Der Cellist - Teil 9

Jun 09, 2012 10:28

Zur Feier meines mehr oder weniger wiederhergestellten Schlaf-Rhythmuses heute ein etwas längeres Kapitel!

Ich muss außerdem darauf hinweisen, dass der Anfang dieses Kaptitels hauptsächlich dank hope_calaris so ist, wie er ist ... und überlasse es ihr, zu erklären, wieso genau. War schließlich ihr merkwürdiger Traum. So.

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„Bruce! Bruuuce!“

Clint flitzt in Socken über den Flur, ansonsten lediglich bekleidet mit der unteren Hälfte seines Pyjamas.

Zugegeben, es ist noch ein wenig früh am Tag, um hier schreiend durch die Flure zu rennen, aber seine verdammte Topflanze hat ihren Topf GEHULKT! Er hat allen Grund zum freudig erregten Schreien. „Bruuuce!“

Offenbar hat JARVIS Bruce informiert, dass Clint ihm etwas enorm Wichtiges mitzuteilen hat - er kommt aus seinem Labor und ihm entgegen. Clint hat nicht wirklich damit gerechnet und kann nicht mehr bremsen.

„Bruuuce!“

„Clint? Was haaa-argh! Uh.“

Bruce landet mit dem Rücken an der Wand, Clint an seine Front gepresst. Ein paar Sekunden lang verharrt Clint regungslos und mit geschlossenen Augen. Aber er wird weder von oben herab angegrollt, noch macht der Körper vor ihm signifikante Veränderungen der gestaltwandelnden Art durch.

Überraschende Sockenrutschattacken am frühen Morgen bringen einen Doktor Banner offenbar nicht im Geringsten aus der Ruhe.

„Guten Morgen, Agent Barton“, begrüßt Bruce ihn betont gelassen. „Ich nehme an, du hast besonders gut geschlafen?“

Clint schlingt beide Arme um ihn und drückt ihn herzhaft. „Bruce!“

Bruce fängt an zu lachen. „Was ist denn los?“

„Elvira ist los! Dein Dünger hat total gewirkt! Mann, hat dein Dünger gewirkt!“ Clint lässt von Bruce ab, um ihn an beiden Schultern zu fassen und einen kleinen Siegestanz aufzuführen.

Bruce blinzelt ihn amüsiert an. „Sie ist gesund und munter, nehme ich mal an?“

Clint nickt nachdrücklich. „Mehr als das! Sie -“

„Ist alles in Ordnung?“ Natasha, vermutlich noch immer in Clints Pyjama gekleidet und von Kopf bis Fuß eingewickelt in ihre Bettdecke, steht am anderen Ende des Flurs und sieht alles in allem nicht wirklich aus wie sie selbst.

Clint kann sich einfach nicht stoppen. „Bruce, sieh nur! Die Raupe Nimmersatt!“

Natasha rollt mit den Augen. „Also ist alles in Ordnung, ja?“

Clint wird bewusst, dass er vor fünf Minuten schreiend durch die halbe Villa gerannt ist, und er hebt in einer schuldbewussten Ganzkörper-Grimasse beide Schultern. „Äh. Ja. Ich wollte dich nicht wecken.“

Natashas Augenbrauen erreichen beinahe ihren Haaransatz. „Ach nein?“

Sie schlurft an sie heran, und Clint legt ihr den Arm über die Schultern. „Elvira hat ihren Topf gesprengt“, klärt er sie auf, und das in einem Ton, als lasse er sie an einem Staatsgeheimnis teilhaben.

Natasha lehnt sich an ihn und legt ihm den Kopf auf die Schulter. „Das ist schön.“

Er blinzelt sie von der Seite an. „Schläfst du wieder ein?“

„Wenn ich ganz viel Glück habe.“

Clint hebt sie kurzerhand auf seine Arme.

„Du bist aber sehr mutig“, lautet ihr schläfriger Kommentar.

„Bruce würde mich beschützen“, erwidert er schlicht.

Bruce räuspert sich verhalten. „Elvira hat ihren Topf gesprengt?“

Clint wendet sich hastig zu ihm um, Natashas reglose Last in seinen Armen beinahe vergessen. „Willst du’s sehen?“

Bruce wirft einen prüfenden Blick in sein Labor hinein. „Sei so gut und schalt alle unnötigen Geräte ab, JARVIS.“

Sehr wohl, Master Bruce.

Elvira hat in der Tat ihren Kopf gesprengt. Man kann es einfach nicht anders beschreiben.

Die ehemals so traurige, schwächelnde, bemitleidenswerte Pflanze hat anscheinend beschlossen, dass der ihr zugedachte Platz auf der Fensterbank zu gut ist, um ihn kampflos aufzugeben.

Also hat sie Wurzeln gebildet. Und Wurzeln gebildet. Und Wurzeln gebildet, bis ihr Topf ihr zu klein wurde. Selbst das hat sie nicht aufgehalten.

Bruce ist ein wenig überrascht, wenn er ehrlich sein soll. Selbst perfekte Umweltbedingungen in Kombination mit seinem recht simplen Dünger rechtfertigen kaum ein derartiges Wachstum.

Aber Clint, der soeben Natasha in seinem Bett abgelegt hat, und jetzt an seine Seite tritt, ist viel zu begeistert, als dass Bruce diese Gedanken tatsächlich aussprechen würde.

„Hast du schon einen neuen Topf für sie?“ erkundigt Bruce sich also stattdessen.

Clint schüttelt den Kopf. „Ich weiß, du hattest mir gesagt, dass ich einen besorgen soll, aber ich hab ehrlich nicht damit gerechnet, dass sie den so schnell brauchen würde.“

Bruce nickt. „Ich auch nicht.“

Clint luschert ihn spekulativ von der Seite an. „Kommst du nach dem Frühstück mit, einen besorgen?“

Bruce nickt ganz unwillkürlich. „Sicher.“

Es ist, als wisse Clint ganz genau, was Bruce ihm damit verspricht. Was es für Bruce bedeutet, die sichere, abgeschiedene Stille von Tonys Villa zu verlassen und sich mit ihm unter Menschen zu begeben. Er tritt noch ein wenig dichter an Bruce heran, bis sich ihre Oberarme berühren, dann seufzt er.

