicht anziehen werde.“

Tony schnaubt, obwohl er sich ein zufriedenes Grinsen inklusive eines Gefühls wohlig warmen Behagens nicht verkneifen kann. „Ja, genau. JARVIS, wo ist die Meute?“

Master Bruce, Miss Potts, Agentin Romanoff und Agent Barton befinden sich im nord-östlichen Wohnzimmer, Sir.

„… Ist das das Braune?“

Ja, Sir.

Tony setzt sich in Bewegung, Steve an seiner Seite. „Wie viele Wohnzimmer hast du in diesem … Haus?“

„Ich bin mir nicht sicher. Es neigt dazu, sich selbst umzubauen, wenn ich kurz nicht hinsehe.“

„Was?!“

„Das war ein Scherz, Steven, liebe Güte, mach nicht so ein Gesicht. Ich war früher nicht oft hier, ok? Ein bisschen viel Platz für mich allein.“

Sie haben das korrekte Wohnzimmer erreicht, ehe Steve Tony versichern kann, dass er jetzt ganz bestimmt nicht mehr allein ist.

Der Anblick seiner … Insassen ist wohl der treffendste Begriff … vertreibt jegliche derartige Gedanken aus Steves Geist. Einen Moment lang vertreibt er selbst Steves gesunden Menschenverstand. Aber wenn jemandes gesunder Menschenverstand hartnäckig und resistent ist, dann ist das Steves. Nach einer kurzen Pause, in der er tief durchgeatmet und ein paar Kniebeugen gemacht hat, kommt er zurück und verscheucht die ungläubige Fassungslosigkeit, die sich an seinem üblichen Platz breit machen wollte.

„Tony“, sagt er leise zu dem Mann, der aus Selbstverteidigungsgründen in eine Art Schreckstarre verfallen ist. „Hast du allen Pyjamas gekauft?“

Tony schafft ein fassungsloses Nicken. „Ich hab ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass sie sie je anziehen würden.“ Er blinzelt. „Pepper sieht gut aus in Gold und Rot“, stellt er dann mit schwacher Stimme fest.

Sie werden entdeckt. Natasha, in einem Traum aus lilafarbener Seide mit blauen Streifen, wendet ihnen den Kopf zu und blinzelt in einer Art, die man vage als freundlich einstufen kann, wenn man das denn will. Offenbar ist das das Signal für alle anderen, sich von den diversen Sofas zu erheben, die sie bisher bevölkert haben, und die Neuankömmlinge zu begrüßen.

Pepper umarmt zunächst Tony … und dann nach kurzem Zögern Steve. Tony wäre eifersüchtig, wäre Steve nicht so sichtlich überfordert und mit der fieberhaften Überlegung beschäftigt, wo er seine Hände ablegen soll.

„Warum rennt ihr alle in Pyjamas rum?“ erkundigt Tony sich bei Bruce, während sie eine männlich kernige Halbumarmung mit extra robustem Schulterklopfen austauschen. Das versucht Tony sich zumindest einzureden. Bruce scheint völlig damit zufrieden zu sein, ihn einfach zu drücken.

„Pyjamaparty“, erwidert Bruce mit einem Schulterzucken. „Um Steves Einzug zu feiern.“

Tony starrt ihn fassungslos an und ignoriert stoisch Clints plötzliche Schmuseattacke von links. „Was? Aber woher -“

Bruce blinzelt gen Zimmerdecke.

Tony plustert sich empört auf. „JARVIS, du bist ein altes Waschweib!“

JARVIS fühlt sich nicht dazu bemüßigt, eine Antwort abzugeben.

„Geh dich umziehen, Tony“, rät Pepper ihm fröhlich, und er blinzelt sie an. „Fängst du schon wieder damit an, mir Befehle zu erteilen? Und wieso trägst du bitte meinen Pyjama?“

Pepper zuckt mit den Schultern. „Ich wollte mich der Gruppe anpassen. Außerdem trägt Natasha Clints, und es ist nicht so, als wäre das hier dein einziger. Ich bin fast vom Glauben abgefallen, als ich deinen Schrank aufgemacht habe.“

„Das“, sagt er voller Überzeugung, „ist eine dreiste Lüge.“

„Gut, ich war lediglich ein bisschen überrascht. Fünf Sekunden lang.“

„Das glaube ich dir schon eher. Steve!“

Steve, der inzwischen mit der kniffligen Aufgabe beschäftigt ist, Natasha zu umarmen, ohne sie wirklich anzufassen, richtet sich dankbar auf. „Ja?“