„Ich glaube, das hier würde Phil gefallen.“

Und genau so, wie Clint zu ahnen scheint, was in Bruce vor sich geht, ist Bruce sich ziemlich sicher, was für einen Meilenstein Clint gerade im Begriff ist, zu setzen.

„Ja?“ fragt er sanft nach, und Clint nickt. „Es hat ihm nicht gefallen, dass ich nach all den Jahren immer noch im Hauptquartier gewohnt habe. Er hat ständig gesagt, ich soll mir endlich was Eigenes suchen.“

Clint grinst ein bisschen gequält. „Zugegeben, er hat das hauptsächlich gesagt, weil er mich davon abbringen wollte, die neuen Rekruten zu terrorisieren. Aber wenn die sich davon aus der Ruhe bringen lassen, wenn ich mich aus den Deckenschächten auf sie fallen lasse, dann ist SHIELD nicht die richtige Organisation für sie.“

Bruce versucht gar nicht erst, sich sein Grinsen zu verbieten. „Korrekt.“

Clint nickt. „Ich hab Fury praktisch einen Gefallen damit getan. Die Spreu vom Weizen getrennt und so.“

Er bleibt einen Moment lang still. „Phil wäre wahrscheinlich vom Glauben abgefallen, wenn er gesehen hätte, dass ich es tatsächlich schaffe, Elvira am Leben zu erhalten.“

Bruce zögert kurz, schluckt trocken. „Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich“, sagt er dann und kann praktisch spüren, wie Clint sich an seiner Seite anspannt. „Wieso das?“

„Naja … er hat dir vertraut, oder nicht?“

Diesmal bleibt Clint beunruhigend lange still. „Wie kommst du darauf?“ fragt er schließlich, und er klingt so unsicher, dass Bruce sich zusammenreißen muss, ihn nicht anzufassen.

Aber er weiß, dass er jetzt behutsam vorgehen muss, und Clint nicht überfordern darf.

„Ich hab ihn nicht wirklich gut kennenlernen können“, gibt er zu. „Aber in all dem Tumult um Loki und … naja … die drohende Eroberung unserer Welt … schien er doch nie das Ziel aus den Augen zu verlieren, dich von Lokis Einfluss zu befreien. Das war ihm wichtig. Du warst ihm wichtig.“

Clint gibt ein leises, ungläubiges Geräusch von sich, und jetzt legt Bruce ihm die Hand auf die Schulter, drückt sanft zu.

„Er war so gut“, sagt Clint, und da ist so viel Nachdruck, so viel leise Verzweiflung in seiner Stimme, dass Bruce beinahe eine Gänsehaut bekommt.

„Nicht … nicht nur als Agent. Er war ein guter Mensch. Er hat sich nicht damit zufrieden gegeben, Verbrecher unschädlich zu machen, er wollte die Welt retten. Jeden Tag aufs Neue und völlig egal, wie. Hat ewig versucht, Fury davon zu überzeugen, ordentliches Geschirr in der Cafeteria zu benutzen, und kein Plastik. Und er war so geduldig, immer so geduldig. Sogar mit mir. Ich glaube, er hat mich nicht ein einziges Mal angeschrieen, völlig egal, was ich angestellt hatte. Er hat mir so viel beigebracht.“

Clints Stimme hat einen leicht erstickten Klang angenommen, und Bruce weiß, dass er wieder angefangen hat, zu weinen. Aber das ist in Ordnung. Es ist an der Zeit, dass Clint sich endlich erlaubt, seine Gefühle offen zu zeigen - egal wie scheu und verletzlich sie auch sein mögen.

„Wenn ich nicht … wenn ich nicht auf der falschen Seite gekämpft hätte -“, entfährt es Clint plötzlich „ - Ich hätte ihn retten können! Er hätte Loki nicht allein gegenüber treten müssen! Es war das erste Mal, dass ich nicht … ich nicht da war, um ihm … ihm den Rücken frei zu halten, und … ich …“

Bruce sagt kein Wort, nimmt Clint einfach nur in die Arme und hält ihn fest. Diesmal weint Clint leise, gibt keinen Laut von sich, aber er krallt sich so fest an Bruce, dass er blaue Flecken hinterlassen wird.

„Loki ist ein Gott“, sagt Bruce nach einer Weile ruhig. „Er hätte euch vermutlich beide getötet. Es ist nicht deine Schuld.“

Das entlockt Clint ein einziges, hilfloses Schluchzen.

Bruce reibt ihm über den Rücken. „Hast du mich verstanden? Es ist nicht deine Schuld.“

„Ab-aber ich, ich hätte …“, stammelt Clint, sein Atem heiß gegen Bruce Hals.

Bruce legt ihm die Hand in den Nacken. „Nein. Es ist nicht deine Schuld.“

„Was soll das heißen, ich darf niemanden sehen?“ Phil ist seit drei Stunden wach, und er hat nicht das Gefühl, dass sein Verstand schon wieder auf voller Stufe arbeitet. „Ich habe Maria gesehen. Und Arnold.“

Arnold, Phils hünenhafter Krankenpfleger, ist soeben damit beschäftigt, Phil eine leichte Malzeit - eine nicht zu identifizierende Form von Brei - vorzusetzen und nicht die leiseste Regung in seinem kantigen Gesicht deutet an, dass er die Erwähnung seines Namens wahrgenommen hat.

Wenn Phil ganz ehrlich ist, dann sieht Arnold aus, als sei er in einem Labor gezüchtet worden. Und keinesfalls auf die gute Art, wie Captain America.

Fury, eine unerfreulich solide Präsenz neben Phils Bett, hebt eine eloquente Augenbraue. „Ich meinte von außerhalb.“

„Von außerhalb?“ hakt Phil verständnislos nach.

Fury bleibt still. Phil schließt ein Paar äußerst müder Augen. „Was erzählen Sie mir nicht, Sir?“

Eine äußerst heikle Frage, dessen ist Phil sich bewusst. Fury ist ein verdammter Heimlichtuer. Aber er hat Phil schon erzählt, dass er praktisch nur noch am Leben ist, weil sie antike Maschinerie an ihm ausprobiert haben, die angeblich mitgeholfen haben soll, Captain America zu backen. Phil denkt nicht, dass sein Boss ihn noch überraschen kann.

Fury, stets darauf aus, sämtlichen Erwartungen zu trotzen, räuspert sich. „Die Welt hält Sie für tot, Agent Coulson.“

Phil nimmt ein paar gleichmäßige, beruhigende Atemzüge. „Die ganze Welt?“

„Nun, nicht die ganze“, lenkt Fury ein. „Ihre Familie geht davon aus, dass Sie einen Sondereinsatz auf Hawaii beaufsichtigen und wie üblich einer strikten Schweigepflicht inklusive Kommunikationsverbot unterworfen sind.“

Diese Information beruhigt Phil tatsächlich ein wenig. Wenn Fury seiner Familie schon wieder aufgetischt hätte, dass er tot ist … das letzte Mal war schlimm genug. Seine Mutter macht heute noch Witze darüber.

„Das Team geht also davon aus, dass ich tot bin“, sagt er müde.

Fury brummt zustimmend. „Ihr Tod hat ihnen den Antrieb gegeben, der vorher so beklagenswert gefehlt hat.“

Phil schlägt endlich seine Augen wieder auf. „Sie wissen, dass es mir eine Ehre ist, zum Wohle des Teams mein Leben zu geben, Sir“, sagt er mit einem sarkastischen Unterton, der Fury nicht im Geringsten zu beeindrucken scheint, „aber ich weigere mich schlicht, diesen Vorgang länger als nötig hinauszuziehen."

„Es ist zu Ihrem eigenen Wohl, Coulson“, erwidert Fury scharf. „Es kann Ihnen sicherlich nicht entgangen sein, dass Sie in Ihrem augenblicklichen Zustand ein wenig angreifbarer als gewohnt sind.“

Phil blinzelt ihn an. „Wollen Sie andeuten, dass mir von Seiten der Avengers Gefahr droht?“

Fury wirft einen ungeduldigen Blick gen Zimmerdecke. „Selbstverständlich nicht. Aber je kleiner die Zahl der Personen, die darüber unterrichtet ist, dass Sie überlebt haben, desto besser.“

„Möglich. Ich will Barton trotzdem sehen. Sie können mir nicht weismachen, dass er seine Termine mit der Psychologie wahrgenommen hat.“

„Das hat er nicht“, gibt Fury sofort zu. „Aber um ihn mache ich mir keine Sorgen. Stark wird schon dafür sorgen, dass er nicht durchdreht. Sie können sich gegenseitig mit ihrem Wahnsinn ausbalancieren.“

„Sir, bei allem Respekt, Sie haben manchmal keine Ahnung, wovon Sie reden.“

„Ich weiß, Coulson. Dafür habe ich Sie. Und weil ich sicher stellen will, dass Sie mir noch möglichst lange erhalten bleiben, wird niemand über Ihr Überleben informiert, den ich nicht höchstpersönlich freigegeben habe.“

„Sir -“

„Das ist ein Befehl, Agent. Ende der Diskussion.“

Steve sitzt an Tonys Küchentisch, ganz allein. Aber es ist noch sehr früh am Tag, und er ist sowieso bloß wach, weil Clint aus irgend einem absonderlichen Grund wie ein Irrer an seinem Zimmer vorbei geflitzt ist und dabei Bruces Namen gerufen hat.

JARVIS zufolge gab es keinen Grund zur Beunruhigung, selbst wenn er Steve nicht verraten wollte, was los war.

Aber Tony hat gesagt, dass man JARVIS bedingungslos vertrauen kann, also versucht Steve, genau das zu tun, selbst wenn er nach einem derartigen Weckruf ganz sicher nicht mehr einschlafen konnte.

Und heute hat er auch gar kein so großes Problem damit, allein zu sein.

Der vergangene Abend war ein wenig … ungewöhnlich, aber nichtsdestotrotz sehr schön. Er wohnt jetzt bei Tony, hat sein eigenes Zimmer in der Villa, Tony hat ihm Pyjamas geschenkt, und während des Filmabends so dicht neben ihm auf dem Sofa gesessen, dass Steve seine Wärme noch immer in seinen Knochen spürt.

Er hat sich fast ein bisschen schlecht gefühlt, wegen Pepper, die auf Tonys anderer Seite gesessen hat. Aber sie schien völlig unberührt ob der Nähe zwischen ihm und Tony, also hofft Steve, dass es ok ist - dass er sie nicht unabsichtlich … vor den Kopf stößt.

Das Letzte, das er will, ist Tony und Pepper Anlass für einen Streit geben. Besonders, weil es nicht wirklich Grund zum Streiten gibt. Steve ist bewusst, dass es Männern inzwischen erlaubt ist, miteinander … intim zu sein, dass sie in einigen Staaten heiraten dürfen (eine Entwicklung, die er uneingeschränkt begrüßt) und er ist lange nicht so naiv, dass ihm nicht klar wäre, wie es wirken muss, dass Tony und er einander ständig umarmen.

Aber Steve ist sich ziemlich sicher, dass seine Beziehung zu Tony absolut unschuldiger Natur ist. Sie mag ungewöhnlich sein, das ganz bestimmt - ungewöhnlich und bemerkenswert und völlig anders, als Steve es gewohnt ist - aber wenn er ganz ehrlich ist, dann ist ihm das egal. Tony hilft ihm dabei, sich wieder als Teil von etwas betrachten zu können.

Tony behandelt ihn nicht wie ein Relikt, oder einen Helden, der auf ein Podest gehört. Tony erlaubt ihm, ganz er selbst zu sein.