Tony macht eine ungeduldige Kopfbewegung. „Komm, wir gehen uns umziehen.“

„Ok.“

Tony blickt anklagend an seiner linke Seite hinab. „Barton.“

„Was?“

„Lass mich los.“

„Aber was ist mit der Liebe, Stark?“

„Geh und hol sie dir von Natasha!“

„Was, bin ich lebensmüde?“

Tony ist nicht nur überrascht, er ist schwer beeindruckt, als Bruce und Natasha in perfektem Einklang vor ihm auftauchen und ihn mit wenigen, effizienten Handgriffen von Clint befreien.

Clint klebt sich prompt an Bruce wie eine besonders liebevolle Feuerqualle - tödlich, ganz klar, aber gleichzeitig merkwürdig attraktiv und irgendwie knuddelig.

Tony entschließt sich zu einem strategischen Rückzug, ehe er am Ende noch damit anfängt, Natasha mit anmutigen Wildkatzen zu vergleichen, und sich einen Krallenhieb einfängt.

21 Tage

Phil kommt zu sich.

Clint wird von einem ominösen Knacken geweckt.

Er hat den vergangenen Abend eingeklemmt zwischen Natasha und Bruce auf dem Sofa verbracht und ausgerechnet Herr der Ringe mit seinem formidablen Team geguckt.

Pepper hatte es im Vorfeld als herzerwärmendes Beispiel für Kameraderie und Treue angepriesen. Clint hat sie schwer unter Verdacht, dass sie einfach nur die elbische Mode bewundern wollte.

Steve hat eine halbe Stunde lang nicht damit aufgehört, verstohlen in Tonys Schulter zu schnuffeln, als Boromir gestorben ist. Clint hätte ihn hemmungslos ausgelacht, hätte er nicht Natashas drohenden Blick auf sich ruhen gespürt.

Also hat er geschwiegen - eine Meisterleistung, wenn man ihn fragt - ein bisschen mit Bruce … nicht direkt gekuschelt … na gut, sorg- und hemmungslos geschmust … und den grässlichen Film geguckt.

Tony hat etwa eine Milliarde Legolas-Witze auf seine Kosten gemacht, aber keinen Pieps von sich gegeben, um Bruce zu ärgern, als der Höhlentroll aufgetaucht ist.

Clint hätte ihn vermutlich umgebracht, wenn er das gemacht hätte. Aber glücklicherweise gibt es Grenzen, die selbst Stark nicht zu überschreiten scheint.

Clint räkelt sich ein wenig im Bett, hält die Augen geschlossen. Er fühlt sich überraschend … wohl.

Der Filmabend war natürlich so schrecklich wie nur irgendwas, das versteht sich von selbst, aber irgendwie … Es geht ihm gut.

Ein Teil von ihm ist nach wie vor kalt, vermisst Phil, bedauert all die verpassten Chancen, den Umstand, dass er nicht mal einen gestohlenen Kuss hat, den er als Andenken bewahren kann.

Alles was er hat, sind seine Träume, sein Cello, die Erinnerung an gemeinsame Einsätze, an die Sicherheit, sich in jeder Situation auf Coulson verlassen zu können. Alles was er hat, ist der dumpfe Schmerz des Bedauerns, nie den Mut gehabt zu haben, mehr als nur dumme Sprüche zu reißen.

Aber der Teil von ihm, der nicht einzig und allein darauf ausgerichtet ist, um Phil zu trauern … der Rest von ihm …
… Vertraut darauf, dass Bruce ihm Obdach in seinem Labor gewähren wird, wann immer Clint ihn benötigt …
… Weiß ganz genau, dass Natasha eher sterben würde, als ihn im Stich zu lassen …
… Ist sich sicher, dass Stark ihm die fabelhaftesten Spielzeuge, nicht zu reden von einem Zuhause, zur Verfügung stellen wird, solange Clint ihn lässt …
… Möchte darauf wetten, dass Steve, ganz egal wie wann oder wo, alles liegen und stehen lassen wird, um ihn aus Schwierigkeiten zu befreien, die er sich höchstwahrscheinlich selber aufgehalst hat.