Tonys Umarmungen und seine Wärme sind lediglich ein Bonus, und Steve würde es sicherlich bedauern, aber er würde lernen, darauf zu verzichten, wenn Miss Potts es verlangte. Er kann nicht der Grund für Tonys Unglück sein. Für Peppers auch nicht.

„Ganz allein hier, Captain? Hat der Urschrei Sie auch geweckt?“

Pepper steht plötzlich neben ihm am Tisch, als hätten seine Gedanken sie herbei gezaubert, und Steve schenkt ihr ein leicht gezwungenes Lächeln. „Ja, allerdings. Guten Morgen, Miss Potts.“

Er ist sich dessen nicht bewusst, aber er hält unwillkürlich Ausschau nach Tony.

„Er schläft noch“, informiert Pepper ihn mit einem wissenden Lächeln, nachdem sie seine Begrüßung erwidert hat. „Diesen Mann weckt nichts, nicht mal ein mittelschweres Erdbeben.“

Steve hebt bestürzt beide Augenbrauen. „Aber das ist -“

„Oh, er wird wach, wenn JARVIS ihm rät, den nächstbesten Türrahmen aufzusuchen“, beruhigt sie ihn und setzt sich auf den Stuhl direkt neben ihm. „JARVIS kriegt ihn besser wach als irgend jemand sonst.“

Steve nickt geistesabwesend und zermatert sich das Hirn nach einem Thema, über das er sich mit ihr unterhalten könnte. Aber er hat nicht die geringste Ahnung über ihre Aufgaben als CEO - und beinahe all sein Allgemein- und Popkulturwissen beruht auf Fakten, die siebzig Jahre zurück liegen.

„Steve“, sagt sie dann plötzlich, und er zuckt beinahe zusammen. „Es ist ok.“

Er dreht ihr den Kopf zu, blinzelt sie fragend an. „Ok?“

Sie nickt nachdrücklich. „Wenn ich ehrlich bin, bin ich sogar froh.“

Seine Augen weiten sich verwundert. „Wie bitte?“

„Tony braucht sehr viel Aufmerksamkeit“, erklärt sie schlicht. „Und ich bin nicht immer hier.“

Steve hat schon immer mehr Respekt vor Frauen gehabt als die meisten anderen Männer seiner Generation, aber das … diese simple, zurückhaltende Ehrlichkeit - Pepper Potts ist eine bemerkenswerte Persönlichkeit.

„Was geht hier vor sich?“ ertönt mit einem Mal Tonys anklagende Stimme von der Tür her. „Wieso muss ich in einem leeren Bett aufwachen, nur um mein Mädchen mit Captain America in flagranti in der Küche zu erwischen?!“

Er steht hinter ihnen, ehe selbst Pepper eine Retourkutsche auf diesen Unsinn eingefallen ist, beugt sich vor und legt ihnen jeweils einen seiner Arme um die Schultern. „Guten Morgen meine zwei Lieblingsmenschen auf der Welt!“

Pepper dreht ihren Kopf und drückt ihm einen Kuss auf die Wange - Steve begnügt sich damit, seine Schläfe an Tonys zu lehnen.

„Mich überkommt ein leises Gefühl von Surrealität“, gibt Tony zu Protokoll.

„Als ob das für dich was Neues wäre“, erwidert Pepper trocken.

„Stark, wirklich, lass doch mal diese Widerlichkeiten am frühen - oh. Guten Morgen, Miss Potts.“

Clint marschiert in die Küche, Bruce und Natasha in seinem Windschatten. „Wie schön“, kommentiert er übertrieben heiter. „Wir sind alle da.“

Tony richtet sich auf, aber er lässt seine Hände auf Pepper und Steves Schultern liegen.

„Nicht alle“, sagt er gewichtig. „Aber ich möchte behaupten, ein Halbgott in meiner Küche würde den Rahmen endgültig sprengen.“

Draußen vor dem Fenster, wo eben noch schönster Sonnenschein geherrscht hat, erklingt mit einem Mal ominöses Donnergrollen.

„Das Wetter hat einen verdrehten Sinn für Humor“, kommentiert Tony diese verdächtigen Witterungsvorgänge. „Barton, ich will Rührei, also schwing die Pfanne!“

Clint öffnet den Mund, um zu protestieren. Nicht, weil er nicht vorhat, für seine Kameraden zu kochen. Einfach aus Prinzip.

Ein gleißender Blitz rast über den Himmel, begleitet von einem gewaltigen Krachen - eine Sekunde später ist die Terrasse vorm Küchenfenster schwer renovierungsbedürftig.

„Das“, sagt Clint in die bleierne Stille hinein, „ist deine Schuld, Stark. Du hast ihn praktisch herausgefordert.“

Draußen erhebt Thor sich aus dem Krater, den Mjölnir hinterlassen hat, und tritt mit ernster Miene an die Tür heran, die die Terrasse von der Küche trennt.

Sie ist abgeschlossen, aber das hält ihn nicht auf.

Das Knacken, als das Schloss aufgibt und bricht, genügt, um Tony aus seiner Starre aufzuschrecken und dem Halbgott entgegen zu kommen.

„Thor, Kumpel, entzückend von dir, uns zu besuchen und mein Eigentum umzudekorieren, was können wir für dich -“

Thor legt ihm beide Hände auf die Schultern. „Ich komme mit bedeutsamer Kunde. Heimdall hat mich entsandt, eine ungeheuerliche Unwahrheit zu enden.“

„Was ist ein Heimdall?“, erkundigt Clint sich flüsternd bei Bruce. Bruce schüttelt ungeduldig den Kopf. „Später.“

Tony blinzelt derweil zu Thor auf. „Ok. Geht schon wieder die Welt unter, ohne dass wir’s gemerkt haben? Muss Steve sich in seine Strumpfhosen werfen?“

Thors Brauen furchen sich. „Nein. Meine Kunde ist anderer Natur. Es geht um unseren gefallenen Kampfgefährten, den Sohn des Coul.“

Bruce legt seinen Arm um Clint, ohne es wirklich zu registrieren. Steve, der sich von seinem Platz am Tisch erhoben hat, als Thor gelandet ist, tritt an Tonys Seite. „Was ist mit ihm?“

Thors Kiefermuskeln spannen sich an. „Er ist am Leben.“

Tony ist dabei, den Mund zu öffnen um eine Serie an Flüchen auszustoßen, die Steve wahrscheinlich schwer traumatisieren würde. Ein fassungsloses Grollen schräg hinter ihm lässt ihn inne halten.

Einen Atemzug später eilt Bruce an ihm vorbei, bereits sichtlich damit beschäftigt, die Farbe zu wechseln. Er erreicht die Terrasse, ehe die Transformation ganz eingesetzt hat, und die restlichen Avengers beobachten aus der relativen Sicherheit der Küche aus, wie Bruce seinen Gefühlen bezüglich Thors Botschaft freien Lauf lässt.

„Huh“, macht Tony beeindruckt. „Ich schätze, er ist mal so richtig sauer. Barton, was zum Henker hast du vor?“

Clint, sein Gesicht auffallend leer, marschiert weiter. „Ich geh zu ihm raus. Was denn sonst?“

„Hältst du das für eine gute Idee?“ fragt Steve vorsichtig.

Clint schnaubt. „Unbedingt. Es ist eine von meinen.“

Damit ist er durch die Tür. Zwei Herzschläge später ist Natasha ihm gefolgt.

„Oh, na gut“, brummt Tony, sichtlich überzeugt davon, dass der Hulk weder Clint noch Natasha das Geringste tun wird. Jetzt, da die Transformation abgeschlossen ist, wirkt er überraschend gelassen. „Offenbar war’s nur der erste Schock.“

Er wendet sich Thor zu. „Hat, hier, dingens … Heimdall dir auch gesagt, wo unser gefallener Kampfgefährte, der Sohn des Coul, sich vor uns versteckt?“

Thors ernste Miene hat sich kein bisschen verändert. „Seine Position ist mir in der Tat bekannt. Es hat ihn danach verlangt, den Falken zu sehen - sein Wunsch ist ihm von Direktor Fury verwehrt worden.“

Wie auf Kommando wenden sich alle in der Küche Verbliebenen dem Fenster zu. Im Garten ist der Hulk inzwischen damit beschäftigt, Clint und Natasha an sich zu drücken und festzuhalten als sei er der stolze Vater von extrem tödlichen Zwillingen.

Clint zittert.

„Heimdall konnte nicht eher mal nen Pieps sagen?“ knurrt Tony, ohne sich stoppen zu können.

Zum ersten Mal, seit er angekommen ist, verliert Thors stolze Haltung ein wenig an Spannung. „Es war nicht abzusehen, ob unser Freund sich von seinen Kampfverletzungen erholen würde. Seine Lebensgeister sind erst vor Kurzem zu ihm zurück gekehrt.“

„Er hat im Koma gelegen?“ übersetzt Steve mit gerunzelten Brauen.

Thor neigt leicht das Haupt. „In der Tat, ja.“

„Ok“, sagt Tony und klatscht energisch in die Hände. „Wo ist er? Und viel wichtiger noch - wie kommen wir zu ihm? Reicht es, wenn ich einen Bus miete, oder soll’s gleich ein ganzer Hubschrauber sein?“

Phil wird von Geschrei vor seiner Tür geweckt. Man kann es einfach nicht anders beschreiben. Es klingt, als hätten sich zwei kleine Armeen im Flur versammelt, einzig zu dem Zweck, sich gegenseitig anzubrüllen.

Dann tritt abrupt Ruhe ein, in die Direktor Furys unzufriedene Stimme fällt wie eine Lawine auf unvorsichtige Wanderer. „Wenn ich die Herren und Damen bitten dürfte, wieder zu geh -“

Fury verstummt mit einem dumpfen Laut, als sei er ins Gesicht geboxt worden.

Phils Tür fliegt praktisch aus ihren Angeln. Sein eben noch fürchterlich leeres Zimmer füllt sich mit Personen, keine davon in das nüchterne Schwarz eines SHIELD Agenten gekleidet. Thor trägt sogar sein Cape.

„Phil!“ sagt Stark mit einem Grinsen auf dem Gesicht, das dazu in der Lage wäre, kleine Zivilisationen mit Licht zu versorgen. „Wie schön, dich so viel weniger tot als erwartet anzutreffen!“

Phil hebt unbeeindruckt beide Augenbrauen und nickt ihm zu, dann wandert sein Blick sofort zu Clint hinüber. Clint, der neben der Tür stehen geblieben ist und beide Hände zu Fäusten geballt hat.

Dann rauscht Fury durch die Tür. „Was denken Sie, was Sie hier -“

„Glauben Sie nicht, dass ich Sie nicht nochmal niederschlage“, sagt Steve gereizt. „Der erste Schlag war lediglich eine Warnung, und ich habe nicht die Hälfte meiner Kraft eingesetzt.“

Fury räuspert sich. „Ich verstehe Ihre Wut, Captain Rogers -“

„Ich denke, das tun Sie nicht, Direktor“, gibt Steve scharf zurück. „Wenn Sie mein Team also jetzt mit Agent Coulson allein lassen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“

Fury sieht nicht aus, als habe er vor, Steves Aufforderung Folge zu leisten - dann taucht Maria Hill neben ihm auf. „Sir. Kommen Sie.“

Er runzelt die Stirn. „Ich denke wirklich nicht, dass es eine gute Idee ist -“

„Sir“, unterbricht sie ihn ruhig. „Agent Coulson ist in Sicherheit. Und jetzt kommen Sie, ehe Captain Rogers Sie durch die Wand tritt.“

Fury zögert, seufzt, und geht. Steve tritt die Tür hinter ihm zu.

„Du warst noch nie so sexy“, sagt Tony ernsthaft. Steve wird prompt rot. „Tony.“

Phil ist entsetzt.