Und sie alle sind offenbar nur allzu bereit dazu, jederzeit grässliche Filmabende in hässlichen Pyjamas abzuhalten und schamlos miteinander zu kuscheln.

Clints Augen werden feucht. Er hat jetzt eine Familie. (Plus eine Pepper. Clint hat ein bisschen Bedenken, dass sogar eine Pepper in diesem an sich schon verdächtig famosen Gesamtpaket enthalten ist, aber er will mal nicht so sein. Er nimmt jeden Bonus, den er kriegen kann. Pepper erinnert ihn an Phil. Auf die gute Art. Er will ihr einen Taser schenken.)

Er schnauft, reibt sich die Augen und setzt sich ruckartig auf. Vielleicht sollte er jetzt lieber nachsehen, was das für ein ominöses Knacken war, ehe er wieder in Tränen ausbricht und zu Bruce laufen muss, um sich an seiner Schulter auszuweinen.

Sein leicht verklärter Blick gleitet wie von selbst zu Elvira hinüber, und er blinzelt sie einen Moment lang überfordert an.

Allem Anschein nach hat sie ihren Topf gesprengt.

Phil ist desorientiert, sein Körper ist zu schwer, zu schwach, und der Schlauch in seinem Hals hilft nicht, die allgemeine Situation zu fördern.

Er drückt den Panik-Knopf an seinem Bett etwas fester, als man vielleicht von ihm erwarten würde.

Aus dem Augenwinkel nimmt er wahr, wie die Tür aufgeht, und ein Teil seiner Panik lässt nach, als er Maria Hill erkennt. Der Gigant ganz in Weiß an ihrer Seite, der ihn sofort von dem Schlauch in seiner Luftröhre befreit, ist offenbar sein Krankenpfleger.

Phil versucht, sich zu beruhigen. Es fällt ihm nicht ganz so leicht wie üblich. Zunächst mal ist er noch am Leben. Das kommt ein wenig unerwartet. Aber Phil kann gut mit Überraschungen umgehen, andernfalls wäre er kein so fähiger Agent.

Er lässt sich von Maria Wasser in einen Plastikbecher schenken und diesen mit einem Strohhalm versehen, trinkt zaghaft, selbst wenn ihm ein Pappbecher wesentlich lieber wäre.

Er hat diese Diskussion mit Fury mehr als nur einmal gehabt, und kann schlicht nicht begreifen, wieso ausgerechnet Stark umweltbewusster ist als ihre Organisation.

Aber jetzt geht es nicht um Pappe kontra Plastik, es geht um Umweltbedrohungen anderer Größenordnungen.

Er wartet, bis sein Krankenpfleger sein Zimmer verlassen hat, dann blinzelt er Maria zu, und sie nimmt prompt den Strohhalm in seinem provokanten Becher weg.

„Loki?“ krächzt er.

„Besiegt“, informiert sie ihn knapp. „Wir haben gewonnen. New York hat schwere Kollateralschäden hinnehmen müssen, und wir haben bedauerlich viele Zivilisten verloren. Aber wir haben gewonnen. Thor hat ihn nach Asgard überführt, um ihn dort seiner Strafe zukommen zu lassen.“

Phil nimmt das in sich auf, nickt flüchtig - dann stellt er die Frage, die seinem Herzen am nächsten ist: „Barton?“

Maria verrät ihre Gefühle lediglich durch ein kurzes Zucken ihrer Wimpern. „Zurück auf unserer Seite. Alles, was er gebraucht hat, war offenbar ein harter Schlag auf den Kopf. Eine Beobachtung, die ich schon vor Jahren gemacht habe, wenn ich das bemerken darf. Agentin Romanoff war so gut, ihn … zu neutralisieren.“

Diesmal zucken Phils Wimpern, und sie erlaubt sich ein Lächeln. „Er hat sich erholt, Sir. Er wohnt jetzt bei Stark.“

Phil starrt sie an. „Wie lange war ich -“

„Drei Wochen, Sir.“

Es gibt viel zu viele Fragen, die er stellen will, viel zu viele Informationen, die ihm fehlen - aber sein Hals tut weh, und er ist müde, und die Schmerzmittel, die ihm per Tropf verabreicht werden, lösen Übelkeit in ihm aus.

Also beschränkt er sich aufs Wesentliche. „Ich will ihn sehen. Ich habe ihn nicht debrieft.“

TEIL 9

fandom: avengers, autor: uena

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