„Was? Nicht vor Phil? Oder nicht vor Pepper?“ Tony wendet sich zu Pepper um. „Hab ich Recht, oder hab ich Recht?“

„Du hast Recht“, gibt sie bereitwillig zu. „Und jetzt sei still.“

Tony presst prompt die Lippen zusammen.

Phil mustert sie alle der Reihe nach, und wieder wird sein Blick von Clint angezogen, der noch immer neben der Tür steht. Seine Fingerknöchel sind weiß, so sehr hat er die Hände verkrampft. Phil hat keine Ahnung, was er zu ihm sagen soll.

„Wir haben es gerade erst erfahren“, sagt Steve in die leicht angespannte Stille hinein. „Sonst wären wir früher gekommen … Und hätten Blumen mitgebracht.“

Phil nickt. „Ich verstehe.“

Es ist eine dreiste Lüge, aber er kann nur hoffen, dass Captain America ihm das nicht anmerken wird.

Plötzlich setzt Clint sich in Bewegung, ist mit drei schnellen Schritten an seiner Seite, beugt sich über ihn, legt beide Hände an seine Wangen.

Phil schafft gerade noch ein überraschtes „Barton?“ ehe Clint ihm die Lippen mit einem Kuss versiegelt, der zu verzweifelt ist, um erregend sein zu können.

Bevor er weiß, was er tut, hat Phil ihm die Hand in den Nacken gelegt und den Mund für ihn geöffnet.

„Nh“, macht Clint leise, gierig und überfordert in einem, und Phils Finger krallen sich wie von selbst in Clints Haar.

Clints Zunge streicht zögernd über seine Lippen, und dann küssen sie sich richtig, und es ist besser, so viel besser als Phil sich vorgestellt hat.

Nur hat in seiner Phantasie Clint nie angefangen zu weinen.

Clint ist sich nicht völlig sicher, was er sich gedacht hat.

Ein Teil von ihm wollte Phil einfach nur nahe sein, ihn berühren - sicherstellen, dass es keine Phantasie und keine Einbildung ist … dass Phil tatsächlich lebt, dass er atmet, dass er noch da ist.

Wenn er ehrlich ist, hat er es nicht ganz glauben können - nichts, was an diesem Morgen geschehen ist. Von Elvira, die ihren Topf gesprengt hat, über Thor, der im Garten gelandet ist, als sei sowas völlig normal - Götter, die vom Himmel fallen - bis hin zu … zu Phil.

Es war einfach zu viel, viel zu viel auf einmal. Solche Dinge passieren schlicht nicht. Nicht in seiner Welt.

Clint gesteht sich zögerlich ein, dass er vielleicht nicht ganz so überfordert damit wäre, Schein und Sein auseinander zu halten, hätte er nicht sämtliche Termine mit der Psychologie Abteilung ausfallen lassen.

Vielleicht wäre er dann auch nicht in dieser Form über Phil hergefallen - völlig beherrscht von dem Gedanken, dass er diesmal zumindest einen Kuss bekommen wird, ehe Phil ihn von sich stößt.

Aber Phil stößt ihn nicht von sich. Und Clints Angst, dass es doch nicht real ist, dass das hier doch nichts anderes ist als Phantasie und Einbildung, kehrt auf einen Schlag zurück.

Aber er kann nicht aufhören, Phil zu küssen, kann nicht aufhören seine Hände über Phils Wangen streichen zu lassen - und er ist so warm und so lebendig, und wenn das hier nicht die Realität ist, dann will Clint es nicht wissen.

Also ignoriert er seine Tränen, ignoriert alles, alles außer Phil.

Dementsprechend kann er es kaum nicht bemerken, als Phil aufhört, ihn zu küssen. Kann es nicht ignorieren, als Phils Hände plötzlich gegen seine Schultern pressen.

Er gibt nach, zieht sich zurück. Aber er hält die Augen geschlossen, weigert sich hartnäckig, sich Phils alles durchdringendem Blick auszuliefern.

Es ist schrecklich still im Zimmer, und Clint kann nicht sagen, ob es den anderen schlicht die Sprache verschlagen hat, oder ob sie den Anstand besessen haben, ihn mit Phil allein zu lassen.

Phils Fingerspitzen gleiten über seine Wangen, sachte und zögernd, und Clint braucht einen Moment, ehe er realisiert, dass er die Spuren nachzeichnet, die seine Tränen hinterlassen haben.

„Phil“, flüstert er überfordert, schämt sich dafür, dass seine Stimme über der einen Silbe bricht, und kneift die Augen fester zusammen. Phil zieht ihn wortlos an sich und nimmt ihn in den Arm.

Clint hat keine Ahnung, wie es angehen kann, aber er riecht noch immer nach dem Aftershave, bei dem Clint schon vor Jahren so jämmerlich versagt hat, es zuzuordnen.

„Stehe ich allein mit meiner Meinung, wenn ich sage, dass das ein sehr bewegender Moment war?“ erkundigt Tony sich in die peinlich berührte Stille vor Phils Zimmer hinein.

Um sie herum versuchen SHIELD Agenten so zu tun, als seien sie nicht damit beschäftigt, sie zu bewachen. Ausgerechnet Steve wirft ihnen böse Blicke zu. Es ist surreal.

Bruce räuspert sich. „Nein. Tust du nicht.“

Tony wendet sich ihm dankbar zu. „Willst du über deinen kleinen Moment vorhin reden?“

Bruce seufzt. „Nicht wirklich. Aber wenigstens wissen wir jetzt, dass deine Hosen tatsächlich halten, was sie versprechen.“

Tony schwellt vor Stolz die Brust. „Das hättest du dir jawohl denken können.“

Es tritt wieder Stille ein.

Tony tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Wie lange geben wir ihnen?“

„So lange, wie sie brauchen“, sagt Pepper fest.

„Ich verstehe nicht, warum wir die Räumlichkeiten unseres Freundes verlassen haben“, sagt Thor ernsthaft. „Sicherlich ist die Liebe zwischen ihm und dem Falken ein freudiger Anlass?“

Pepper blinzelt fasziniert zu ihm auf. Tony reibt sich mit Zeigefinger und Daumen seiner Rechten die Nasenwurzel. „Oh, ja sicherlich. Ein unglaublich freudiger Anlass. Schätze ich. Aber wenn ich Phil richtig einschätze, dann legt er Wert auf seine Privatsphäre.“

Thor legt den Kopf schief. „Er möchte nicht, dass wir Zeugen seines Glücks werden?“

„Im Moment nicht, nein.“

„Das kann ich kaum nachvollziehen, aber ich werde seinem Wunsch Folge leisten.“

„Guter Junge.“ Tony tätschelt ihm den Oberarm. „Wie lange geben wir ihnen noch?“

„Tony“, sagt Steve leise.

„Was? Ich hab keine Lust, ewig in diesem Flur stehen zu bleiben. Außerdem hab ich noch nicht gefrühstückt.“

„Du könntest auch einfach zurück nach Hause fahren.“

„Und Barton hier lassen? Ich denke nicht.“

Ein weiteres Mal senkt sich Stille herab.

Dann legt Natasha den Zeigefinger an ihre Lippen. „Hört!“

Es folgt der wohl intensivste Lauschangriff aller Zeiten.

„Ich höre nicht das Geringste“, beschwert Tony sich nach einer Weile.

Natasha hebt eine eloquente Augenbraue.

„Ach, darauf wolltest du hinaus!“ entfährt es Tony mit zynischem Unterton. „Warum sagst du das nicht gleich?“

Sie seufzt und rollt mit den Augen. „Ich geh rein.“

Phil hebt den Kopf, als Natasha eintritt, und schenkt ihr ein müdes Lächeln.

Er ist sich immer noch nicht völlig sicher, was gerade passiert ist.

Clint liegt in seinen Armen, lässt sich von ihm festhalten - und das ist derartig unerwartet, dass es seine Unsicherheit über ihren Kuss beinahe noch übertrifft.

Sicherlich, Clint und ihn hat schon immer mehr als pure Professionalität verbunden - völlig egal, was Phil auch versucht hat, er konnte sich einfach nicht helfen. Seit dem Moment, als er Clint zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden ist, hat Clint ihn beeindruckt. Mehr als nur das.

Clint ist auf ihn losgegangen wie ein wildes Tier - ein entsetzlich treffender Vergleich. Phil hat ihn mit seinem Auftauchen erschreckt, und Clint hat auf die einzige Art und Weise reagiert, die er gekannt hat - mit Angriff als Form von Verteidigung, mit Gewalt.

Das war es nicht, was Phil überrascht hat. Überrascht hat ihn, wie schnell Clint nachgegeben hat, als ihm bewusst geworden ist, dass er unterlegen ist. Wie bereit er war, Phil zu glauben, dass er ihm nichts Böses will.

Clints Akte hat ihn als Waisen klassifiziert, als kühlen Auftragsmörder, als den Besten seines Fachs - perfekt mit Schusswaffen jeglicher Art, unübertroffen mit dem Bogen.

Sie hat nichts davon gesagt, dass er ein überfordertes Kind auf der verzweifelten Suche nach ein wenig Halt ist.

Es hat Phil ein wenig das Herz gebrochen.

Also hat er Clint unter seine Fittiche genommen. Hat ihn ausgebildet, hat all seiner unsicheren Aggressivität nichts als Geduld und Ruhe und Vertrauen entgegen gebracht.

Nichts hätte lohnenswerter sein können, als zu beobachten, wie Clint auf eine derartige Behandlung reagiert.

Nichts hätte entsetzlicher sein können, als die Realisation, dass er sich mehr und mehr zu seinem Schützling hingezogen fühlt.

Clint ist so viel jünger als er. Phil konnte es schlicht nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, all das Vertrauen, das er so behutsam zwischen ihnen aufgebaut hat, ausgerechnet damit zu zerstören, seinen unangebrachten Gefühlen nachzugeben.

Clint mag mit ihm geflirtet haben, sicher. Aber das hat Phil für … er ist sich nicht sicher, wofür er es gehalten hat. Clint ist so eine vielschichtige Persönlichkeit, ist so erfrischend … anders.

All seine spielerischen Avancen, sein Witz und sein Charme haben ihn aus der Masse der anderen Agenten hervor gehoben. Er hat sich nicht angepasst, nicht eine Sekunde lang.

Phil konnte nur ahnen, dass all diese Charakterzüge und Eigenarten die ganze Zeit unter der Oberfläche darauf gewartet haben, dass Clint sie zulässt. Dass er einen Ort findet, wo er er selbst sein kann, sich nicht einzig und allein darauf konzentrieren muss, zu überleben.

Phil konnte nicht riskieren, diese Entwicklung rückgängig zu machen. Er hätte sich selbst niemals vergeben, hätte er Clint … wehgetan.

Aber er hat ihm wehgetan. Trotz allem. Sonst würde Clint jetzt nicht weinend in seinen Armen liegen.

Natasha setzt sich auf den Stuhl neben seinem Bett und nickt ihm zu. „Boss.“

Er nickt ganz automatisch zurück, weiß nicht, was er sonst tun soll. Wenn sie ein Problem damit hätte, ihn so mit Clint zu sehen, würde sie es ihn auf die ein oder andere Art wissen lassen.

Stattdessen streckt sie die Hand aus und streichelt Clint über den Kopf. Phil weiß, was die Beiden verbindet, aber auch das ist unerwartet.

Natasha und Clint neigen nicht zu freiwillig initiiertem Körperkontakt. Zumindest nicht unter normalen Umständen.

Zugeben, die Zeit, in der die Umstände einigermaßen normal waren, liegt schon so lange zurück, dass Phil nicht mehr wirklich sagen kann, wie sich sowas überhaupt anfühlt.

Aber für gewöhnlich ist Natasha … distanzierter. Kühler.

Für gewöhnlich lächelt sie ihn nicht an. Nicht so.

„Was ist passiert?“ fragt er leise - und er meint hauptsächlich Clint, aber nicht nur.

Fury hat ihm gesagt, dass sein ‚Tod’ die Avengers zusammengeführt habe, aber wirklich geglaubt hat er ihm nicht. Und doch sind sie hier, alle zusammen.

Natasha hebt beide Schultern in einer anmutigen Geste. „Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich schätze, es hat damit angefangen, dass Steve Clints Cello kaputt gemacht hat.“

Phils Brauen ziehen sich verwirrt zusammen. „Captain Rogers hat was getan?“

„S’macht nichts“, murmelt Clint gegen seinen Hals. „Tony hat’s repariert. Und mir ein Neues gekauft. Und Steve hat mit mir trainiert. Und Bruce hat mich vor Beiden versteckt. Ich mag Bruce. Er hat Elvira gerettet.“

Phil blinzelt auf ihn hinab. „Elvira?“

Clint macht sich mit einem plötzlichen Ruck gerade. „Willst du sie sehen? Heute morgen hat sie ihren Topf gesprengt!“

Phil kann nicht anders, als ihn anstarren. Er findet, er hat sich bisher wie ein wahrer Gentleman benommen - hat Clint festgehalten und ihm den Nacken gekrault und keinen Kommentar darüber abgegeben, dass Clint ihn geküsst hat.

Aber er hat drei Wochen lang im Koma gelegen, und Clint hat ihn geküsst, und er mag Bruce, und wer zum Teufel ist Elvira?

„Du hast mich geküsst“, sagt er jetzt also in einem Ton, der mehr oder weniger streng ist. Über Bruce und Elvira können sie später sprechen.

Clint wird tatsächlich rot. „Entschuldigung, Boss. Wird nicht wieder vorkommen.“

Phils Stirn runzelt sich ganz automatisch.

Es dauert ein wenig, aber ein Grinsen breitet sich über Clints Gesicht aus, seine Augen beginnen zu leuchten - und weil es viel zu lange her ist, dass Phil ihn zuletzt so gesehen hat, ist er viel zu abgelenkt, um großartig etwas zu unternehmen, als Clint sich vorbeugt und ihn wieder küsst.

Clints Lippen sind ein wenig rau, aber Phil schätzt, dass seine das auch sind, also will er sich mal nicht beschweren. Er will sich sowieso nicht beschweren.

Clint küsst ihn schon wieder.

Also schließt Phil die Augen. Lässt den Kuss nicht nur zu, sondern erwidert ihn. Clint ist schrecklich sanft, unglaublich zurückhaltend, die Berührung seiner Lippen kaum mehr als ein Hauch, und Phil ahnt, dass er Angst hat, ihm weh zu tun.

Aber was auch immer mit ihm in den letzten drei Wochen angestellt worden ist, es hat seinen Zweck erfüllt. Phil mag noch ein wenig schwach sein, aber er hat keinerlei offene Wunden, trägt nicht mal mehr einen Verband um die Brust.

Konsequenter Weise legt er seine Hand in Clints Nacken und beißt ihm sanft auf die Unterlippe. Er spürt Clints antwortendes Stöhnen in seinem ganzen Körper und bis hinab in seine Zehenspitzen.

Vornehme Zurückhaltung und Vernunft mögen ihm diktieren, dass das hier eine unglaublich schlechte Idee ist, aber er hat keine Lust mehr, ihnen zuzuhören.

Wenn Clint ihn nicht hätte küssen wollen, hätte er ihn nicht geküsst, und das ist im Prinzip alles, über das er sich Sorgen machen müsste.

Aber Clint hat ihn geküsst.

Clint küsst ihn. Clint öffnet einladend die Lippen für ihn.

Phil wird einen Teufel tun und eine derartige Einladung ignorieren.

Also lässt er seine Zunge in Clints Mund gleiten, erforscht ihn mit all der Geduld und Liebe zum Detail, die über die Jahre zu seinem Markenzeichen geworden sind. Clint seufzt und schmilzt an seine Seite, hält sich mit seinen Händen an Phils Schultern fest und reibt mit seinen Daumen Muster in sein Krankenhaushemd.

Sie lassen erst wieder voneinander ab, als Natasha sich delikat räuspert.

Phil leckt sich über die Lippen und sieht Clint aus halb geschlossenen Augen an. „Wird nicht wieder vorkommen, hn?“

Clint reibt ihm mit der Nasenspitze über die Wange. „Du hast meinen Kuss erwidert“, wispert er fasziniert.

Er klingt beinahe, als wäre ihm das gerade erst bewusst geworden. Phil muss einen Moment lang die Augen schließen. Auf gar keinen Fall hat er eine Gänsehaut. Er ist zu alt für Gänsehäute.

„Wie fühlen Sie sich, Boss?“ erkundigt Natasha sich mit betont professioneller Stimme. „Können wir Sie mit nach Hause nehmen?“

Phil ist sich nicht sicher, wie er sich fühlt. Die Worte ‚nach Hause’ aus Natashas Mund zu hören lässt ihn eindeutig ein wenig schwach zurück. Aber zum ersten Mal seit Jahren würde er viel lieber gegen die Regeln verstoßen als auch nur eine weitere Nacht im Krankenhaus zu verbringen.

„Ich wäre dankbar, wenn ihr es versuchen würdet“, sagt er also fest.

Natasha nickt, steht auf und verlässt leise das Zimmer.

Phil wartet, bis sie die Tür hinter sich zu gemacht hat, dann legt er Clint die Hand an die Wange, hält ihn ruhig, damit er ihm in die Augen sehen kann.

Er ist sich bewusst, dass Clint diese Art Prüfung nie sonderlich gemocht hat - aber Clint hält still, erwidert seinen Blick offener und ruhiger als jemals zuvor.

Was Phil in seinen Augen liest, lässt ihm den Atem stocken.

TEIL 10

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fandom: avengers, autor: uena

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